TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/11 W171 2108510-3

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Veröffentlicht am 11.12.2019
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Entscheidungsdatum

11.12.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W171 2108506-3/12E

W171 2108510-3/10E

W171 2108721-3/11E

W171 2108723-3/8E

W171 2108725-3/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gregor MORAWETZ, MBA als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX alias XXXX , geb. XXXX ,

2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) mj. XXXX alias XXXX , geb. XXXX , 4.) mj.

XXXX alias XXXX , geb. XXXX und 5.) mj. XXXX alias XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. 1.) XXXX ,

2.) XXXX , 3.) XXXX ,

4.) XXXX und 5.) XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.08.2019 zu Recht erkannt:

A) Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX alias XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 und XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX , XXXX alias XXXX und XXXX alias XXXX gem. § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 34 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 leg. cit. wird unter einem festgestellt, dass damit XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX und XXXX alias XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gem. Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1.1. Der Erstbeschwerdeführer (in der Folge: BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (in der Folge: BF2) sind Ehegatten; die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer (BF3, BF4 und BF5) sind die minderjährigen Kinder des BF1 und der BF2. Die BF sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und stellten nach ihrer Einreise in das Bundesgebiet am 08.07.2013 Anträge auf internationalen Schutz.

Der BF1 brachte in einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 09.07.2013 zu seinen Fluchtgründen befragt vor, er sei am 30.06.2013 von maskierten Beamten der Polizei festgenommen und einen Tag festgehalten worden. Bei seiner Festnahme sei ihm eine Pistole untergeschoben worden und er habe unterschreiben müssen, dass diese ihm gehöre. Während seiner Anhaltung sei er zudem geschlagen und gefoltert worden. Sein Cousin sei vor eineinhalb Monaten festgenommen worden und sei noch im Gefängnis. Die Behörden vermuteten, dass er - ebenso wie sein Cousin - für die Unabhängigkeit Dagestans stehe. Im Falle einer Rückkehr befürchte er getötet zu werden.

Die BF2 erklärte keine eigenen Fluchtgründe zu haben, sondern machte ausschließlich die Probleme des BF1 geltend.

In einer niederschriftlichen Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) am 27.08.2014 schilderte der BF1 detailliert und umfassend seine Ausreisegründe. Dabei gab er im Wesentlichen an, dass am 25.05.2013 sein jüngerer Cousin, XXXX , von maskierten Beamten des FSB festgenommen worden sei. Die Festnahme sei auf der Straße vor dem Geschäft des BF1 passiert und sei es dabei zu einer Rangelei gekommen, wobei es dem Cousin gelungen sei, einem Beamten die Maske runterzureißen und der BF1 das Gesicht erkannt habe. Der Grund für die Festnahme des Cousins sei gewesen, dass im Oktober 2011 ein bekannter Bürger von XXXX namens XXXX verschwunden sei und daraufhin eine Demonstration stattgefunden habe, wo auch er und sein Cousin teilgenommen hätten. Nach der Demonstration seien viele Leute verschwunden. Aus Angst vor einer Entführung sei er unverzüglich nach XXXX zu seinem älteren Bruder gereist. Etwa einen Monat später sei er zu seiner Familie zurückgekehrt. Bereits am Tag seiner Rückkehr seien Beamte des FSB zu ihm nach Hause gekommen und hätten das Haus durchsucht, wobei sie eine Pistole gefunden hätten, die nicht ihm gehört habe. Daraufhin hätten sie ihn zum Verhör mitgenommen. Da sie ihn geschlagen und psychisch unter Druck gesetzt hätten, habe er letztlich unterschrieben, dass die Waffe ihm gehöre. Weiters hätten sie von ihm verlangt für sie zu arbeiten und Informationen zu gewissen Personen zu liefern. Nachdem er sich einverstanden gezeigt habe, sei er freigelassen worden und habe unverzüglich seine Ausreise arrangiert. Er glaube, er werde von einer Behörde namens ZPE, die zur Bekämpfung von Extremismus diene, gesucht. Der BF1 erklärte zudem einen USB-Stick vorlegen zu können, auf dem Internetberichte, Bilder und Videos zu sehen seien, die seine Fluchtgründe bestätigen würden. Sowohl über seinen Vater, als auch über ihn, könne man im Internet nachlesen. Der BF1 wurde in Folge aufgefordert, die auf dem Stick befinden Unterlagen auszudrucken sowie eine schriftliche Stellungnahme zu den Videos abzugeben und diese gemeinsam mit den Videos vorzulegen. Zum Nachweis seiner Identität legte er seinen russischen Führerschein vor.

Die BF2 gab zu den Ausreisegründen an, dass sie Zeugin der Entführung des Cousins des BF1 gewesen seien. Sie hätten auch den BF1 mitgenommen, da er das Gesicht des Mannes erkannt habe, dem der Cousin die Maske abgenommen habe.

Mit Eingabe vom 02.09.2014 legten die BF folgende Unterlagen vor:

-

russischsprachiges Schreiben inklusive Übersetzung im gebrochenen Deutsch zu den Fluchtgründen des BF1 sowie Erklärung zu den auf dem USB-Stick befindlichen Informationen

-

diverse russische Dokumente in Kopie, wonach es sich laut handschriftlichen Notizen um Universitätsdiplome, die Heiratsurkunde sowie eine Arbeitsbestätigung handeln soll

Am 08.12.2014 wurde der BF5 im Bundesgebiet geboren und stellten die Eltern als gesetzliche Vertreter im Rahmen des Familienverfahrens am 22.12.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 28.11.2014 sowie vom 19.01.2015 wurde auf Anfrage des BFA mitgeteilt, dass zur Bekämpfung von Extremismus eine Behörde namens ZPE in Dagestan eingerichtet und diese dem Innenministerium unterstellt sei. Weiters wurde bestätigt, dass am 21.10.2011 eine Demonstration wegen dem verschwundenen Bürger XXXX stattgefunden habe.

In der Stellungnahme vom 23.03.2015 wiesen die BF darauf hin, dass die Anfragebeantwortungen ihre Angaben bestätigen würden und legten weitere (russischsprachige) Berichte vor. Laut Übersetzung durch das BFA handelt es sich dabei um Berichte über die Behörde "ZPE", der Menschenrechtsaktivistin XXXX sowie ein Bericht des "Caucasian Knot" vom 25.05.2013 über die Entführung des XXXX .

1.2. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.05.2015 wurden die Anträge auf internationalen Schutz der BF gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 100/2005 abgewiesen und ihnen der Status der Asylberechtigten sowie gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat nicht zuerkannt. Den BF wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei. Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

In der Entscheidung betreffend den BF1 wurde festgestellt, dass sein Vorbringen nicht geeignet sei, die Gewährung von internationalem oder subsidiärem Schutz zu begründen. Darüber hinaus habe sich sein Vorbringen gänzlich unglaubhaft und die behauptete Bedrohungssituation als offensichtlich nicht den Tatsachen entsprechend erwiesen. Beweiswürdigend wurde ausgeführt, dass der BF1 trotz mehrmaliger Nachfrage nicht in der Lage gewesen sei, den behaupteten Sachverhalt auch nur ansatzweise zu substantiieren. So habe er nicht erklären können, warum er verhaftet worden sei und seien die Schilderungen zur Verhaftung vage geblieben. Zudem sei es ihm nicht möglich gewesen anzugeben, ob er in den von ihm selbst vorgelegten Beweismittel (Videos und Berichte) vorkomme. Es sei auch nicht plausibel, dass seine Familie, welche ebenfalls bei der Verhaftung des Cousins anwesend gewesen sei und das Gesicht des Beamten gesehen habe, nicht ebenso von einer Bedrohungssituation betroffen sei. Anhand der Angaben über seine Person sei nicht davon auszugehen, dass es sich beim BF1 um eine "high-profile-person" handle, die im gesamten Staatsgebiet des Herkunftslandes gesucht und gefunden werden würde.

Die Bescheide der übrigen BF wurden damit begründet, dass diese keine persönliche Verfolgung dargetan, sondern sich auf die Angaben des BF1 berufen hätten. Dem BF1 sei in dessen Verfahren allerdings zur Gänze die Glaubwürdigkeit abgesprochen worden.

1.3. Gegen die Bescheide erhoben die BF durch ihre ausgewiesene Vertretung innerhalb offener Frist Beschwerde.

1.4. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.08.2017 wurden die bekämpften Bescheide behoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverweisen. Begründend wurde ausgeführt, dass die belangte Behörde den maßgeblichen Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt habe. Die vorgelegten Berichte und die auf dem USB-Stick befindlichen Beweismittel seien nicht in die Beweiswürdigung miteinbezogen worden. Die Beweiswürdigung stütze sich vielmehr nur auf allgemein gehaltene Ausführungen. Auch die von der Staatendokumentation eingeholten Anfragebeantwortungen seien nicht gewürdigt worden. Auch die Einvernahme der BF2 lasse jegliche Ermittlungen zum Sachverhalt vermissen, da sie nicht näher zu den geschilderten Vorfällen befragt worden sei. Die Beweiswürdigung stütze sich lediglich auf die Unglaubwürdigkeit des BF1. Mangels jeglicher Ermittlungstätigkeit sei der Sachverhalt völlig ungeklärt. Sollte im fortgesetzten Verfahren eine Gefährdung der BF in Dagestan bejaht werden, wäre zu prüfen, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative in Frage komme.

1.5. Am 26.04.2018 wurde der BF1 durch das BFA einvernommen, wobei er im Wesentlichen seine Angaben in der Einvernahme vom 27.08.2014 wiederholte.

Der BF1 legte als Beweismittel zu seinen Fluchtgründen mehrere Fotos seines Bruders, die diesen mit Verletzungen an Armen und Schultern zeigen, und eine Liste mit Internetadressen zu mehreren Berichten und Videos vor. Laut Angaben des BF1 handle es sich hierbei um die Daten, die auf dem im Verfahren bereits erwähnten USB-Stick zu finden sind.

Die BF2 wurde am selben Tag ebenfalls einvernommen und zu den fluchtauslösenden Ereignissen befragt.

1.6. Mit den Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.05.2018 wurden die Anträge auf internationalen Schutz der BF gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 100/2005 abgewiesen und ihnen der Status der Asylberechtigten sowie gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat nicht zuerkannt. Den BF wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei. Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

In der Entscheidung betreffend den BF1 wurde festgestellt, dass sein Vorbringen nicht geeignet sei, die Gewährung von internationalem oder subsidiärem Schutz zu begründen. Der BF1 habe angegeben, mit seinem Cousin an einer Demonstration im Jahr 2012 teilgenommen zu haben. Laut Anfrage an die Staatendokumentation habe diese jedoch schon 2011 stattgefunden. In der Einvernahme am 27.08.2014 habe der BF1 angegeben, er hätte gemeinsam mit seinem Cousin einen Motorblock zu seinen Eltern bringen sollen. Am 26.04.2018 habe er hingegen ausgesagt, dass sein Cousin eine Maschine habe ausborgen wollen, um sein Feld umzugraben. Im Zuge der Verhaftung des Cousins hätten die Mutter des BF1, seine Ehefrau, seine Tochter sowie weitere Passanten das Gesicht des FSB-Mitglieds gesehen. Die Mutter lebe aber nach wie vor in Dagestan, Ehefrau und Tochter seien nie persönlich bedroht worden. Im Jahr 2014 habe der BF1 angegeben, nach dem Vorfall einen Monat bei seinem Bruder gelebt zu haben, 2018 habe er jedoch ausgesagt, zwei Monate dort gewohnt zu haben. Es sei nicht glaubwürdig, dass der BF1 während seiner gesamten Anhaltung durch den FSB einen Sack über dem Kopf getragen habe, er jedoch nach seiner Freilassung das Gebäude, in dem er festgehalten worden sei, alleine verlassen und zu Fuß nach Hause hätte gehen können. Aus diesem Grund sei die geschilderte Festnahme nicht glaubhaft. Der BF1 habe die Fluchtgeschichte zu "blass", wenig detailreich und zu oberflächlich geschildert. Anhand der Angaben über seine Person sei nicht davon auszugehen, dass es sich beim BF1 um eine "high-profile-person" handle, die im gesamten Staatsgebiet des Herkunftslandes gesucht und gefunden werden würde.

Die Bescheide der übrigen BF wurden damit begründet, dass diese keine persönliche Verfolgung dargetan, sondern sich auf die Angaben des BF 1 berufen hätten. Dem BF1 sei in dessen Verfahren allerdings zur Gänze die Glaubwürdigkeit abgesprochen worden.

1.7. Gegen die Bescheide erhoben die BF durch ihre ausgewiesene Vertretung innerhalb offener Frist Beschwerde.

1.8. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 02.07.2018 wurden die bekämpften Bescheide behoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverweisen. Begründend wurde ausgeführt, dass sich das BFA erneut nicht näher mit dem Vorbringen der BF und insbesondere mit den vorgelegten Beweismitteln auseinandergesetzt habe. Auch die Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation und die Aussagen der BF2 seien nicht gewürdigt worden.

1.10. Die BF stellten am 08.02.2019 Anträge auf freiwillige Rückkehr.

1.11. Am 03.04.2019 wurde der BF1 durch das BFA einvernommen, wobei er zunächst zwei Details aus einer früheren Einvernahme korrigierte. Zum Antrag auf freiwillige Rückkehr gab er an, dass hier niemand Asyl erhalte und sie im Fall einer Abschiebung noch mehr Probleme bekommen würden. Er habe geplant, dass seine Familie nach Dagestan fliege und er in Moskau bleibe. Es könne aber sein, dass er dort von den Behörden angehalten werde.

Anschließend wurden die vom BF1 vorgelegten Beweismittel erörtert:

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Video einer Demonstration wegen des Verschwindens von XXXX

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Bericht über die Demonstration

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Video (nicht mehr verfügbar) einer Menschenrechtsorganisation über die Entführung des Cousins des BF1

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Interview mit einer Menschenrechtsaktivistin über die Entführung des Cousins

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Fotos aus dem Gebetszimmer eines Gefängnisses, auf denen der Cousin des BF1 zu sehen ist

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Bericht über die Verurteilung der Menschenrechtsaktivistin zu einer Haftstrafe

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Informationsseite über das Geschäft des BF1

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Video, in dem bewaffnete Männer eine Moschee stürmen und Menschen mitnehmen

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Video einer Demonstration von Frauen gegen die Entführung ihrer Söhne und Ehemänner

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Video, in dem eine Mutter von der Entführung ihres Sohnes erzählt

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Video über die Entführung zweier Männer

Weiters brachte der BF1 vor, dass sich auf einem USB-Stick Fotos des entführten und ermordeten Mannes XXXX in einer Moschee und des Geschäfts des BF1 befinden würden. Weiters hätten seine Eltern ein Video aufgenommen, das unteranderem die Straße vor dem Geschäft zeige. Er glaube, dass sich dies nicht mehr auf dem USB-Stick befinde. Der BF1 wurde aufgefordert, das Video innerhalb einer Frist zu übermitteln. Anschließend wurde der BF1 erneut zu den fluchtauslösenden Ereignissen befragt.

Die BF2 gab im Rahmen ihrer Einvernahme ebenfalls an, dass sie im Fall einer Abschiebung Probleme bekommen würden. Sie hätten deshalb geplant nach Moskau zu fliegen, die BF2 würde mit den Kindern nach Dagestan reisen und ihr Mann könnte mit dem Reisepass in ein anders Land fahren. Im Fall einer Abschiebung wären sie in den Händen der russischen Behörden. Die BF2 wiederholte anschließend ihre Angaben zu den fluchtauslösenden Ereignissen.

1.11. Mit den angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge auf internationalen Schutz der BF gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 100/2005 abgewiesen und ihnen der Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Den BF wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Entscheidung betreffend den BF1 wurde festgestellt, dass sein Vorbringen nicht geeignet sei, die Gewährung von internationalem oder subsidiärem Schutz zu begründen. Der BF1 habe angegeben, mit seinem Cousin an einer Demonstration im Jahr 2012 teilgenommen zu haben. Laut Anfrage an die Staatendokumentation habe diese jedoch schon 2011 stattgefunden. In der Einvernahme am 27.08.2014 habe der BF1 angegeben, er hätte gemeinsam mit seinem Cousin einen Motorblock zu seinen Eltern bringen sollen. Am 26.04.2018 habe er hingegen ausgesagt, dass sein Cousin eine Maschine habe ausborgen wollen, um sein Feld umzugraben. Im Jahr 2014 habe der BF1 angegeben, nach dem Vorfall einen Monat bei seinem Bruder gelebt zu haben, 2018 habe er jedoch ausgesagt, zwei Monate dort gewohnt zu haben. Es sei nicht glaubwürdig, dass der BF1 während seiner gesamten Anhaltung durch den FSB einen Sack über dem Kopf getragen habe, er jedoch nach seiner Freilassung das Gebäude, in dem er festgehalten worden sei, alleine verlassen und zu Fuß nach Hause hätte gehen können. Aus diesem Grund sie die geschilderte Festnahme nicht glaubhaft. In den vorgelegten Berichten werde der BF1 nicht selbst erwähnt. Auch die Angaben der BF2, dass sie zwar die Nummerntafel eines Autos bei der Festnahme des Cousins, nicht aber das Gesicht des Beamten gesehen habe, sei nicht glaubwürdig. Auch aufgrund des Antrags auf freiwillige Rückreise gehe die Behörde davon aus, dass keine Bedrohung in der Russischen Föderation bestehe.

Die Bescheide der übrigen BF wurden damit begründet, dass diese keine persönliche Verfolgung dargetan, sondern sich auf die Angaben des BF1 berufen hätten. Darüber hinaus hätten die BF Anträge auf freiwillige Rückkehr gestellt.

1.12. Gegen diese Bescheide wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben, wobei der Behörde eine unrichtige Beweiswürdigung und rechtliche Beurteilung vorgeworfen wurde.

1.13. In der daraufhin vom erkennenden Gericht anberaumten mündlichen Verhandlung vom 07.08.2019 erstellte der BF1 eine Skizze über den Vorfall vor seinem Geschäft. Er selbst habe das Gesicht des Manns sehen könne, seine Frau, die hinter ihm gestanden sei, aber nicht. Die anderen Personen auf der Straße seien weit entfernt gewesen und hätten das Gesicht daher auch nicht sehen können. Nach dem Vorfall seien sie sofort zu einer Menschenrechtsaktivistin gegangen, die mittlerweile eine lange Haftstrafe abzusitzen habe. Er habe sich dann bei seinem Bruder aufgehalten. Seine Mutter habe ihm berichtet, dass ein Wagen mit getönten Scheiben vor seinem Haus parken würde. Er sei dennoch nach Hause zurückgekehrt, weil er gedacht habe, dass das Auto vielleicht aus einem anderen Grund dort stehe. Auf dem Rückweg habe er Wachposten vermieden.

Seiner Meinung nach suche der FSB nicht nur wichtige Personen. In Dagestan seien 80-90 % aller Jugendlichen wegen allfälliger Terroraktivitäten registriert. Selbst wenn der FSB die Informationen nicht nach Moskau weitergebe, würde man dennoch Bescheid wissen, da sie Zugriff auf alle Daten hätten. Er müsste dann beispielsweise für eine Reise nach Moskau eine Unterschrift des Sprengelpolizisten einholen. Er würde sich nicht lange unbehelligt in Moskau aufhalten können.

Die ganze Familie habe mittlerweile Reispässe erhalten. Er glaube, dass er bei einer Einreise über Moskau nicht sofort verhaftet wird. Er könnte dann gleich in ein anders Land, für das er kein Visum benötige, weiterreisen, etwa Türkei, Aserbaidschan oder Georgien. Wenn er ohne Pass abgeschoben würde, könne er Russland nicht verlassen. In diesem Fall würden sich die Behörden gleich seiner annehmen und er würde gleich Probleme bekommen. Bei einer freiwilligen Rückkehr hätte er genug Zeit, in ein anders Land zu reisen.

Die BF2 fertigte ebenfalls eine Skizze der Vorkommnisse vor dem Geschäft des BF1 an. Sie gab an, das Gesicht des Mannes, dem der Cousin die Maske heruntergezogen habe, nicht gesehen zu haben. Auch ihre Schwiegermutter und die anderen anwesenden Personen hätten es nicht gesehen. Die BF2 wiederholte auch ihre Angaben zur Festnahme des BF1.

Im Fall einer freiwilligen Rückkehr würden sie nicht so schnell bemerkt werden und könnten in ein anderes Land weiterreisen. Bei einer Abschiebung würde die Polizei am Flughafen viele Fragen stellen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1 Die BF sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehören der Volksgruppe der Tschetschenen an und sind muslimischen Glaubens. Der BF1 und die BF2 stellten am 22.12.2014 für sich und ihre minderjährigen Kinder, BF3 und BF4, Anträge auf internationalen Schutz. Am 08.12.2014 wurde der BF5 im Bundesgebiet geboren. Die BF2 stellte als gesetzliche Vertreterin am 22.12.2014 für ihn einen Antrag auf internationalen Schutz

1.2. Festgestellt wird, dass der BF1 aufgrund seiner Anwesenheit bei der Verhaftung seines Cousins XXXX in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten ist. Der BF1 wurde bereits einmal von Sicherheitskräften verhaftet, verhört und dabei auch geschlagen. Es steht aufgrund dieser Sachlage fest, dass der BF1 sowohl den dagestanischen, als auch den russischen Behörden bekannt ist. Es kann unter Berücksichtigung der aktuellen Länderfeststellungen im Fall einer Rückkehr des BF1 nach Dagestan bzw. in die Russische Föderation nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der BF1 Verfolgungshandlungen maßgeblicher Intensität zu befürchten hätte und ins Visier der heimatlichen Behörden geraten würde. Dem BF1 steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung.

Die BF2 bis BF5 leiten ihre Fluchtgründe von jenen des BF1 ab.

Es liegen keine Gründe vor, nach denen ein Ausschluss der BF hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat. Solche Gründe sind im Verfahren nicht hervorgekommen. Der BF1 und die BF2 sind strafgerichtlich unbescholten.

1.5. Zur Lage in der Russischen Föderation:

1. Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018, vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen "Aufständischen" und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen, hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagierte Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew schreckte der Kreml die lokalen Eliten auf. Wassiljew ist keiner von ihnen, er war mit Blick auf das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien wie eine Faust aufs Auge. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden. Im Nordkaukasus hatte er davon Abstand genommen. Immerhin dürfte Wassiljew für ethnische Fragen ein gewisses Gespür mitbringen. Er ist selbst halb Kasache, halb Russe. Wassiljew ist das Gegenmodell zu Kadyrows ungestümer Selbstherrlichkeit. Er ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan - und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht - Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll. Mit Wassiljew tritt jemand mit wirklich direktem Draht zur Zentralmacht im Nordkaukasus auf. Das könnte ihn, zumindest für einige Zeit, zum starken Mann in der ganzen Region machen. Dafür allerdings benötigt er genauso die Akzeptanz der Einheimischen (NZZ 12.2.2018).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef [Abdussamad Gamidow], zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet zur Ausbeutung der wirtschaftlich abgeschlagenen und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängenden Nordkaukasus-Republik. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

ACCORD (16.5.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,

https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/, Zugriff 2.8.2018

-

IOM - International Organisation of Migration (6.2014):

Länderinformationsblatt Russische Föderation

-

NZZ - Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan:

Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351, Zugriff 2.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018

2. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017). Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

-GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

-SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

2.1. Dagestan

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden. Nach Angaben der Sicherheitsbehörden Dagestans Anfang 2017 kämpften etwa 1.200 Männer aus Dagestan in den Reihen der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien und im Irak. Mittlerweile werden Radikale, die sich terroristischen Organisationen im Ausland anschließen wollen, von den russischen Behörden an der Ausreise gehindert und festgenommen, was die Terrorgefahr in Dagestan erhöht (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. So werden von den Sicherheitskräften mitunter auch Imame verhaftet, die dem Salafismus anhängen sollen. Aus der Perspektive der Sicherheitsdienste sollen ihre Moscheen als Rekrutierungsstätten für IS-Anhänger dienen, für einen Teil der muslimischen Bevölkerung stellen diese Maßnahmen jedoch ungebührliche Schikanen dar. Relativ häufig kommt es zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten. Letztere gehörten bis vor kurzem primär zum 2007 gegründeten sogenannten Kaukasus-Emirat, bekundeten jedoch vermehrt ihre Loyalität gegenüber dem sog. IS. Die Anhänger des Emirats beanspruchen, den "wahren Islam" in der Region zu vertreten, während die Vertreter des sog. "traditionellen" Islams als korrupt angesehen werden und im Verdacht stehen, der Regierung in Moskau bzw. ihren Repräsentanten in der Region Untertan zu sein. Einige Angriffe auf Polizisten bzw. Polizeieinrichtungen wurden unter dem Deckmantel des IS ausgeführt; im Dezember 2015 bekannte sich der sog. IS zu einem Anschlag auf eine historische Festung in Derbent. Inwieweit der IS nach der territorialen Niederlage im Nahen Osten entsprechende Ressourcen verschieben wird, um im Nordkaukasus weitere terroristische Umtriebe zu entfalten oder die regionale Zweigstelle weiterhin zu Propagandazwecken nutzen wird, um seinen globalen Einfluss zu unterstreichen, wird von den russischen Sicherheitskräften genau verfolgt werden (ÖB Moskau 12,2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Dagestan 55 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 47 Todesopfer (38 Aufständische, vier Zivilisten, fünf Exekutivkräfte) und acht Verwundete (ein Militanter, fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Regelmäßig kommt es auch im Jahr 2018 in Dagestan zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen (ACCORD 16.8.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Dagestan 17 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon elf Todesopfer (vier Aufständische, eine Exekutivkraft, sechs Zivilisten) und sechs Verwundeter (vier Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

-

ACCORD (16.8.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen,

https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/#Toc489358424, Zugriff 28.8.2018

-

Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

-

Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

3. Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018). In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen:

So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

-EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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