TE Vfgh Erkenntnis 1996/9/24 B1982/95, B1983/95

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.09.1996
beobachten
merken

Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
AufenthaltsG §6 Abs2
AufenthaltsG §6 Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Abweisung von Anträgen auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung wegen Versäumung der im AufenthaltsG normierten Frist von vier Wochen vor Ablauf der gültigen Bewilligung zur Stellung von Verlängerungsanträgen; Unterlassung der im Sinne einer verfassungskonformen Interpretation trotz imperativer Anordnung im Gesetz gebotenen Interessenabwägung

Spruch

Die Beschwerdeführerinnen sind durch die angefochtenen Bescheide im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführerinnen zuhanden ihres bevollmächtigten Vertreters die mit je S 18.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Erstbeschwerdeführerin, eine - nach dem unwidersprochen gebliebenen Beschwerdevorbringen - seit 1988 in Österreich aufhältige und hier - zumindest zeitweilig - auch beruflich integrierte Staatsangehörige des ehemaligen Jugoslawien, bewohnt gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, welcher im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis und eines Befreiungsscheines ist, sowie mit ihrer im Jahr 1992 in Österreich geborenen Tochter (der Zweitbeschwerdeführerin) eine seit 1989 von der Erstbeschwerdeführerin gemietete Wohnung. Am 21. Juli 1994 brachte die Erstbeschwerdeführerin einen Antrag auf Verlängerung ihrer bis 1. Juli 1994 befristeten Aufenthaltsbewilligung ein und beantragte gleichzeitig auch die Verlängerung der mit derselben Befristung erlassenen Bewilligung ihrer mj. Tochter. Diese Anträge wurden mit den im Instanzenzug ergangenen, nunmehr angefochtenen Bescheiden des Bundesministers für Inneres unter Berufung auf §6 Abs3 AufG, BGBl. 466/1922 idF vor der Novelle BGBl. 351/1995, mit der Begründung abgewiesen, Verlängerungsanträge seien gemäß dieser Bestimmung spätestens vier Wochen vor Ablauf der Geltungsdauer der Bewilligung zu stellen; aufgrund der Nichteinhaltung dieser Frist sei die Erteilung der Bewilligungen ausgeschlossen und auf das Vorbringen der Beschwerdeführerinnen - auch im Zusammenhang mit deren persönlichen Verhältnissen - nicht weiter einzugehen.

Gegen diese Bescheide richten sich die auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerden, in denen unter anderem die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der Bescheide begehrt wird.

2. Der Bundesminister für Inneres als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen und die Abweisung der Beschwerden beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:

Die angefochtenen Bescheide greifen in das den Beschwerdeführerinnen gemäß Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist ein Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

Wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis vom 10. Oktober 1995, B1722/94 ua., mit näherer Begründung dargelegt hat, ist die Behörde auch bei Anwendung der Bestimmung des §6 Abs3 AufG, die eine Antragstellung spätestens vier Wochen vor Ablauf der Geltungsdauer der Bewilligung vorsieht, in Fällen, in denen durch die Versagung der Bewilligung in das durch Art8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingegriffen wird, - ein solcher liegt im Hinblick auf den eingangs geschilderten Sachverhalt hier vor - verhalten, die Notwendigkeit der Versagung aus den in Art8 Abs2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen zu prüfen und dabei auch auf die familiären und sonstigen privaten Interessen des Bewilligungswerbers Bedacht zu nehmen.

Die belangte Behörde hat im Fall der Beschwerdeführerinnen - ausgehend von einer verfehlten Rechtsansicht - diese im Sinne des Art8 EMRK gebotene Interessenabwägung nicht vorgenommen.

Die angefochtenen Bescheide waren daher schon aus diesem Grund aufzuheben.

III.        Die Kostenentscheidung

gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 3.000,-- enthalten.

IV.                                 Diese Entscheidung konnte

gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben, Interessenabwägung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1996:B1982.1995

Dokumentnummer

JFT_10039076_95B01982_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten