Entscheidungsdatum
09.07.2019Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W241 2184995-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hafner als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.12.2017, Zahl 1093078606/151675882, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.06.2018 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10 und 57 Asylgesetz 2005 sowie §§ 52 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben irregulär in Österreich ein und stellte am 02.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.2. In seiner Erstbefragung am 03.11.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei afghanischer Staatsbürger, Hazara und schiitischer Moslem.
Er sei im Iran geboren und aufgewachsen, in Afghanistan sei er noch nie gewesen. Seine Eltern seien verstorben, er habe keine Geschwister.
Vor ca. einem Monat sei der BF über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien nach Österreich gereist.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er noch nie in Afghanistan gewesen, sei. Er habe gehört, dass Hazara in Afghanistan eine Minderheit seien und von Taliban verfolgt würden. Er habe im Iran Angst gehabt, nach Afghanistan abgeschoben zu werden, da er keine Dokumente habe. Außerdem werde man als Afghane im Iran schlecht behandelt.
1.3. Bei seiner Einvernahme am 28.11.2017 vor dem BFA, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, legte der BF Schulbesuchsbestätigungen und Bestätigungen über die Absolvierung von Deutschkursen vor.
Danach gab der BF im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus dem Einvernahmeprotokoll, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"F.: Wann genau haben Sie sich entschlossen, den Iran zu verlassen?
A.: Ich weiß nicht mehr, wann ich den Entschluss gefasst habe, den Iran zu verlassen. Ich weiß aber auch nicht mehr genau, wann wir aus dem Iran ausgereist sind. Ich glaube, es war im Sommer des Jahres 1394. (Umgerechnet im Jahr 2015)
F.: Wie lautete Ihre letzte Adresse in Afghanistan?
A.: Ich hatte nie eine Adresse in Afghanistan.
F.: Wie lautete Ihre letzte Adresse im Iran?
A.: Stadt - XXXX im Iran; Die Straße und die Hausnummer habe ich vergessen.
F.: Wo haben Sie die letzte Nacht vor der Ausreise verbracht?
A.: Das war an der oben angeführten Adresse, im Haus des Besitzers, bei dem ich gearbeitet habe. (Kinderarbeit)
F.: Können Sie bitte einen kurzen Lebenslauf bezüglich Ihrer Person schildern? Z.B.: Wo sind Sie aufgewachsen, welche Schulausbildung haben Sie absolviert, welchen Beruf haben Sie ausgeübt etc.?
A.: Ich heiße XXXX und bin am XXXX im Iran geboren und im Iran aufgewachsen. Afghanistan habe ich nie gesehen und ich kenne Afghanistan überhaupt nicht. Im Iran hatte ich meine Eltern und als ich ca. 8 Jahre alt war, bin ich bis zu meinem 13. Lebensjahr in eine Privatschule gegangen. Danach habe ich als Straßenhändler begonnen zu arbeiten. Mein Vater war Bauarbeiter im Iran. Nach ca. 1 Jahr als Straßenhändler habe ich auch begonnen, als Bauhilfsarbeiter zu arbeiten. In diesem Bereich habe ich bis zu meiner Flucht gearbeitet. Als ich ca. 14 Jahre alt war, ist mein Vater an einem Arbeitsunfall an der Baustelle gestorben. Ungefähr ein Jahr später erkrankte meine Mutter und ist aus mir unbekannten Gründen auch gestorben. Ich hatte nie Geschwister.
Mein größtes Problem war, dass die iranischen Behörden mich immer nach Afghanistan zurückschieben wollten. Darum habe ich mich immer verstecken müssen. Nach dem Tod meiner Eltern ist mir dieser Zustand zu viel geworden und ich habe beschlossen, aus dem Iran zu flüchten. Im Sommer 2015 bin ich dann geflüchtet.
F.: Welche Verwandten leben noch in Ihrem Herkunftsstaat - Afghanistan (Name, Geburtsdatum, Wohnort, was arbeiten diese, Staatsangehörigkeit)
A.: Ich weiß es nicht. Ich kenne niemanden in Afghanistan und habe keinen Kontakt zu irgendjemand in Afghanistan.
F.: Leben noch irgendwelche Verwandten von Ihnen im Iran?
A.: Nein. Meine Eltern sind gestorben.
F: Haben Sie zu anderen Personen in Afghanistan oder im Iran noch Kontakt (Freunde, Schulkollegen,...)? Wenn ja, wie oft?
A: Nein.
F.: Führten Sie irgendwann einmal einen anderen Namen?
A.: Nein.
F.: Wann genau sind Sie nach Österreich gekommen?
A.: Das war im November 2015.
F.: Wie viel haben Sie für den Schlepper bezahlt?
A.: Ich habe ca. 3.000,-Euro bezahlt.
(...)
F.: Schildern Sie nochmals die Gründe, warum Sie Ihr Heimatland verlassen und einen Asylantrag gestellt haben, von sich aus vollständig und wahrheitsgemäß.
Sie werden darauf hingewiesen, dass falsche Angaben die Glaubwürdigkeit Ihres Vorbringens beeinträchtigen können.
Sollten Sie zu irgendeinem Zeitpunkt vor österreichischen Behörden falsche Angaben gemacht haben oder sollte es zu sonstigen Ungereimtheiten gekommen sein, so werden Sie aufgefordert, dies jetzt bekannt zu geben.
Soweit Sie auf Ereignisse Bezug nehmen, werden Sie auch aufgefordert, den Ort und die Zeit zu nennen, wann diese stattfanden und die Personen, die daran beteiligt waren.
A.: Mein Vater war Mitglied einer politischen Partei (Mujaheddin) und als die Taliban an die Macht kamen, musste er aus politischen Gründen flüchten. Ich bin dann im Iran zur Welt gekommen. Meine Eltern sind dann, als ich noch sehr jung war, (ca. 14 - 15 Jahre) gestorben. Ich war dann ganz alleine und musste mich mittels Arbeit (Kinderarbeit) über Wasser halten. Ganz schlimm wurde es für mich, als die iranischen Behörden versuchten, mich nach Afghanistan abzuschieben. Die iranischen Behörden haben mich mehrmals festgenommen, aber weil ich noch so jung war und schrecklich geweint habe, haben sie mich wieder freigelassen. Es wäre nur noch eine Frage der Zeit gewesen, dann hätten sie mich nach Afghanistan abgeschoben. Darauf wollte ich nicht warten. In Afghanistan habe ich Niemanden und ich würde dort ganz bestimmt sterben bzw. verhungern. Deshalb bin ich geflüchtet.
F.: Möchten Sie von sich aus noch etwas zu Ihrem Fluchtgrund angeben?
A.: Ja. Eine Ausreise nach Afghanistan wäre für mich nicht möglich gewesen, wegen des Krieges in Afghanistan und weil ich dort niemanden kenne.
F.: Haben Sie sämtliche Gründe, warum Sie die Heimat verlassen haben, vollständig geschildert.
A.: Ja.
(...)
F: Was haben Sie in dem letzten Jahr vor der Ausreise aus dem Iran gemacht? Wovon haben Sie da gelebt?
A: Ich habe als Bauhilfsarbeiter (Kinderarbeit) gearbeitet und davon habe ich gelebt. Ich wurde von meinem Chef ausgenützt.
F: Wie war Ihre finanzielle Situation im Iran? Wie haben Sie da gelebt?
A: Ich habe schlecht gelebt. Es hat gerade zum Überleben gereicht. Ich wurde von meinem Chef ausgenützt. Er hat meine Situation ausgenützt.
F: Woher hatten Sie das Geld für die Flucht? (Diese 3.000,- Euro)
A: Ich hatte Geld gespart. Ich hatte ca. 2.000,- Euro. Es war alles was ich hatte. Die restlichen 1.000,- Euro hatte ich mir von Bekannten ausgeborgt.
F: Wie sind Sie mit dem Schlepper in Kontakt gekommen? Wer hat Ihnen den Schlepper vermittelt?
A: Ein Arbeitskollege von mir, hat mir den Schlepper vermittelt. Ich habe alles mit ihm besprochen.
F: Warum sind Sie nicht nach Afghanistan geflüchtet?
A: Wegen dem Krieg und weil ich dort niemanden kenne. Ich hätte keine Chance, in Afghanistan zu überleben. Darum habe ich so große Angst gehabt, nach Afghanistan abgeschoben zu werden.
F: Welche Probleme hatte Ihr Vater genau?
A: Mein Vater war in Afghanistan Mitglied einer politischen Partei (Mujaheddin) und als die Taliban an die Macht kamen, musste er flüchten. Mehr weiß ich nicht.
F: Hatten Sie persönlich jemals Kontakt mit den Taliban?
A: Nein.
F: Was befürchten Sie, wenn Sie zurückmüssten in Ihr Herkunftsland?
A: Wenn ich nach Afghanistan zurückmüsste, würde ich ganz bestimmt sterben. Ich würde verhungern oder umgebracht. Ich habe dort in Afghanistan niemanden und ich kenne auch niemanden. Zudem werden Leute, welche von Europa nach Afghanistan zurückgebracht werden von einigen Gruppierungen als Ungläubige betrachtet und getötet.
F: Wer würde Sie töten wollen?
A: Einige Gruppierungen wie zB. die Taliban od. der IS.
F.: Haben Ihre Eltern konkrete Probleme mit den Taliban gehabt?
A.: Ja, weil sie politisch tätig waren."
Der BF legte folgende Dokumente vor:
-
Empfehlungsschreiben
-
Bestätigung des Roten Kreuzes über Mitgliedschaft in einer Jugendgruppe
-
Kursbestätigung "Fit in die Lehre"
-
Bestätigung über gemeinnützige Tätigkeiten
-
Zeugnis der Übergangsstufe der BMHS
-
Deutschkursbestätigung
-
Zertifikat A2
1.4. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 07.12.2017, zugestellt am 10.01.2018, den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF betreffend eine Verfolgung seiner Person in Afghanistan sei nicht asylrelevant. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Konkrete Angaben bezüglich einer (asylrelevante) Verfolgungshandlung, die den BF persönlich betroffen hätte oder in Zukunft betreffen könnte, habe er nicht vorgebracht. Eine staatliche Verfolgung habe der BF verneint.
In der rechtlichen Beurteilung wurde ausgeführt, dass die Begründung des Antrages keine Deckung in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) finde.
Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes aufgrund der derzeitigen, allgemeinen Lage in Afghanistan nicht drohe. Dem BF sei eine Niederlassung in Kabul möglich, da er erwachsen, gesund und erwerbsfähig sei, sodass er dort selbstständig durch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit aus eigenen Kräften für die Deckung der grundlegendsten Bedürfnisse aufkommen könne.
Für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wurde den BF mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG der Verein Menschenrechte Österreich gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig als Rechtsberater zur Seite gestellt.
1.5. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben vom 26.01.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG ein und beantragte die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.
Begründend wurde zusammengefasst vorgebracht, dass schiitische Hazara generell gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt seien. Kabul sei nicht als sicher einzustufen, da sich die Sicherheitslage in letzter Zeit verschlechtert habe. Die Volksgruppenzugehörigkeit, die Sicherheitslage und das nicht vorhandene soziale Auffangnetz stellten eine ausweglose, lebensbedrohliche Situation für den BF dar. In Afghanistan drohe ihm eine reale Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK. Der BF habe die Deutschprüfung A2 und die Übergangsstufe des BHMS erfolgreich abgeschlossen und bereite sich auf die B1-Prüfung vor. Er sei aktives Mitglied der Jugendgruppe des Roten Kreuzes und habe ehrenamtlich bei der Gemeinde gearbeitet. Er habe in Österreich viele Freunde gefunden und sei sehr gut integriert.
1.6. Die Beschwerde samt Verwaltungsakten langte am 02.02.2018 beim BVwG ein.
1.7. Das BVwG führte am 13.06.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF im Beisein eines gewillkürten Vertreters persönlich erschien. Die belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der Verhandlung.
Dabei legte der BF folgende Dokumente vor:
-
Deutschzertifikat B1
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Bestätigung des Roten Kreuzes über Mitgliedschaft in einer Jugendgruppe
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Lehrvertrag
-
Anmeldung zur Berufsschule
-
Diverse medizinische Unterlagen
Daraufhin gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"RI: Geben Sie bitte Aufenthaltsorte Ihrer näheren Angehörigen bekannt!
BF: Meine Eltern sind verstorben. Aber so wie meine Eltern mir erzählten, wohnten sie in der Provinz HELMAND, Bezirk XXXX , im Ort
XXXX .
RI: Haben Sie Geschwister, Onkel und Tanten?
BF: Nein, da ich im Iran geboren wurde, kenne ich niemanden von meiner Verwandtschaft.
RI: Es wird vermutlich noch Verwandte in HELMAND geben, aber Sie wissen von denen nichts?
BF: Das weiß ich nicht. Ich weiß über Afghanistan nichts.
RI: Waren Sie schon mal in Afghanistan?
BF: Nein. Sie wollten mich abschieben, aber es ist nicht dazu gekommen.
RI: Haben Sie im Iran eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF: Ich habe im Iran von meinem 5. bis zu meinem 13. Lebensjahr die Schule besucht. Das ist eine inoffizielle Schule.
RI: Was haben Sie dann gemacht?
BF: Danach habe ich begonnen zu arbeiten, mit 14 Jahren. Ich habe als Straßenverkäufer gearbeitet und danach war ich auf dem Bau tätig.
RI: Wie war Ihre finanzielle Situation?
BF: Das, was ich verdient habe, habe ich für mich ausgegeben.
RI: Wann sind Ihre Eltern gestorben?
BF: Mein Vater hatte auf dem Bau einen Arbeitsunfall und ist dadurch verstorben. Damals war ich 14 Jahre.
RI: Sie haben dann den Lebensunterhalt für die Mutter verdient?
BF: Nein, meine Mutter hatte bereits vorher gearbeitet. Sie hat nicht wirklich gearbeitet, sie war zwar Hausfrau und hatte eine Nebentätigkeit.
RI: Wann ist Ihre Mutter gestorben?
BF: Sie ist nach einem Jahr gestorben, als ich 15 Jahre alt war. Sie wurde krank.
RI: Wo haben Sie im Iran gewohnt?
BF: In XXXX . Aber auch in TEHERAN.
RI: Wie hat sich Ihre Wohnsituation dargestellt?
BF: Ich habe das bereits beim Erstinterview gesagt, aber der Dolmetscher konnte es nicht genau wiedergeben. Ich habe dort, wo ich gearbeitet habe, auch geschlafen. Das war eine Firma, die Räume für die Arbeitnehmer zur Verfügung gestellt hat, und diese Firma hieß
XXXX .
RI: Wie Sie noch jünger waren, und Sie haben bei den Eltern gewohnt, wie hat sich da die Wohnsituation dargestellt?
BF: Wir hatten ein gemietetes Haus.
RI: Nach dem Tod des Vaters oder Mutter mussten Sie da ausziehen?
BF: Wir mussten ausziehen, weil nachdem mein Vater das passierte, konnten wir nicht mehr dortbleiben.
RI: Wo sind Sie mit Ihrer Mutter hingezogen?
BF: Wir sind in eine andere Wohnung in XXXX gezogen.
RI: Und nach dem Tod der Mutter, haben Sie die Wohnung nicht behalten?
BF: Ich war sehr alleine und es war für mich sehr schwierig und ich zog zu meinen Freunden.
RI: Das war dann diese Firma, wo Sie das Quartier hatten?
BF: Ja, das war ein Zimmer, welches die Firma mir und meinen Freunden zur Verfügung gestellt hat. Wir haben dort illegal gearbeitet für die Firma.
RI: Haben Sie in einer Gegend gewohnt, wo andere Afghanen aufhältig waren?
BF: Ja, es gab Afghanen, aber sehr wenige.
RI: Haben Sie mit Ihren Eltern im Leben die afghanischen Bräuche und Feste gefeiert?
BF: Ja.
RI: Ihre Lebensweise war wie eine afghanische Lebensweise innerhalb der Familie?
BF: Ja, kann man sagen, aber grundsätzlich nehmen die Personen, die im Iran leben, die Angewohnheiten der Iraner an.
Frage an D: Merkt man in der Aussprache des BF, dass er aus dem Iran kommt?
D: Ja, er spricht reines Farsi.
RI: Dari können Sie auch?
BF: Ja, ich verstehe es, aber grundsätzlich sind die Freunde hier in Österreich Iraner.
RI: Wie stellte sich Ihre finanzielle Situation bzw. die Ihrer Familie dar?
BF: Das hat für mein Leben gereicht.
RI: Wie viel hat die Flucht hierher gekostet?
BF: Ungefähr 3000,- Euro.
RI: Das haben Sie sich über die Jahre angespart?
BF: Nein, ich habe das, was ich verdient habe, selber verbraucht. Ich hatte selber nur 1000,- Euro gespart und 2000,- Euro habe ich mir geliehen.
RI: Von wem haben Sie sich das ausgeliehen und wie müssen Sie das zurückzahlen?
BF: Dieses Geld habe ich von meinem Chef erhalten und habe es bis heute nicht zurückgezahlt. Auch meine Arbeitskollegen haben mir Geld geliehen.
RI: Sie haben vor dem BFA gesagt, sie wurden von Ihrem Chef ausgenützt. Wie soll ich das verstehen, wenn er Ihnen jetzt Geld für die Reise gegeben hat?
BF: Sie wissen ja selber, dass die Ingenieure im Iran einen nicht das auszahlen, was einem zusteht. Dieses Geld was ich ausgeliehen habe, habe ich von dem Chef erhalten.
RI: Der Ingenieur hat Sie ausgenützt?
BF: Ja. Der Chef hat mir das Geld geborgt.
RI: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?
BF: Nein, ich selber nicht, aber mein Vater.
RI: Wann sind Sie ausgereist aus dem Iran?
BF: Das war im Ende Sommer 1394 (= 2015). Anmerkung: BF verwendet persischen Kalender.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
(...)
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Ich habe A1 Kurs besucht, ich habe versucht eine Ausbildung als Krankenpfleger zu bekommen, aber das ist wegen der weißen Karte nicht gegangen. Jetzt mache ich eine Ausbildung zum Koch/Kellner.
Anmerkung: BF schildert dies auf gut verständlichem Deutsch.
RI: Haben Sie Arbeit in Österreich? Gehen Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nach?
BF: Ich mache zurzeit die Lehre zum Koch/Kellner.
RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach?
BF: Der Chef vom Roten Kreuz ruft uns ab und zu an, wenn Besprechungen sind, nehme ich daran teil. Manchmal helfe ich auch im Altersheim, wenn Arbeit vorhanden ist. Wir machen auch Ausflüge gemeinsam.
RI: Wollen Sie auch Sanitäter werden oder nur so helfen beim Roten Kreuz?
BF: Nein, ich möchte dort beschäftigt sein.
RI: Machen Sie sportliche, kulturelle Aktivitäten?
BF: Wenn ich frei habe, in der Woche kommt es ein bis zweimal vor, da gehe ich hauptsächlich in die Bibliothek und lerne Deutsch und bereite mich für B2 vor. Nachmittags mache ich auch manchmal Sport, aber da ich Probleme mit meinem Brustkorb habe, kann ich nur laufen gehen.
RI: Wenn Sie die Lehre als Koch/Kellner nicht bekommen hätten, hätten Sie sich vorstellen können eine schwere Arbeit anzunehmen?
BF: Ja.
RI: Geht das mit Ihrem Brustkorb?
BF: Wenn ich gezwungen bin, werde ich dort arbeiten.
RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Nein, sowas habe ich nicht getan. Es war einmal eine B1 Prüfung, bei der ich nicht erschienen bin und habe dort eine Strafe bezahlen müssen. Das war nicht letztes Jahr, sondern das Jahr davor. Ich habe mir ein Zugticket genommen und bin nach Deutschland gefahren und habe dort eine Nacht verbracht und bin aber wieder zurückgekommen. Wir hätten in Wels umsteigen müssen, das haben wir nicht gewusst und wir sind dann unabsichtlich nach Deutschland gefahren, welches in der Nähe von meinem Wohnort liegt.
RI: Haben Sie auch österreichische Freunde?
BF: Ja, habe ich.
RI: Wo haben Sie diesen Kontakt geknüpft?
BF: In der Schule.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
RI: Nennen Sie jetzt bitte abschließend und möglichst umfassend alle Gründe, warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe). Nehmen Sie sich dafür nun bitte ausreichend Zeit, alles vorzubringen.
BF: Mein Vater war Mitglied einer politischen Partei, Mujaheddin, und kämpfte gegen die Taliban. Als die Taliban ihn besiegten und an die Macht kamen, war er gezwungen, Afghanistan zu verlassen. Mein Hauptgrund war das und außerdem kenne ich in Afghanistan niemanden. Ich habe dort niemanden. Es gibt Gruppierungen in Afghanistan, die ich über die Medien gesehen und gehört habe. Dass Personen, die aus Europa oder Ausland nach Afghanistan zurückkehren. Insbesondere Personen, die Afghanistan nicht gut kennen oder nie dort waren. Diese werden diskriminiert oder werden als Ungläubige abgestempelt und umgebracht. Außerdem zähle ich in Afghanistan als Schiite. Die Hazara sind eine Minderheit dort. Das wars.
RI: Wenn Sie in einer Woche in Kabul aus dem Flugzeug steigen, was würden Sie dort machen?
BF: Ich werde sicherlich umgebracht. Wegen der Probleme meines Vaters werden sie mich überall wiedererkennen und sobald sie wissen, dass ich der Sohn meines Vaters bin, werde ich sicherlich umgebracht.
RI: Die Vorfälle mit Ihrem Vater waren vor 20 Jahren und keiner weiß, wie Sie aussehen und da wird Sie keiner mehr verfolgen, und die Leute, die damals bedroht worden sind, sind vielleicht ebenfalls schon umgebracht worden.
BF: Afghanistan ist ein sehr radikales Land. Diese Dinge werden sie niemals vergessen. Die Taliban sind bis heute so siegreich, dass sie immer noch die Macht besitzen, sowas in Erfahrung zu bringen. Ich beobachte das immer wieder, dass die Hauptstadt Afghanistans sehr unsicher ist, geschweige denn die Provinzstädte.
RI: Wenn man die Gefahr der persönlichen Verfolgung weglassen würde, sie würden in Kabul sein, was würden Sie dort machen? Könnten Sie sich vorstellen, eine Arbeit dort zu suchen und eine Wohnung zu nehmen?
BF: Nein, ich kann generell dort nicht leben, weil ich noch nie dort war. Ich lebe jetzt in Österreich und meine Gedanken konzentrieren sich darauf, dass ich hier eine positive Zukunft habe.
[...]
BFV: Insbesondere zu Spruchpunkt II. ist festzuhalten, dass der BF aufgrund seiner Geburt und Sozialisierung im Iran und der nunmehr in Österreich erfolgten Sozialisierung bei einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere nach Kabul, Mazar - e - Sharif und Herat, in eine die menschliche Existenz bedrohende Lebenssituation unter exzeptionellen Umständen kommen würde. Kabul ist mittlerweile in mehreren Berichten als die volatilste Provinz und Stadt in Afghanistan bezeichnet worden. Eine Rückkehr in diese Stadt würde dem BF sowohl aufgrund der sozioökonomischen Situation, Sicherheitslage und der politischen Situation in eine menschliche existenzbedrohende Lebenssituation bringen.
Dazu werden vorgelegt fünf Berichte: Referat von Thomas RUTTIG April 2017, Kommentar von Thomas RUTTIG zum Gutachten von Mag. Mahringer, Gutachten zur aktuellen Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul vom 23.10.2015 erstellt durch Dr. Rasuli, Artikel von Friederike Stahlmann "Überleben in Afghanistan?" sowie eine Zusammenfassung über die aktuelle Sicherheitslage unter Einbeziehung des Gutachtens von Friederike Stahlmann vom 28.03.2018, beauftragt von LG Wiesbaden. Diese werden zum Akt genommen.
Zu Spruchpunkt III. ist festzuhalten, dass der BF bereits das B1 Deutschniveau erreicht hat, sich aktuell in einer Lehre befindet und sein gesamtes Familienleben gem. Art. 8 EMRK sich in Österreich abspielt. Er hat keinerlei Bindungen zu Afghanistan, da er nie dort gewesen ist. Dieser Punkt ist im Rahmen von § 9 Abs. 2 BFA-VG zu beachten. Aufgrund seiner hervorragenden Integrationsleistungen ist dem BF in eventu ein Aufenthaltstitel gem. § 55 AsylG zu erteilen."
1.8. Mit Schreiben vom 26.11.2018 wurde das Jahreszeugnis der Berufsschule vorgelegt.
1.9. Mit Schreiben vom 07.06.2019 wurde eine Beschäftigungsbewilligung des AMS für eine Tätigkeit des BF als Küchengehilfe übermittelt.
1.10. Am 05.02.2019 wurde dem BF das akteulle Länderinfromationsballt zu Afghanistan, Feststellungen zur Lage in Mazar-e Sharif und ein Bericht zur Dürre in Herat und Mazar-e Sharif vom 13.09.2018 zur Stellungnahme übermittelt.
1.11. In einer Stellungnahme vom 22.02.2019 wurde vorgebracht, dass dem BF eine Niederlassung in Herat oder Mazar-e Sharif aufgrund der anhaltenden Gewalt, der fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten und der Dürre nicht zumutbar sei.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 03.11.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 28.11.2017 sowie die Beschwerde vom 26.01.2018
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation)
* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 13.06.2018
* Einsicht in die vom BF vorgelegten Schriftstücke und Befunde
* Einsichtnahme in folgende vom BVwG zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018)
o Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016 sowie Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016
o Feststellungen zu den ethnischen Minderheiten in Afghanistan (Hazara)
o Festellungen zur Lage in der Stadt Mazar-e Sharif und zur Dürre in Herat und Mazar-e Sharif
o Auszug aus einer Anfragebeantwortung von ACCORD zur Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zum schiitischen Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht aber auch Farsi und Deutsch.
Der BF ist ledig und wurde im Iran geboren, wo er auch die Schule besuchte.
Die Eltern des BF sind verstorben, er hat keine Geschwister. Der BF hat keine Kenntnis von weiteren Verwandten in Afghanistan oder im Iran.
Der BF wurde laut eigenen Aussagen von seinen Eltern gemäß dem afghanischen Kulturkreis erzogen und lebte nach den afghanischen Sitten. Er hat acht Jahre eine - laut eigener Aussage inoffizielle - Schule besucht und dabei schreiben und lesen gelernt. Der BF hat später dann im Iran als Straßenhändler und Bauhilfsarbeiter gearbeitet.
3.1.2. Der BF ist jung und männlich. Der BF leidet an einer Trichterbrust, für die aktuell jedoch kein Behandlungsbedarf besteht. Bei Bedarf nimmt der BF Schmerzmittel ein. Es liegen keine Hinweise darauf vor, dass der BF durch die Deformation seiner Brust in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt wäre. Hinweise auf lebensbedrohende oder schwerwiegende Krankheiten haben sich daher zum aktuellen Zeitpunkt keine ergeben.
Der BF hat acht Jahre eine Schule besucht, dabei schreiben und lesen gelernt, und verfügt über Berufserfahrung als Straßenhändler und Arbeiter auf Baustellen.
3.1.3. Der BF ist im Iran geboren und aufgewachsen. Er reiste nunmehr Mitte 2015 vom Iran über die Türkei nach Europa und stellte am 02.11.2015 in Österreich den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
3.1.4. Der BF hält sich seit November 2015 in Österreich auf und spricht verständliches Deutsch. Er absolvierte ab Mai 2018 eine Lehre zum Koch, nachdem er eine Übergangsstufe der BMHS abgeschlossen hatte, brach diese jedoch Anfang 2019 ab und verfügt nun über eine Beschäftigungsbewilligung als Küchengehilfe. Er ist Mitglied einer Jugendgruppe des Roten Kreuzes, verrichtet gemeinnützige Tätigkeiten in der Gemeinde und pflegt Kontakte zu österreichischen Personen. Der BF bezieht weiterhin Grundversorgung. Er hat in Österreich keine Verwandten und ist strafrechtlich unbescholten.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF wurde im Iran geboren und hat sich noch nie in Afghanistan aufgehalten. Er verließ den Iran aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen für dort aufhältige Afghanen, insbesondere schiitische Hazara.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan von den Taliban oder einer anderen extremistischen Gruppierung verfolgt werden würde.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara bzw. zur schiitischen Religion bei einer Rückkehr nach Afghanistan konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt droht. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara bzw. der schiitischen Religion in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt ist.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan allein auf Grund der Tatsache, dass er den Großteil seines Lebens im Iran verbracht hat, bzw. dass jedem Rückkehrer aus dem Iran physische und/oder psychische Gewalt droht.
Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an.
3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.
3.3.2. Der BF ist im erwerbsfähigen Alter und männlich. Dass sein allgemeiner Gesundheitszustand erheblich beeinträchtigt wäre, hat der BF im Verfahren weder behauptet, noch ist es dem erkennenden Gericht sonst bekannt geworden.
3.3.3. Dem BF ist es möglich und zumutbar, sich in Mazar-e Sharif niederzulassen. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates - so wurde er von seinen Eltern nach afghanischen Sitten erzogen - und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) vertraut. Er ist in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen und hat acht Jahre lang eine Schule besucht und dabei lesen und schreiben gelernt. Der BF lebte bisher nicht in Mazar-e Sharif, und es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF dort über familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte verfügt. Dem BF ist jedoch aus eigenem der Aufbau einer Existenzgrundlage in dieser Stadt möglich. Der BF kann seine Existenz in Mazar-e Sharif - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern, wobei festzuhalten ist, dass der BF bereits als Straßenhändler und auf Baustellen im Iran gearbeitet hat und in Österreich eine Lehre zum Koch begonnen hat. Er hat auch die Möglichkeit, Rückkehrunterstützung in Anspruch zu nehmen und damit eine weitere finanzielle Hilfe zu erhalten. Der BF ist auch in der Lage, in Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Als alleinstehender, gesundheitlich nicht schwer beeinträchtigter und leistungsfähiger Mann im berufsfähigen Alter samt Berufserfahrung im Baugewerbe und der Gastronomie ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf liefe der BF auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der BF leidet an keinen schwerwiegenden Erkrankungen.
3.3.4. Der BF kann die Stadt Mazar-e Sharif - über Kabul - von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.
3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
3.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", Schreibfehler teilweise korrigiert):
Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen
Kl vom 08.01.2019, Anschlag in Kabul und Verschiebung der Präsidentschaftswahl (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage und Abschnitt 3/Sicherheitslage)
Anschlag auf Regierungsgebäude in Kabul
Am 24.12.2018 detonierte vor dem Ministerium für öffentliches Bauwesen im Osten Kabuls (PD 16) eine Autobombe; daraufhin stürmten Angreifer das nahe gelegene Gebäude des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Märtyrer und Behinderte und beschossen weitere Regierungseinrichtungen in der Umgebung (ORF 24.12.2018; vgl. ZO 24.12.2018, Tolonews 25.12.2018). Nach einem mehrstündigen Gefecht zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Angreifern konnten diese besiegt werden. Quellen zufolge kamen ca. 43 Menschen ums Leben (AJ 25.12.2018; vgl. Tolonews 25.12.2018, NYT 24.12.2018). Bisher bekannte sich keine Gruppierung zum Anschlag (Tolonews 25.12.2018; vgl. AJ 25.12.2018).
Problematische Stimmenauszählung nach Parlamentswahlen und Verschiebung der Präsidentschaftswahl
Am 06.12.2018 erklärte die afghanische Wahlbeschwerdekommission (IECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Somit wurden die Stimmen von ungefähr einer Million Kabulis annulliert (Telepolis 15.12.2018; vgl. TAZ 06.12.2018). Die Gründe für die Entscheidung der IECC seien mehrere, darunter Korruption, Wahlfälschung und die mangelhafte Durchführung der Wahl durch die Unabhängige Wahlkommission (IEC) (Telepolis 15.12.2018; vgl. RFE/RL 06.12.2018). Die Entscheidung wurde von der IEC als "politisch motiviert" und "illegal" bezeichnet (Tolonews 12.12.2018). Am 08.12.2018 erklärte die IECC dennoch, die Kommission würde ihre Entscheidung revidieren, wenn sich die IEC kooperationswillig zeige (Tolonews 08.12.2018). Einer Quelle zufolge einigten sich am 12.12.2018 die beiden Wahlkommissionen auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen, welche die Transparenz und Glaubhaftigkeit dieser wahren sollte; ca. 10% der Stimmen in Kabul sollen durch diese neue Methode nochmals gezählt werden (Tolonews 12.12.2018). Die Überprüfung der Wahlstimmen in der Provinz Kabul ist weiterhin im Gange (Tolonews 07.01.2019). Dem Gesetz zufolge müssen im Falle der Annullierung der Stimmen innerhalb von einer Woche Neuwahlen stattfinden, was jedoch unrealistisch zu sein scheint (Telepolis 15.12.2018). Bisher hat die IEC die vorläufigen Ergebnisse der Wahl für 32 Provinzen veröffentlicht (IEC o.D.).
Am 30.12.2018 wurde die Verschiebung der Präsidentschaftswahl vom 20.04.2019 auf den 20.07.2019 verkündet. Als Gründe dafür werden u. a. die zahlreichen Probleme während und nach der Parlamentswahlen im Oktober genannt (WP 30.12.2018; vgl. AJ 30.12.2018, Reuters 30.12.2018)
[...]
2. Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten