Entscheidungsdatum
18.09.2019Norm
B-VG Art. 133 Abs4Spruch
G314 2221992-1/4E
G314 2221993-1/5E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde der minderjährigen kosovarischen Staatsangehörigen 1. XXXX, geboren am XXXX, und 2. XXXX, geboren am XXXX, beide gesetzlich vertreten durch XXXX, diese vertreten durch den Rechtsanwalt XXXX, gegen die Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 25.06.2019, Zl. XXXX (zu 1.) und XXXX (zu 2.) betreffend die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK:
A) Die Beschwerdeverfahren werden gemäß § 17 VwGVG iVm § 39 Abs 2
AVG zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
B) Der Beschwerde wird insofern Folge gegeben, als die angefochtenen
Bescheide gemäß § 28 Abs 3 VwGVG aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen wird.
C) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
Verfahrensgang und Sachverhalt:
Die Erstbeschwerdeführerin (BF1) ist die Schwester des Zweitbeschwerdeführers (BF2). Die beiden Kinder, die jeweils am XXXX.05.2016 ausgestellte und bis XXXX.05.2021 gültige kosovarische Reisepässe, aber keine Aufenthaltstitel besitzen, gelangten zu einem unbekannten Zeitpunkt (möglicherweise im Jahr 2016) gemeinsam mit ihren Eltern XXXX und XXXX in das Bundesgebiet, wo sie sich seither unrechtmäßig aufhalten. Am XXXX.2016 kam XXXX, der Bruder der Beschwerdeführer (BF), in XXXX zur Welt. XXXX und XXXX verließen das Bundesgebiet gemeinsam am XXXX.05.2018.
Bei einer fremdenpolizeilichen Kontrolle am XXXX.10.2018 wurde angegeben, dass die in Österreich verbliebenen BF von ihrer Tante XXXX, der Schwester ihres Vaters, die kosovarische Staatsangehörige ist und über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" verfügt, adoptiert worden seien. Mit dem Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX.11.2018, XXXX, wurde die Obsorge für beide BF den Eltern entzogen und XXXX übertragen, weil beide Elternteile in den Kosovo zurückgekehrt waren.
Am 04.12.2018 beantragten die BF die Erteilung von Aufenthaltsberechtigungen gemäß § 55 Abs 2 AsylG aus Gründen des Art 8 EMRK. Dazu wurde vorgebracht, dass sie im Bundesgebiet in einem gemeinsamen Haushalt mit ihrer obsorgeberechtigten Tante leben und die Schule besuchen würden. Im Kosovo gebe es keine obsorgeberechtigten Personen; die BF hätten dort keine Familienangehörigen mehr. Die Anträge wurden in der Folge auftragsgemäß verbessert. Vorgelegt wurden unter anderem die Geburtsurkunden der BF, Einkommensnachweise von XXXX und der Mietvertrag des Großvaters der BF, des aus dem Kosovo stammenden österreichischen Staatsbürgers XXXX über die 55 m2 große Wohnung in der XXXX, XXXX, wo die BF seit XXXX.09.2017 jeweils mit Hauptwohnsitz gemeldet sind. XXXX ist an dieser Adresse seit 23.02.2018 mit Nebenwohnsitz gemeldet; ihr Hauptwohnsitz befindet sich seit 15.12.2017 an der Anschrift XXXX, XXXX.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) richtete eine Anfrage an die Staatendokumentation, ob die elterliche Obsorge im Kosovo nach kosovarischem Recht trotz einer Adoption in Österreich aufrecht sei, welche Folgen eine Rückkehr der BF in den Kosovo habe, wenn die Obsorge nicht mehr aufrecht sei, und ob im Kosovo nur Minderjährige adoptiert werden könnten. Die Staatendokumentation übermittelte dem BFA Informationen zum kosovarischen Adoptionsrecht und zur Behandlung von Rückkehrern im Kosovo und gab bekannt, dass die elterliche Obsorge bis zur Anerkennung der österreichischen Gerichtsentscheidung über die Adoption durch das zuständige kosovarische Gericht aufrecht sei. Nach einer solchen Anerkennung seien die leiblichen Eltern nicht mehr obsorgeberechtigt, sondern nur noch die Adoptiveltern. Im Kosovo könnten nur Minderjährige (unter 18 Jahren) adoptiert werden.
Am 18.06.2019 wurden die BF sowie XXXX vor dem BFA zu den Anträgen vom 04.12.2018 vernommen. Dabei gaben die BF an, zu ihren Eltern, die sich im Kosovo aufhalten sollen, regelmäßig über den Chat-Dienst Viber Kontakt zu haben. XXXX gab an, sie habe die BF sowohl in Österreich als auch im Kosovo adoptiert. Sie sei nur in Österreich, nicht aber im Kosovo mit der Obsorge betraut. Dazu wurden diverse Urkunden vorgelegt, unter anderem das Urteil des Grundgerichts XXXX vom XXXX.2017, C.nr. XXXX, betreffend die Scheidung der Ehe der Eltern der BF, mit dem die Obsorge für die BF an ihre Mutter XXXX übertragen wurde, in albanischer Sprache samt deutscher Übersetzung (wobei XXXX in diesem Urteil nicht erwähnt wird), eine XXXX erteilte Vollmacht vom 30.11.2017 in albanischer Sprache ohne Übersetzung (Unterschrift des Vollmachtgebers unleserlich), das Urteil des Grundgerichts XXXX vom XXXX.2018, C.nr. XXXX samt Verhandlungsprotokoll, betreffend die Übertragung der Obsorge für die BF an ihren Vater XXXX, jeweils in albanischer Sprache ohne Übersetzung, sowie eine undatierte Vereinbarung zwischen XXXX als Vertreter von XXXX und XXXX über die Adoption der BF durch XXXX samt notarieller Beglaubigung der Unterschriften vom XXXX.03.2018 (jeweils mit deutscher Übersetzung, die zahlreiche sinnstörende Fehler aufweist). Eine gerichtliche Entscheidung über diese Vereinbarung lässt sich den Akten nicht entnehmen. Die Dokumente sind in den Akten völlig ungeordnet; die deutschen Übersetzungen lassen sich den albanischsprachigen Urkunden nur mit Mühe zuordnen.
Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden wies das BFA die Anträge vom 04.12.2018 ab (Spruchpunkt I.), erließ gegen die BF jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 3 FPG (Spruchpunkt II.), stellte die Zulässigkeit ihrer Abschiebung in den Kosovo fest (Spruchpunkt III.) und legte eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV.). Dies wurde unter anderem damit begründet, dass der Vater der BF im Kosovo nach wie vor für die obsorgeberechtigt sei, weil der Obsorgebeschluss eines österreichischen Gerichts im Kosovo nicht automatisch rechtswirksam sei. Durch die Obsorgeübertragung an die Tante der BF werde versucht, ihren Aufenthalt in Österreich zu erzwingen und Zuwanderungsvorschriften zu umgehen. Im Rahmen der Feststellungen zur Lage im Kosovo legte die Behörde dar, dass für zurückkehrende unbegleitete Minderjährige das Amt für Soziale Angelegenheiten der Gemeinde, in der sie zuletzt registriert gewesen seien, zuständig sei. Dort werde zunächst geprüft, ob eine Aufnahme bei Verwandten oder bei einer anderen aufnahmewilligen Familie möglich sei; wenn nicht, wende man sich an ein SOS-Kinderdorf. Die Aufnahme dort sei kein Problem, wenn die Finanzierung gesichert sei; derzeit würden die Mittel aber nicht ausreichen, um allen Anfragen gerecht zu werden. Es gebe auch ein Haus für Waisenkinder und Kinder mit Behinderungen des Ministeriums für Arbeit und Soziales mit einer Aufnahmekapazität von bis zu zehn Personen. § 46 Abs 3 FPG wird in dem Bescheid nicht erwähnt.
Gegen den Bescheid richtet sich die wegen der Verletzung von Verfahrensvorschriften und inhaltlicher Rechtswidrigkeit erhobene gemeinsame Beschwerde der BF mit den Anträgen, eine Beschwerdeverhandlung durchzuführen und ihnen die beantragten Aufenthaltstitel (unter Behebung der übrigen Spruchpunkte der angefochtenen Bescheide) zu erteilen. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag gestellt. Gleichzeitig legten die BF die Entscheidung des Amtsgerichts in XXXX vom XXXX.2019, CN.nr. XXXX, über die Anerkennung des Beschlusses des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX.2018, XXXX, in albanischer Sprache samt deutscher Übersetzung vor. Sie begründen die Beschwerde zusammengefasst damit, dass XXXX sowohl in Österreich als auch im Kosovo die für sie allein obsorgeberechtigte Person sei. Durch deren Einkommen sei der Unterhalt der BF gesichert. Die Obsorgeübertragung habe dem Wohl der Kinder, die keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern hätten, entsprochen; im Kosovo wären sie auf sich allein gestellt. Die BF würden mit ihrer Tante eine ortsübliche Unterkunft bewohnen, die Schule besuchen und sprächen Deutsch. Sie hätten ein Familienleben mit einer daueraufenthaltsberechtigten Person, sodass die vorzunehmende Interessenabwägung zu ihren Gunsten ausfallen müsse.
Das BFA legte die Beschwerde samt den Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem Antrag, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen, vor.
Beweiswürdigung:
Der Verfahrensgang und der oben angeführte Sachverhalt ergeben sich aus dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des Gerichtsakts des BVwG sowie aus den durchgeführten Abfragen im Informationsverbund Zentrales Fremdenregister (IZR) und im Zentralen Melderegister (ZMR). Entscheidungswesentliche Widersprüche liegen nicht vor, sodass sich eine ausführlichere Beweiswürdigung erübrigt.
Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
Das BVwG kann nach § 17 VwGVG iVm § 39 Abs 2 AVG unter Bedachtnahme auf möglichste Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis mehrere in seine Zuständigkeit fallende Rechtssachen zur gemeinsamen Entscheidung verbinden, soweit dies im Rahmen der Geschäftsverteilung möglich ist (Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht10 Rz 276/1 und 798).
Da die BF Geschwister sind, die eine gemeinsame Beschwerde erhoben, und die angefochtenen Bescheide inhaltlich weitgehend übereinstimmen, sodass in beiden Beschwerdeverfahren ähnliche Tatsachen- und Rechtsfragen zu klären sind, sind die Verfahren, die derselben Gerichtsabteilung des BVwG zugewiesen wurden, aus Zweckmäßigkeitsgründen zur gemeinsamen Entscheidung zu verbinden.
Zu Spruchteil B):
Gemäß § 28 Abs 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über eine Bescheidbeschwerde iSd Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG wie die vorliegende dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht (Z 1) oder dessen Feststellung durch das Gericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (Z 2). Wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen, hat das Gericht gemäß § 28 Abs 3 VwGVG dann meritorisch zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an die Behörde zurückverweisen, die dann an die rechtliche Beurteilung, von der das Gericht ausgegangen ist, gebunden ist.
Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Behörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Behörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Wenn die Behörde den entscheidungswesentlichen Sachverhalt unzureichend festgestellt hat, indem sie keine für die Sachentscheidung brauchbaren Ermittlungsergebnisse geliefert hat, ist eine Zurückverweisung gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG zulässig (VwGH 28.03.2017, Ro 2016/09/0009). Von der Möglichkeit einer Zurückverweisung kann demnach nur bei besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren2 § 28 VwGVG Anm 13), wie sie hier vorliegen.
Dabei ist von folgender rechtlicher Beurteilung auszugehen: Gemäß § 9 Abs 1 und 2 BFA-VG sind bei Rückkehrentscheidungen, von denen minderjährige Kinder betroffen sind, die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei gemäß § 9 Abs 2 Z 5 BFA-VG den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 21.05.2019, Ra 2019/19/0136).
Gemäß § 46 Abs 3 erster Satz FPG hat sich das BFA vor der Abschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Fremden zu vergewissern, dass dieser einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Zielstaat übergeben werden kann. Derartige Erhebungen wurden hier unterlassen. Das BFA wird im fortgesetzten Verfahren zu erheben haben, wem die BF im Kosovo übergeben werden können, wie und von wem die Obsorge für sie dort ausgeübt und ihre Pflege und Erziehung konkret bewerkstelligt werden kann. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Wirkungen der Obsorgeübertragung gemäß § 27 IPRG nach kosovarischem Recht zu beurteilen sind, das vom BFA nicht ermittelt wurde.
Die von der Behörde im Ermittlungsverfahren eingeholten Informationen der Staatendokumentation betreffen Adoptionen und sind daher für dieses Verfahren nicht maßgeblich.
Grundsätzlich entspricht es dem Wohl der BF, wenn sie gemeinsam mit ihrem Geschwisterkind aufwachsen und von einem Elternteil, bei dem sie bislang großteils aufgewachsen sind, in ihrem Heimatland betreut und versorgt werden, statt in einem für sie fremden Land von entfernteren Verwandten, auch wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse hier besser sein mögen als im Kosovo. Dies setzt freilich voraus, dass der betreffende Elternteil willens und in der Lage ist, sich adäquat um die Kinder und ihre materiellen und emotionalen Bedürfnisse zu kümmern. Auch nach dem Willen des österreichischen Gesetzgebers soll die Obsorge für Kinder - abgesehen von Fällen der Kindeswohlgefährdung - primär von einem oder beiden Elternteil(en) ausgeübt werden (§§ 177 ff ABGB); die Betrauung anderer Personen setzt voraus, dass weder Eltern noch Groß- oder Pflegeeltern damit betraut werden können (§ 204 ABGB).
Die Behörde wird im fortgesetzten Verfahren daher zu prüfen haben, ob die BF mit der Obsorgeberechtigten in einem gemeinsamen Haushalt leben (wovon derzeit aufgrund der unterschiedlichen Hauptwohnsitzmeldungen und der Größe der Wohnung von XXXX nicht ohne weiteres auszugehen ist) und wer ihre Pflege und Erziehung im Alltag tatsächlich ausübt, wo und mit wem die BF vor der Obsorgeübertragung an ihre Tante zusammengelebt haben, wer sich damals um sie gekümmert hat und ob im Kosovo jemand existiert, dem ihre Fürsorge und Pflege konkret anvertraut werden könnte. Außerdem sind Erhebungen zum aktuellen Aufenthaltsort der Eltern der BF, deren Lebensumständen und deren gemäß § 9 Abs 2 Z 5 BFA-VG relevanten Kontakten zu den BF vorzunehmen. Die Behörde wird überdies zu ermitteln haben, ob und wie die Tante der BF die Obsorge eventuell weiter ausüben kann, wenn sich die BF wieder im Kosovo aufhalten, zumal nach Art 219 des kosovarischen Familiengesetzes der Vormund für Minderjährige diese mit Zustimmung des Vormundschaftsorgans einer Organisation, die mit Kindern und Minderjährigen arbeitet, oder einer Drittperson zur Ausbildung, Erziehung und Pflege anvertrauen kann. Bei diesen Ermittlungen kann allenfalls auch auf die Unterstützung des Trägers der Kinder- und Jugendhilfe zurückgegriffen werden.
Wenn die Behörde vermeint, durch die Obsorgeübertragung an die Tante der BF werde versucht, ihren Aufenthalt in Österreich zu erzwingen und Zuwanderungsvorschriften zu umgehen, ist ihr zu entgegnen, dass es zwar gemäß § 30 NAG unzulässig ist, sich zur Erlangung eines Aufenthaltstitels auf eine Aufenthaltsehe oder -adoption zu berufen, aber eine vergleichbare Regelung für eine Obsorgeübertragung zu Aufenthaltszwecken fehlt. Trotzdem wird die Behörde unter dem Blickwinkel des österreichischen Fremdenrechts die Motive für die Obsorgeübertragung konkret zu prüfen haben, zumal es für die Entscheidung über die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels einen Unterschied macht, ob dessen Erlangung der ausschließliche oder vorwiegende Grund für die Obsorgeübertragung war oder ob ein anderes Motiv im Vordergrund stand, etwa, dass keine andere geeignete Person dafür in Betracht kam. Sollte sich herausstellen, dass die BF tatsächlich auf die Pflege und Obsorge ihrer Tante angewiesen sind, könnte die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK geboten sein.
Da das BFA somit noch keine geeigneten Schritte zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts gesetzt hat, sondern im Ermittlungsverfahren noch von der zunächst behaupteten Adoption der BF durch ihre Tante ausging, kann derzeit noch nicht beurteilt werden, ob der beantragte Aufenthaltstitel zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens der BF geboten ist. Auf der Grundlage der bisherigen Ermittlungen ist keine abschließende rechtliche Beurteilung des Sachverhalts möglich; dieser ist vielmehr in wesentlichen Teilen ergänzungsbedürftig. Je nach dem Ergebnis der oben dargestellten, zusätzlich notwendigen Erhebungen wird das BFA nach der gebotenen Ergänzung des Ermittlungsverfahrens neuerlich über den Antrag der BF entscheiden müssen.
Da zu den tragenden Sachverhaltselementen keine Beweisergebnisse vorliegen, zur Klärung des relevanten Sachverhalts zusätzliche Ermittlungen notwendig sein werden und dadurch bedingte Weiterungen des Verfahrens nicht ausgeschlossen werden können, führt es weder zu einer Kostenersparnis noch zu einer Verfahrensbeschleunigung, wenn das BVwG die Erhebungen selbst durchführt, zumal das BFA jegliche Ermittlungen zu komplexen Fragen offenbar deshalb unterließ, damit diese letztlich durch das BVwG vorgenommen werden.
Im Ergebnis ist der angefochtene Bescheid daher - dem in der Beschwerde eventualiter gestellten Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag entsprechend - gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur allfälligen Erlassung eines neuen Bescheids an das BFA zurückzuverweisen.
Im fortgesetzten Verfahren wird darauf zu achten sein, dass vorgelegte Unterlagen vollständig und geordnet zu den Akten genommen werden und bei fremdsprachigen Dokumenten, bei denen eine Übersetzung vorgelegt wird, Original und Übersetzung jeweils miteinander zu verbinden sind. Bei der Vorlage einer mangelhaften, unverständlichen Übersetzung ist eine Verbesserung (Mängelbehebung) zu veranlassen.
Eine mündliche Verhandlung entfällt gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG, weil schon aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
Die Revision ist wegen der Einzelfallbezogenheit der Entscheidung über die Anwendung des § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG, die keine grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG begründet, nicht zuzulassen (siehe z.B. VwGH 25.01.2017, Ra 2016/12/0109).
Schlagworte
Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, individuelleEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:G314.2221993.1.00Zuletzt aktualisiert am
26.02.2020