Entscheidungsdatum
27.09.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W261 2144717-1/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK! Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX auch XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, vom 21.12.2016, Zahl: XXXX nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 03.04.2017 und am 25.09.2019 zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Gang des Verfahrens:
Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsbürger, reiste nach seinen Angaben am 19.07.2015 als Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtling irregulär in Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz.
In seiner Erstbefragung am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion XXXX gab der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Pachtu im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei Paschtune, er sei in Pakistan geboren und aufgewachsen und sei mit 12 Jahren wieder gemeinsam mit seinen Eltern in deren Heimatdorf in der Provinz Khost zurückgekehrt. Er habe Afghanistan aufgrund einer Feindschaft verlassen. Es habe Gebietsstreitigkeiten gegeben, wobei viele Verwandte ums Leben gekommen seien. Sein Leben sei aufgrund dieser Feinde in Gefahr gewesen, er habe Angst um sein Leben gehabt und sei daher geflohen.
Am 28.06.2016 fand die Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Vorarlberg (im Folgenden belangte Behörde oder BFA) im Beisein seiner Rechtsvertreterin der Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, einer Vertrauensperson und eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu statt. Der BF schilderte erneut sein Fluchtvorbringen, wonach die Feinde seiner Familie aus demselben Clan, dem Clan der XXXX , stammen würden. Sein Onkel habe eine Person dieses Clans getötet, woraufhin sich dessen Familienmitglieder hätten rächen wollen. Sein Vater sei danach in einem Streit angeschossen worden, woraufhin er mit seiner Frau nach Pakistan geflohen sei. Die Familie habe dort sehr lange gelebt, bis sie im Jahr 2013 wieder nach Afghanistan zurückkehren hätten müssen. Nachdem die Feine erfahren hätten, dass die Familie wieder im Land sei, hätten sie den BF beim Besuch eines Bazars versucht abzupassen, was nicht gelungen sei, weil der BF gewarnt worden sei. Er sei daraufhin schlepperunterstützt aus Afghanistan geflohen. Der BF legte eine Schulbesuchsbestätigung aus Pakistan und ein Foto seines Vaters, worauf eine Narbe nach einer Schussverletzung am Oberarm zu sehen sei, vor.
Der BF gab durch seine Rechtsvertreterin der Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH mit Eingabe vom 11.07.2016 eine umfangreiche schriftliche Stellungnahme und zur Asylrelevanz des Vorbringens ab. Der BF sei in Afghanistan Blutrache ausgesetzt und laufe im Falle einer Rückkehr Gefahr, getötet zu werden. Er sei zudem ein "westernized man", und sei auch diesbezüglich Gefahren ausgesetzt. Die staatlichen Behörden seien nicht willens und in der Lage, den BF vor diesen Bedrohungen zu schützen. Er sei aus Furcht vor Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie, die von einer Blutfehde betroffen sei, geflohen. Der BF sei im Falle seiner Rückkehr jedenfalls einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt. Es werde daher beantragt, dem BF Asyl zu gewähren, ihm in eventu den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu die Ausweisung für dauerhaft unzulässig zu erklären. Der BF fügte dieser Stellungnahme eine allgemeine Information zu Minderjährigen von ACCORD vom 08.07.2016 und weitere Integrationsunterlagen bei.
Die belangte Behörde übermittelte dem BF mit Eingabe vom 15.12.2016 das aktuelle Länderinformationsblatt Afghanistan vom 22.11.2016 im Rahmen des Parteiengehörs. Der BF verzichtete durch seine Rechtsvertreterin am 16.12.2016 auf die Abgabe einer Stellungnahme und verwies auf dessen Stellungnahme vom 11.07.2016.
Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) ab. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG erkannte die belangte Behörde dem BF im Spruchpunkt II den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, und erteilte diesem im Spruchpunkt III. eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 20.12.2017.
In der Begründung des angefochtenen Bescheides traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Es stehe fest, dass der BF in seiner Heimat keine Verfolgung durch den afghanischen Staat zu befürchten habe. Es sei nicht glaubhaft, dass der BF eine Verfolgung oder Bedrohung durch die Taliban oder private Personen ausgesetzt sei. Das Vorbringen des BF zu seiner Ausreise werde als gänzlich unglaubhaft befunden. Es habe kein fluchtauslösendes Ereignis und nicht annähernd ein zeitlicher Zusammenhang zwischen den behaupteten Ereignissen und der Ausreise des BF festgestellt werden. Die belangte Behörde gehe davon aus, dass der BF Afghanistan aus wirtschaftlichen und sonstigen Gründen verlassen habe. Er wäre im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keiner persönlichen Verfolgung ausgesetzt. Eine Rückkehr wäre dem BF nicht zumutbar oder möglich. Seine Herkunftsprovinz Khost, wo auch seine Familienangehörigen leben würden, sei äußerst volatil. Aufgrund der Minderjährigkeit des BF komme aus Sicht der belangten Behörde keine innerstaatliche Relokationsalternative in Frage, weswegen dem BF subsidiärer Schutz zu gewähren sei.
Gegen diesen Bescheid brachte der BF, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, fristgerecht mit Eingabe vom 12.01.2017 das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein. In der Beschwerdebegründung führte der BF aus, dass der Bescheid hinsichtlich des Spruchpunktes I. wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung ein für den mj. BF günstigerer Bescheid erzielt worden wäre, angefochten werde. Das Ermittlungsverfahren sei mangelhaft geblieben, insbesondere habe sich die belangte Behörde nicht an die Pflicht zur amtswegigen Erforschung des maßgeblichen Sachverhaltes gehalten. Bei der Befragung des BF sei nicht auf dessen Minderjährigkeit Bedacht genommen worden. Die belangte Behörde habe auf die Stellungnahme des BF vom 11.07.2016 keinen Bezug genommen und habe sich damit nicht mit allen Beweismitteln auseinandergesetzt. Aus den Länderinformationen sei zu entnehmen, dass von Blutrache eine Verfolgungsgefahr ausgehe. Die Beweiswürdigung sei mangelhaft erfolgt, die belangte Behörde habe die Minderjährigkeit des BF bei der Würdigung dessen Aussagen nicht hirneichend berücksichtigt. Bei richtiger rechtlicher Würdigung des glaubhaft vorgebrachten Sachverhaltes hätte die belangte Behörde zum Schluss kommen müssen, dass dem BF internationaler Schutz zu gewähren sei.
Die belange Behörde legte den Beschwerdeakt mit Schreiben vom 12.01.2017 dem BVwG zur Entscheidung vor, wo dieser am 16.01.2017 in der Gerichtsabteilung W267 einlangte.
Mit Schreiben vom 08.03.2017 übermittelte das BVwG den Parteien des Verfahrens das Länderinformationsblatt Afghanistan mit Stand 02.03.2017 und ein Gutachten von Mag. Zerka Mayar vom 27.07.2009 zum Thema Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan und räumte eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme ein.
Am 03.04.2017 fand vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, zu der der BF persönlich gemeinsam mit seinem bevollmächtigten Rechtsvertreter erschien. Die belangte Behörde nahm an der mündlichen Verhandlung entschuldigt nicht teil. Der BF gab dabei auf richterliche Befragung zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen das Gleiche an, was er bereits in seinen bisherigen Einvernahmen ausgesagt hatte.
Mit Schreiben vom 21.09.2018 übermittelte das BVwG den Parteien des Verfahrens das aktuelle Länderinformationsblatt zu Afghanistan mit Stand 11.09.2018 im Rahmen des Parteiengehörs und räumte eine Frist zur Stellungnahme von vier Wochen und zur Vorlage von medizinischen Befunden und weiteren Integrationsunterlagen ein. Weder der BF noch die belangte Behörde gaben eine Stellungnahme ab.
Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG vom 03.07.2019 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W267 abgenommen und der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen.
Die Rechtsvertretung des BF, die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, teilte mit Eingabe vom 01.08.2019 mit, dass deren Vollmacht mit Eintritt der Volljährigkeit des BF erloschen sei. Daher sei die Ladung für die mündliche Verhandlung am 25.09.2019 direkt an den BF und an seine Rechtsberatung, den Verein Menschenrechte Österreich (VMÖ) zu senden. Das BVwG übermittelte die Ladung am 02.08.2019 direkt an den BF und nachrichtlich an den VMÖ. Der VMÖ übermittelte am 04.09.2019 eine Vollmacht zur Vertretung des BF.
Das BVwG führte am 20.09.2019 eine Abfrage im Strafregister durch, wonach für den BF keine Verurteilungen aufscheinen.
Laut Speicherauszug aus dem Betreuungssystem, den das BVwG ebenfalls am 20.09.2019 abfragte, bezog der BF in der Zeit vom 20.07.2015 bis 01.01.2018 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.
Eine AJ-Web Abfrage vom 20.09.2019 ergab, dass der BF seit März 2017 bei verschiedenen Arbeitgebern als Arbeiter beschäftigt war. Aktuell ist er seit 24.06.2019 bei der XXXX tätig.
Zur Wahrung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes führte das BVwG am 25.09.2019 eine weitere mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des BF, seiner Rechtsvertreterin von VMÖ und eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu statt. Die belangte Behörde nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil. Im Zuge dieser Verhandlung gab der BF sein Fluchtvorbringen im Wesentlichen gleich wieder, wie er es bereits davor mehrfach schilderte. Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung das aktuelle Länderinformationsblatt in der Fassung vom 04.06.2019, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018, die EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 vor.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Zu Spruchpunkt A)
1. Feststellungen:
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX in Pakistan, in XXXX . Der BF ist Paschtune, seine Muttersprache ist Paschtu, und er ist afhhanischer Staatsbürger. Der BF ist Mitglied des Stammes der XXXX . Neben Paschtu spricht der BF auch Urdu, Dari und Deutsch auf Niveau A2. Der BF ist ledig und kinderlos. Er ist sunnitischer Moselm. Der BF besuchte ca. 6 Jahre lang unregelmäßig die Schule in Pkaistan.
Seine Familie stammt aus der Provinz Khost, aus der Region XXXX und dem Dorf XXXX . Der BF lebte ca. bis zum Jahr 2013 in Pakistan, danach kehrte er mit seiner Familie in sein Heimtadorf zurück.
Sein Vater heißt XXXX , seine Mutter heißt XXXX . Der BF hat sechs Schwestern, wovon zwei Schwestern, XXXX und XXXX , bereits verstorben sind. Die noch lebenden Schwestern heißen XXXX , XXXX , XXXX und XXXX . Der BF hat drei Brüder, XXXX , XXXX und XXXX. Drei seiner Schwestern sind in Afghanistan verheiratet, die jüngste Schwester lebt ebenso wie der jüngste Bruder des BF gemeinsam mit den Eltern im Heimatdorf. Die beiden älteren Brüder des BF flohen bereits ca. im Jahr 2013 aus Afghanistan. Einer der Brüder, XXXX , lebt in Italien, einer der Brüder, XXXX , hält sich entweder in der Türkei oder in Griechenland auf. Der BF hat Kontakt zu seiner Familie.
Die restliche Familie des BF lebt gemeinsam im Haus des Onkels mütterlicherseits, welcher diesen "Nanawatai" ermöglicht. Dieser Onkel bewirtschaftet die Landwirtschaft der Familie des BF mit den Nussbäumen. Er gibt die Hälfte der Erträgnisse aus dem Verkauf der landwtirtschaftlichen Güter an die Famile des BF, wovon diese lebt. Die wirtschaftliche Lage der Familie war gut.
Der BF war in seinem Herkunftsstaat kein Mitglied einer politischen Partei. Der BF ist in seinem Heimatstaat strafrechtlich unbescholten. Der BF ist Zivilist.
Der BF reiste ca. im Jahr 2014 aus Afghanistan aus und stellte am 19.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.
Der BF absolvierte Deutschkurse, zuletzt auf Niveau A2. Er spricht bereits sehr gut Deutsch. Er besuchte das Sprachcafe in XXXX und nahm an organisierten Ausflügen teil. Er spielt Cricket. Der BF ist subsidiär Schutzberechtigter, sein Status wurde zuletzt von der belangten Behörde bis zum 20.12.2019 verlängert.
Der BF bezog in der Zeit vom 20.07.2015 bis 01.01.2018 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.
Der BF war in der Zeit vom 24.03.2017 bis 23.05.2017 und vom 07.07.2017 bis 04.03.2018 bei der XXXX als Arbeiter beschäftigt. In der Zeit vom 12.03.2018 bis 23.03.2018 war er als Arbeiter beider XXXX beschäftigt. Er bezog in der Zeit vom 28.03.2018 bis 02.04.2018, vom 31.07.2018 bis 14.08.2018 und vom 04.02.2019 bis 06.03.2019. vom 11.03.2019 bis 31.03.2019, vom 13.04.2109 bis 28.04.2019 und vom 28.05.2019 bis 23.06.2019 XXXX . Er war vom 03.04.2018 bis 16.07.2018 bei der XXXX als Arbeiter beschäftigt. In der Zeit vom 15.08.2018 bis 06.01.2019 war der BF bei der XXXX als Arbeiter beschäftigt. Vom 01.04.2019 bis zum 12.04.2019 war er bei der XXXX als Arbeiter nach dem ASVG angemeldet. Vom 29.04.2019 bis 28.05.2019 war er als Arbeiter bei der XXXX beschäftigt. Seit 24.06.2019 ist der BF laufend bei der XXXX als Arbeiter beschäftigt. Der BF ist selbsterhaltungsfähig.
Der BF ist weitgehend gesund, er leidet an Magenproblemen und ist diesbezüglich in medizinischer Behandlung. Der BF ist strafrechtlich unbescholten.
1.2 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Vor mehr als 30 Jahren, noch lange vor der Geburt des BF, kam es zwischen seinem Onkel väterlicherseits namens XXXX , welcher der Bruder seines Vaters war, und dessen Großcousin namens XXXX wegen eines Grundstückes in der Provinz Khost zu einem Streit. Der Onkel des BF verletzte bei diesem Streit seinen Großcousin mit einem Messer, welcher daraufhin auf Anraten seiner Familie am Onkel des BF Rache nehmen wollte. Der Großcousin kam, nachdem seine Verletzungen verheilt waren, neuerlich zum Onkel des BF. Dieser verletzte seinen Großcousin lebensgefährlich mit dem Messer. Der Großcousin erlag einige Zeit später in einem Krankenhaus in XXXX , Pakistan, wohin in seine Verwandten gebracht hatten, seinen Verletzungen.
Die Familie des Großcousins veranlasste, dass dessen Leiche für 14 Tage im Krankenhaus gekühlt werde, damit dessen Familie noch vor dessen Bestattung Rache am Onkel des BF bzw. an dessen männlichen Familienmitgliedern nehmen kann. Der Onkel des BF, der kinderlos und ledig gewesen war, floh nach Pakistan, wo er einige Zeit später, noch bevor er heiraten und eigene Kinder bekommen konnte, an Krebs verstarb. Daher wollten die Mitglieder der Familie des XXXX Rache am Vater des BF, welcher der nächste männliche Verwandte dieses Onkels war, nehmen.
Der Vater des BF wurde kurze Zeit danach von Mitgliedern der Familie des XXXX nach einem Besuch der Dorfmoschee bedroht und mit einer Schusswaffe am Oberarm verletzt. Die Mutter des BF kam ihrem Mann zu Hilfe und brachte ihm ein Gewehr, welches jedoch nicht funktionierte. Es gelang dem Vater des BF sich in einem Loch zu verstecken, und konnte damit den Angreifern entkommen. Diese schossen in die Luft und schrien, dass sie Rache genommen hätten. Die Dorfbewohner dachten, dass jemand gestorben sei.
Dies erfuhr auch ein Onkel mütterlicherseits des BF, welcher den Vater des BF für ca. einen Monat zu sich nahm, damit dessen Wunden verheilen konnten. Nach diesem Monat flohen der Vater und die Mutter des BF nach Pakistan, genauer nach XXXX , wo sie jahrelang illegal lebten. Der BF und seine Geschwister sind in Pakistan geboren und aufgewachsen.
Die Familie musste, da sie sich ohne Aufenthaltstitel in Pakistan aufhielten, ca. im Jahr 2013 aus Pakistan wieder zurück nach Afghanistan ziehen. Deren Haus in ihrem Heimatdorf hatten sie bereits bei ihrer Ausreise aus Afghanistan vor Jahrzehnten dem Onkel mütterlicherseits überantwortet, welcher dafür Sorge trug, dass jemand auf dieses Haus Obacht gab.
Die Familie bat den Onkel mütterlicherseits, welcher im Heimatdorf des BF lebt, um "Nanawatai", und stellte sich damit unter dessen Schutz. Die beiden älteren Brüder des BF, XXXX und XXXX , flohen bereits kurz nach deren Heimkehr aus Afghanistan. Der BF und seine Familie konnten das Haus des Onkels aus Furcht vor deren Gegnern nicht verlassen, da der Schutz des Onkels nur in dessen Haus wirksam war.
Der BF wagte sich eines Tages gemeinsam mit seinem Cousin mütterlicherseits auf den Bazar, um Einkäufe zu erledigen. Jemand aus der Familie des XXXX sah den BF und wollte diesen am Rückweg in eine Falle locken. Der Onkel mütterlicherseits des BF wurde gewarnt, dieser warnte wiederum den BF, und den beiden jungen Männern gelang es dadurch, dass sie einen Umweg machten, heil wieder im Haus des Onkels anzukommen.
Die Familie des BF verbot diesem in weiterer Folge, das Haus des Onkels zu verlassen. Der BF entschloss sich daher nach einiger Zeit, aus Afghanistan zu flüchten, zumal er auch in keinem anderen Landesteil Afghanistans sicher leben konnte, da "Nanawatai" des Onkels dort für ihn nicht gilt, und es möglich ist, dass die Familie des XXXX den BF dort über kurz oder lang wird finden können.
Der BF ist als männliches Mitglied seiner Familie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Blutrache und Ehrenmord durch die Familie des XXXX betroffen.
1.3 Zur Situation im Falle der Rückkehr des Beschwerdeführers
Dem BF droht im Falle seiner Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr eines Eingriffes in seine körperliche Unversehrtheit durch die Familie des XXXX , welche Blutrache für dessen gewaltsamen Tod, welcher vom Onkel des BF verursacht wurde, nehmen wollen. Die afghanischen Behörden sind nicht dazu in der Lage, den BF ausreichend vor dieser physischen und/oder psychischen Gewalt durch die Familie des XXXX zu schützen. Dem BF steht keine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative in Afghanistan offen. Der BF ist zudem subsidiär Schutzberechtigter, weswegen eine innerstaatliche Flucht-und Schutzalternative allein schon aus diesem Grund nicht besteht.
1.4 Zur Situation im Herkunftsstaat
Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 04.06.2019 (LIB), in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR), in den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 (EASO), die im notorischen Dossier der Staatendokumentation, AfPak, Grundlagen der Stammes- & Clanstrukturen, Juli 2016 (AfPak) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:
1.4.1 Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren. (LIB)
1.4.1.1 Herkunftsprovinz Khost
Die Provinz Khost, die Herkunftsprovinz des BF, liegt in Südostafghanistan. Im Norden grenzt sie an Paktia und im Süden an Paktika; im Osten an die Durandlinie Nordwaziristans. Die Provinz besteht aus folgenden administrative Einheiten: Shamal. Maton/Khost und Laknu; und folgenden Distrikten: Sapiri/Spera, Dwa Manda/Domanda, Nader Shah Kot/Nadirshahkot, Ismail Khail/Mandozayi, Tani, Garbaz/Gurbuz, Alisher/Terezay, Sabari, Baak/Bak, Zazai Maidan/Jajimaydan, Musa Khail/Musakhel und Qalandar. Khost-Stadt ist die Hauptstadt der Provinz und befindet sich im Distrikt Maton/Khost. Im Süden der Provinz Khost gibt es einen militärischen Flughafen. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 593.691 geschätzt. In der Provinz leben sowohl verschiedene Teilstämme der Paschtunen als auch Kuchis.
Auf Druck von Unternehmern aus den Provinzen Paktia, Paktika und Khost wurde Mitte März 2018 die afghanische Pinienkern-Gesellschaft eingeweiht, welche die landwirtschaftliche Entwicklung und den Export von Agrarprodukten fördern soll. Die Weltbank genehmigte Mitte Juni 2017 ein Paket im Wert von 520 Mio. USD zur Implementierung von Entwicklungsprojekten in Afghanistan. Eine der Empfänger-Provinzen ist Khost. Auch gibt es unterschiedliche Projekte zur Förderung des Schulwesens.
In Khost gibt es ca. 200 aktive Fabriken unterschiedlicher Größe; jedoch sind nur 44 davon offiziell registriert. Produziert werden Kekse, Stoffe, Plastikmaterialien, Getränke usw. Im Distrikt Ismail Khail wurden Stromtürme und ein Umspannwerk errichtet.
In den vergangenen Jahren wurde eine befahrbare Straße nach Khost gebaut, welche durch die Provinzen Logar und Paktia führt, wo Talibangruppierungen stark präsent sind. Reisende müssen zahlreiche Checkpoints der afghanischen Armee passieren und Kontrollpunkte der Taliban meiden.
Im November 2017 wurde berichtet, dass die Provinz Khost Opium-frei sei.
Auch wenn Khost als umkämpfte Provinz Afghanistans gilt, wurde im März 2018 verlautbart, dass sie zu den relativ ruhigen Provinzen in Südostafghanistan zählt, aus der weniger Terrorismus-bezogene Vorfälle gemeldet werden. Nichtsdestotrotz sind Aufständische der Taliban und des Haqqani-Netzwerkes in einigen Distrikten aktiv. Die Aufständischen versuchen, terroristische Angriffe in Form von Autobomben, Straßenbomben und koordinierten Angriffen in Khost und anderen Provinzen Südostafghanistans durchzuführen.
In Khost befindet sich der Ghulam Khan Grenzübergang nach Nordwaziristan, der im Zuge einer militärischen Operation gegen die Taliban und andere Gruppierungen im Jahr 2014 geschlossen wurde. Dieser Grenzübergang wurde erst wieder Anfang März 2018 geöffnet; er gilt zudem als eine wichtige Handelsroute zwischen Pakistan und Afghanistan.
Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 81 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden in der Provinz Khost 181 zivile Opfer (41 getötete Zivilisten und 140 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von gezielten Tötungen und Selbstmordanschlägen. Dies bedeutet eine Steigerung von 21% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016.
In der Provinz werden Militäroperationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien. Luftangriffe werden durchgeführt, dabei werden unter anderem hochrangige Talibanführer getötet. Es kommt zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und afghanischen Sicherheitskräften. Selbstmordanschläge und andere Angriffe finden statt.
Die Präsenz der umstrittenen Khost Protection Force (KPF), einer von der CIA unterstützten und ausgebildeten lokalen afghanischen Miliz, ist einer der Gründe, weshalb die Provinz bis jetzt nicht unter die Kontrolle von Aufständischen geraten ist. Der KPF werden Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen; auch sollen von der KPF im Rahmen von Durchsuchungsoperationen Zivilisten getötet worden sein.
Die Provinz ist der Geburtsort von Jalaluddin Haqqani, dem Gründer des Haqqani-Netzwerkes. Das Haqqani-Netzwerk operiert in der Provinz Khost.
Teile der Provinz Khost waren in den letzten Jahren Schauplatz des von den Taliban geführten Aufstandes. Taliban-bezogene Vorfälle fanden im Laufe des Jahres 2017 in den Distrikten Sabri und Terezayi statt (LIB).
Khost zählt zu jenen Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau, und dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO).
1.4.2 Ethnische Minderheiten und Religion
In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.
Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.
Ethnische Paschtunen, wie es der BF ist, sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pasht. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.
Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden, und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. (LIB)
Nanawatai bedeutet Abbitte leisten; wörtlich heißt es "in jemandes Haus eintreten", um Abbitte zu tun. Hinter Nanawatai steht der Gedanke, dass sich jemand seinem Gegner vollständig unterwirft und ausliefert, ihn um Verzeihung bittet und um den Erlass des Badal, das von ihm eingefordert werden soll. Wer Abbitte leistet, muss dann um jeden Preis geschützt werden. Außerdem muss Flüchtigen vor der Justiz Zuflucht gewährt werden, bis die Lage nach dem Pashtunwali entschieden ist. Nanawatai kann auch eintreten, wenn die unterlegene Partei bereit ist, zum Haus der Sieger zu gehen und diese um Vergebung zu bitten.
Nanawatai wird jedoch in Fällen von Namoos (Bewahrung der Keuschheit der Frauen) abgelehnt oder, wenn jemand anderer als der Ehemann einer Frau beischlief.
Nanawatai wird auf vielerlei Art ausgeübt. Eine Methode ist es, dass derjenige, der um Nanawatai nachsucht, mit seinen unverschleierten Frauen, die den heiligen Koran über ihren Köpfen halten, zum Haus des Feindes geht, seine Schuld eingesteht und Verzeihung erbittet. Stammesangehörige, wie die Muslime überall, glauben stark an den heiligen Koran und halten es daher für respektlos, eine Bitte abzuschlagen, die mithilfe des heiligen Buches vorgetragen wird. Ferner werden Frauen von allen Paschtunen hochgeschätzt und daher wird eine von ihnen gestellte Bitte selten abgelehnt. Manchmal legt sich derjenige, der um Nanawatai nachsucht, in das Grab, das schon für einen Toten aus der engeren oder weiteren Familie des Feindes gegraben wurde. Eine andere Art, Nanawatai zu erbitten, ist durch eine Jirga von lokalen Ältesten, Würdenträgern und Ulemas (Religionsgelehrten), die den Bittsteller auf seine Bitte hin zum Haus des Feindes begleiten und in seinem Namen Verzeihung (Bakhal) erbitten. Die Bemühungen der Jirga werden immer honoriert und allein durch die Anwesenheit des Bittstellers im Haus des Feindes oder im Hujra entsteht eine versöhnliche Atmosphäre zur Wiederherstellung freundlicher Beziehungen. Manchmal wirft der Älteste seinen Turban dem Ältesten der geschädigten Familie vor die Füße und tut Abbitte. Die Bittsteller verbeugen sich zu Füßen des Feindes und schlachten später ein Schaf am Eingang des Hujra (Gemeindezentrum) als Symbol der Vergebung. Auf diese Gesten reagiert der Geschädigte positiv.
Aus dem Brauch des Nanawatai ergibt sich die Pflicht einen Schuldigen, Mörder oder Rebellen auch gegen den Staat und unabhängig von seinem Verbrechen zu schützen und zu verteidigen. Es ist eine Frage der Ehre, diejenigen, die unter dem Dach eines Paschtunen Zuflucht suchen, zu verteidigen.
So gibt es beispielsweise die Geschichte der Räuberbande, die ein Dorf angriff. Alle Dorfbewohner, Männer und Frauen, zogen hinaus, um Haus und Hof zu verteidigen. Nur eine alte Frau blieb zurück, weil sie wegen ihres hohen Alters nicht am Kampf teilnehmen konnte. Sie stand auf der Schwelle ihrer Hütte und beobachtete ungeduldig das Geschehen, an dem zwei ihrer Söhne aktiv beteiligt waren. Nach einem langen Kampf wurden die Räuber besiegt, aber zwei von ihnen suchten im Haus der alten Frau Zuflucht. Die Dorfbewohner verfolgten sie und waren völlig überrascht, als die alte Frau die Hände hob und ihnen den Zutritt zum Haus verwehrte. Einer der Dörfler trat auf sie zu und sagte: "Mutter, was machst Du da? Geh aus dem Weg. Weißt Du nicht, dass diese zwei Männer für den Tod Deiner beiden Söhne verantwortlich sind?" Die alte Frau antwortete voller Stolz: "Das mag wohl sein, aber sie sind zu mir gekommen und haben Nanawatai erbeten und ich kann es nicht zulassen, dass irgendjemand Hand an sie legt, so lange sie unter meinem Dach weilen". (AfPaK)
Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten, wie es der BF einer ist (LIB).
1.4.3 Blutrache und Blutfehde
Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat. (UNHCR)
1.4.4. Afghanische Sicherheitsbehörden
In Afghanistan gibt es drei Ministerien, die mit der Wahrung der öffentlichen Ordnung betraut sind: das Innenministerium (MoI), das Verteidigungsministerium (MoD) und das National Directorate for Security (NDS). Das MoD beaufsichtigt die Einheiten der afghanischen Nationalarmee (ANA), während das MoI für die Streitkräfte der afghanischen Nationalpolizei (ANP) zuständig ist.
Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Die ANP besteht aus der uniformierten afghanischen Polizei (AUP), der afghanischen Nationalpolizei für zivile Ordnung (ANCOP), der afghanischen Kriminalpolizei (AACP), der afghanischen Lokalpolizei (ALP), den afghanischen Kräften zum Schutz der Öffentlichkeit (APPF) und der afghanischen Polizei zur Drogenbekämpfung (CNPA). Auch das NDS ist Teil der ANDSF.
Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit aber auf der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Das Langzeitziel der ANP ist es weiterhin, sich in einen traditionellen Polizeiapparat zu verwandeln. Mit Stand 31. Jänner 2018 betrug das ANP-Personal etwa 129.156 Mann. Im Vergleich zu Jänner 2017 hat sich die Anzahl der ANP-Streitkräfte um 24.841 Mann verringert.
Quellen zufolge dauert die Grundausbildung für Streifenpolizisten bzw. Wächter acht Wochen. Für höhere Dienste dauern die Ausbildungslehrgänge bis zu drei Jahren. Lehrgänge für den höheren Polizeidienst finden in der Polizeiakademie in Kabul statt, achtwöchige Lehrgänge für Streifenpolizisten finden in Polizeiausbildungszentren statt, die im gesamten Land verteilt sind. Die standardisierte Polizeiausbildung wird nach militärischen Gesichtspunkten durchgeführt, jedoch gibt es Uneinheitlichkeit bei den Ausbildungsstandards. Es gibt Streifenpolizisten, die Dienst verrichten, ohne eine Ausbildung erhalten zu haben. Die Rekrutierungs- und Schulungsprozesse der Polizei konzentrierten sich eher auf die Quantität als auf den Qualitätsausbau und erfolgten hauptsächlich auf Ebene der Streifenpolizisten statt der Führungskräfte. Dies führte zu einem Mangel an Professionalität. Die afghanische Regierung erkannte die Notwendigkeit, die beruflichen Fähigkeiten, die Führungskompetenzen und den Grad an Alphabetisierung innerhalb der Polizei zu verbessern.
Die Mitglieder der ALP, auch bekannt als "Beschützer", sind meistens Bürger, die von den Dorfältesten oder den lokalen Anführern zum Schutz ihrer Gemeinschaften vor Angriffen Aufständischer designiert werden. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur lokalen Gemeinschaft wurde angenommen, dass die ALP besser als andere Streitkräfte in der Lage sei, die Sachverhalte innerhalb der Gemeinde zu verstehen und somit gegen den Aufstand vorzugehen. Die Einbindung in die örtliche Gemeinschaft ist ein integraler Bestandteil bei der Einrichtung der ALP-Einheiten, jedoch wurde die lokale Gemeinschaft in einigen afghanischen Provinzen diesbezüglich nicht konsultiert, so lokale Quellen. Finanziert wird die ALP ausschließlich durch das US-amerikanische Verteidigungsministerium und die afghanische Regierung verwaltet die Geldmittel.
Die Personalstärke der ALP betrug am 8. Februar 2017 etwa 29.006 Mann, wovon 24.915 ausgebildet waren, 4.091 noch keine Ausbildung genossen hatten und 58 sich gerade in Ausbildung befanden. Die Ausbildung besteht in einem vierwöchigen Kurs zur Benutzung von Waffen, Verteidigung an Polizeistützpunkten, Thematik Menschenrechte, Vermeidung von zivilen Opfern usw.
Die monatlichen Ausfälle der ANP im vorhergehenden Quartal betrugen mit Stand 26. Februar 2018 ca. 2%. Über die letzten zwölf Monate blieben sie relativ stabil unter 3% (LIB).
2. Beweiswürdigung
2.1 Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers
Die Angaben der persönlichen Verhältnisse des BF ergeben sich aus dem Akt, insbesondere auch aus der persönlichen Einvernahme des BF vor dem BVwG am 25.09.2019. Das BVwG erachtet diese Angaben als glaubhaft. Die Feststellungen den einzelnen beruflichen Tätigkeiten des BF in Österreich beruhen auf den vom BVwG am 20.09.2019 eingeholten Auszug aus dem AJ Web, die Feststellung zu seiner strafrechtlichen Unbescholtenheit beruhen auf dem Auszug aus dem Strafregister vom 20.09.2019 und zum Bezug der Leistungen aus dem Grundversorgungssystem aus dem Auszug aus dem Betreuungsinformationssystem vom 20.09.2019.
2.2 Zu den Feststellungen zur Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Das Vorbringen des BF hinsichtlich konkreten Anlasses des Verlassens des Herkunftslandes wird vom erkennenden Gericht - entgegen den Ausführungen in der Beweiswürdigung im Bescheid der belangten Behörde - als in sich schlüssig, nachvollziehbar und in Summe als glaubhaft angesehen. Der BF zeigte sich in den mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG offen und bemüht, an der Aufklärung des Sachverhaltes mitzuwirken und vermittelte insgesamt einen glaubwürdigen Eindruck. Das diesbezügliche Vorbringen des BF im Verlauf des Verfahrens ist schlüssig, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Strukturen in Afghanistan plausibel, hinreichend substantiiert, angereichert mit lebensnahen Details sowie im Einklang mit den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten.
Der BF zeichnete insbesondere in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 25.09.2019 in seinen Aussagen und seinem Antwortverhalten, das auch authentisch wirkende Emotionen zeigte, ein glaubhaftes Bild der geschilderten Vorfälle und vermittelte den Eindruck, die dargestellten Ereignisse, soweit diese seine Person betrafen, tatsächlich erlebt zu haben. Bei jenen Vorfällen, bei denen er nicht persönlich anwesend war, wies er auch ausdrücklich darauf hin, dass er darüber aus Erzählungen seines Vaters weiß. Daher ist es auch plausibel, dass er nicht jedes Detail der Vorfälle wissen kann, und dass er nur das mitteilen kann, was ihm über diese Vorfälle in der Vergangenheit berichtet wurde. Auffallend dabei ist, dass auch diese Erzählungen seines Vaters mit - für das gegenständliche Verfahren - unwichtigen Details, wie beispielsweise, dass das Gewehr, welches die Mutter des BF seinem Vater bei dem Übergriff vor Jahrzehnten bringen wollte, nicht funktionierte (vgl. S 9 der Niederschrift der Beschwerdeverhandlung), enthält. Dies war offensichtlich für die Eltern des BF ein derart dramatisches Ereignis, dass sie dieses auch ihren Kindern erzählten, was für die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des BF spricht.
Für die Glaubhaftigkeit der Aussagen des BF spricht auch, dass er während des gesamten Verfahrens in etwa die gleichen Angaben machte, und vor allem in den mündlichen Beschwerdeverhandlungen vor dem BVwG am 03.04.2017 und am 11.09.2018 sein Fluchtvorbringen zwar detaillierter ausführte, in den Kernpunkten jedoch nicht übersteigerte. Kleinere Widersprüche in seinen Aussagen sind dem geschuldet, dass der BF die Geschichte, aufgrund welcher die Blutrache den Ausgang nahm, selbst nur aus Erzählungen weiß. Er selbst ist zwar als Sohn der Familie seines Vaters einer Bedrohung durch die Verwandten des XXXX ausgesetzt, wie dies der geschilderte Vorfall am Bazar belegt. Er konnte aus dieser Situation fliehen und entschloss sich daraufhin zeitgerecht Afghanistan zu verlassen, bevor ihm etwas angetan wurde.
Das gesamte Fluchtvorbringen des BF ist plausibel im Lichte der zitierten Länderinformationen. Der BF erläuterte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 25.09.2019 erstmals den Begriff "Nanawatai", was so viel wie Abbitte leisten, aber auch unter Schutz stellen bedeutet. Für den BF selbst, welcher Mitglied eines großen paschtunischen Stammes ist, und mit der Tradition des Paschtuwali aufwuchs, ist dieser Begriff des "Nanawatai" eine Selbstverständlichkeit. Erst dadurch, dass er der erkennenden Richterin darlegen konnte, dass sich seine Familie unter den Schutz des Onkels mütterlicherseits stellte (vgl. S 12 der Niederschrift der Beschwerdeverhandlung vom 25.09.2019), wird klar, weswegen sowohl der Vater und der Bruder des BF, wie er selbst auch, das Haus des Onkels nicht verlassen konnten und der Vater des BF "nur zuhause liegt" (vgl. S 11 der Niederschrift der Beschwerdeverhandlung vom 25.09.2019). Es wird dadurch auch nachvollziehbar, weswegen der Vater und der Bruder, solange sie das Haus des Onkels mütterlicherseits des BF nicht verlassen, von den Angehörigen der Familie des XXXX nicht getötet werden können. Der BF und seine männlichen Verwandten wären, falls sie das Haus des Onkels verlassen und umziehen wollten, in den anderen Provinzen Afghanistans schutzlos den Verwandten des XXXX , welche dessen Tod auch nach Jahrzehnten noch rächen wollen, ausgeliefert. Der Umstand, dass derartige Blutfehden sich auch über Jahrzehnte hinziehen können, ist auch durch die zitierten Länderinformationen belegt.
Entgegen den Ausführungen der belangten Behörde konnten keine wesentlichen Widersprüche, aufgrund welcher die Glaubwürdigkeit der Person des BF zur Gänze in Frage zu stellen wäre, festgestellt werden. Wie der BF in seiner Beschwerde richtig ausführte, nahm die belangte Behörde bei seiner Einvernahme kaum auf dessen Minderjährigkeit Bedacht, und würdigte dessen Aussagen bei seiner Ersteinvernahme auch so, als ob sie ein erwachsener Asylwerber vorgebracht hätte. Es ist gerade auch unter Einbeziehung der zitierten Länderinformationen schlüssig und nachvollziehbar, dass der BF aus Furcht vor einer Ermordung durch die Angehörigen der Familie des XXXX Afghanistan verließ. Hätte er sich entschlossen zu bleiben, hätte er sein Leben im Haus und damit unter dem Schutz seines Onkels mütterlicherseits verbringen müssen, was ihm nicht zumutbar ist.
In einer Gesamtschau der Angaben des BF im Verlauf des Verfahrens und aus den dargelegten Erwägungen erscheint das Vorbringen des BF zu seiner Furcht vor der Familie des von seinem Onkel getöteten XXXX in Afghanistan insgesamt glaubhaft, plausibel, schlüssig und nachvollziehbar.
2.3 Zur Situation im Falle der Rückkehr des Beschwerdeführers
Die Feststellungen beruhen auf den Aussagen des BF im Asylverfahren unter Berücksichtigung der zitierten Länderinformationen, woraus hervorgeht, dass die afghanischen Behörden nicht in der Lage sind, den BF vor dem ihm drohenden Blutrache zu schützen.
Die Familie des getöteten XXXX gehört, wie der BF auch, dem großen Stamm der XXXX an. Es ist daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass deren Mitglieder in der Lage sind, über kurz oder lang zu erfahren, dass sich der BF wieder in Afghanistan aufhält, und er dann Gefahr läuft, aus Blutrache getötet zu werden. Ganz abgesehen davon hat der BF einen aufrechten Status als subsidiär Schutzberechtigter, so dass davon auszugehen ist, dass eine Rückkehr dem BF aktuell jedenfalls nicht zumutbar ist.
2.4 Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat
Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan beruhen auf den angeführten Quellen und wurden den Parteien des Verfahrens zur Kenntnis gebracht, es wurde allen Parteien mehrfach die Gelegenheit geboten, hierzu Stellung zu nehmen. Das zusätzlich in die Länderfeststellungen einbezogene Dossier der Staatendokumentation, AfPak, Grundlagen der Stammes- & Clanstrukturen vom Juli 2016 ist den Parteien des Verfahrens bekannt, weswegen von einer Übermittlung dieser Länderinformation angesehen wird. Diese Länderinformation beschreibt objektiv den für das gegenständliche Verfahren wesentlichen Begriff des "Nanawatai". Bei den genannten Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten entscheidungsrelevanten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.
3. Rechtliche Beurteilung
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß den §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Im Rahmen der asylrelevanten Fluchtgründe iSd Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK stellt das Anknüpfungsmerkmal der soziale Gruppe einen Auffangtatbestand dar, der eine sachlich nicht gerechtfertigte Repression umfasst, die ausschließlich Personen betrifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen und die somit nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten, sei es, dass dieses Merkmal unabänderlich ist, sei es, dass diesem Merkmal eine dermaßen bedeutsame Funktion für die Identitätsstiftung oder Gewissensbildung zukommt, dass den Gruppenmitgliedern ein Verzicht auf dieses Merkmal nicht zugemutet werden kann (vgl. VwGH 20.10.1999, 99/01/0197; VwSlg. 17.225 A/2007, jeweils mwN; vgl. auch Art 10 Abs 1 lit d Statusrichtlinie).
Ein unabänderliches Merkmal, das den Verfolgungstatbestand der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe erfüllt, kann auch die Zugehörigkeit zu einem Familienverband darstellen (s. VfGH 20.2.2014, U1067/2012) und zwar unabhängig davon, ob die Zugehörigkeit zu einem Familienverband den Grund für eine Verfolgung von staatlicher Seite darstellt (s. etwa VwSlg. 15.743 A/2001; VwGH 24.6.2004, 2002/20/0165) oder ob auf Grund der Angehörigeneigenschaft Verfolgung von privater Seite droht, der Staat aber nicht fähig oder willig ist, dem Verfolgten Schutz zu gewähren (s. etwa VwGH 14.1.2003, 2001/01/0508; 16.12.2010, 2007/20/1490). Eine derartige asylrelevante Verfolgung ist gegeben, wenn eine Person auf Grund ihrer Angehörigeneigenschaft zu einem Familienmitglied verfolgt wird, dem seinerseits aus anderen Konventionsgründen, etwa wegen seiner politischen Gesinnung, Verfolgung droht, mithin die Verfolgung auf das Familienmitglied "durchschlägt" (vgl. zur so genannten Sippenhaftung etwa VwSlg. 15.743 A/2001; VwGH 14.1.2003, 2001/01/0508). Der Fluchtgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie kann aber auch dann erfüllt sein, wenn der einzige Grund für die Verfolgung einer Person ihre Angehörigeneigenschaft zu einem Familienmitglied ist, bei dem selbst entweder gar keine asylrelevante Verfolgung oder ebenfalls nur die Zugehörigkeit zum Familienverband als Anknüpfungsmerkmal iSd GFK vorliegt (vgl. VwGH 21.3.2007, 2006/19/0083 bis 0085 mwN; 4.3.2008, 2006/19/0358; 26.5.2009, 2007/01/0077; 16.12.2010, 2007/20/1490; vgl. auch Aleinikoff, Protected characteristics and social perceptions: an analysis of the meaning of 'membership of a particular social group', in: Feller/Türk/Nicholson [Hrsg.], Refugee Protection in International Law, 2003, 263 [306]).
Eine derartige Konstellation, in der die Angehörigeneigenschaft bei sämtlichen verfolgten Familienmitgliedern das einzige Anknüpfungsmerkmal iSd GFK ist, liegt vor, wenn sich die private Verfolgung auf Grund eines Verhaltens, das die Verfolger einem Familienmitglied anlasten, gegen einen unbeteiligten Dritten bloß wegen dessen Abstammung richtet (vgl. zur so genannten Blutrache VwGH 26.2.2002, 2000/20/0517; 22.8.2006, 2006/01/0251).
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/011; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031). Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; VwGH 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; vgl. auch VwGH 16.02.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.
Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. dazu VwGH 09.03.1999, 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99720/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183; VwGH 18.02.1999, 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, 94/18/0263; VwGH 01.02.1995, 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht - diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann -, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).
Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. "inländische Fluchtalternative" vor. Der Begriff "inländische Fluchtalternative" trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).
Der BF hat glaubhaft dargelegt, dass er als Mitglied der Familie seines Onkels väterlicherseits bzw. seines Vaters der Gefahr ausgesetzt ist, von den Mitgliedern der Familie des XXXX , welchen sein Onkel väterlicherseits vor Jahrzehnten tötete, aus Gründen der Blutrache getötet zu werden.
Zwar handelt es sich bei der Familie des XXXX nicht um einen staatlichen Akteur, sondern eindeutig um privaten Verfolger, doch kann angesichts der angeführten Berichtslage nicht davon ausgegangen werden, dass die staatlichen Sicherheitsbehörden ausreichend schutzfähig wären, um die den BF von seinen Verfolgern ausgehende Verfolgungsgefahr genügend zu unterbinden. Aus den Länderberichten lässt sich ableiten, dass in Afghanistan derzeit - insbesondere außerhalb der Städte - kein funktionierender Sicherheits- oder Justizapparat besteht. Fallbezogen ist daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die staatlichen Einrichtungen Afghanistans nicht in der Lage und auch nicht gewillt wären, den BF angesichts des ihn treffenden Verfolgungsrisikos in ausreichendem Maß zu schützen.
Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH kommt einer von privaten Personen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einen Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat den Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra2014/18/0112, VwGH 16.11.2016, Ra 2016/18/0233).
Der BF stützt sich mit seinem Antrag auf internationalen Schutz auf einen Konventionsgrund, genauer jenem der sozialen Gruppe der Familie. Dadurch, dass der BF und dessen gesamte männlichen Familienmitglieder mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Rahmen der Blutrache durch die Familie des getöteten XXXX ausgesetzt sind, ist davon auszugehen, dass der BF weder in seine Herkunftsprovinz Khost, noch in eine andere Provinz Afghanistans zurückkehren kann, ohne dass ihn seine Verfolger werden finden können, sodass er in ganz Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt wäre.
Zwar stellen diese Umstände bzw. diese zu erwartenden Diskriminierungen nicht notwendiger Weise Eingriffe von staatlicher und damit von "offizieller" Seite dar, zumal sie von der gegenwärtigen afghanischen Regierung nicht angeordnet sind. Da das Asylrecht als Ausgleich für fehlenden staatlichen Schutz konzipiert ist (VwGH 13.11.2001, Zl. 2000/01/0098), kommt es aber nicht darauf an, ob die Verfolgungsgefahr vom Staat bzw. von Trägern der Staatsgewalt oder von Privatpersonen (zB von Teilen der lokalen Bevölkerung) ausgeht, sondern vielmehr darauf, ob im Hinblick auf eine bestehende Verfolgungsgefahr ausreichender Schutz besteht (vgl. dazu VwGH 16.04.2002, Zl. 99/20/0483; 14.10.1998, Zl. 98/01