TE Bvwg Erkenntnis 2019/10/7 W250 2153695-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.10.2019
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Entscheidungsdatum

07.10.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W250 2153695-1/11E

W250 2153696-1/11E

W250 2187537-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde von 1.) XXXX , geb. am XXXX , 2.) XXXX , geb. am XXXX , und 3.) mj. XXXX , geb. am XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl

1.) vom 24.03.2017 zur Zl. XXXX , 2.) vom 24.03.2017 zur Zl. XXXX und 3.) vom 19.01.2018 zur Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.08.2019, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und es wird XXXX gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

XXXX und XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin, beide Staatsangehörige Afghanistans, reisten gemeinsam in das Bundesgebiet ein und stellten am 17.11.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind traditionell miteinander verheiratet.

2. Am 17.11.2015 fand die niederschriftliche Erstbefragung des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Sie gaben beide im Wesentlichen an, sich im Iran kennengelernt und zwei Jahre lang eine Beziehung geführt zu haben. Die Familie der Zweitbeschwerdeführerin habe sich geweigert dem Erstbeschwerdeführer ihre Tochter - die Zweitbeschwerdeführerin - zur Frau zu geben als dieser um ihre Hand angehalten habe. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin seien deshalb davongelaufen und hätten heimlich geheiratet. Auf Vorschlag der Mutter seien der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin zurück nach Hause gegangen, wo die Brüder der Zweitbeschwerdeführerin jedoch zunächst verbal und mit Messer und Stöcken bewaffnet auf sie losgegangen seien. Die Zweitbeschwerdeführerin sei bei der Flucht gestolpert und deshalb von ihren Brüdern geschlagen und zwei Tage eingesperrt worden. Der Erstbeschwerdeführer sei weggelaufen und habe seine Ehefrau liegen lassen. Zwei Tage später habe er sie aus dem Keller der Familie der Zweitbeschwerdeführerin befreit. Sie seien dann zu einem Freund des Erstbeschwerdeführers gegangen, der ihre Ausreise organisiert habe.

3. Am 24.10.2016 fand eine Einvernahme des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge als Bundesamt bezeichnet) statt, bei der die Erst- sowie die Zweitbeschwerdeführerin im Wesentlichen angaben, dass die Brüder der Zweitbeschwerdeführerin gegen die Heirat des Erst- und der Zweitbeschwerde-führerin gewesen seien, weil diese ihren Cousin hätte heiraten sollen. Der Erst- und die Zweit-beschwerdeführerin seien deshalb gemeinsam weggelaufen und hätten sich bei einem Freund des Erstbeschwerdeführers versteckt. Da die Brüder der Zweitbeschwerdeführerin in einem Telefonat mit dem Erstbeschwerdeführer ihre Zustimmung zur Heirat gegeben hätten, seien der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin wieder in ihr Heimatdorf im Iran zurückgekehrt. Die Brüder seien jedoch mit Holzstöcken bzw. Eisenstangen bewaffnet gewesen. Dem Erstbeschwerdeführer sei die Flucht gelungen, die Zweitbeschwerdeführerin sei jedoch von ihren Brüdern geschlagen und im Keller festgehalten worden. Die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin habe dem Erstbeschwerdeführer geholfen die Zweitbeschwerde-führerin zu befreien. Sie seien wieder zum Freund des Erstbeschwerdeführers geflohen und hätten dort geheiratet bevor sie den Iran verlassen haben.

4. Das Bundesamt wies die Anträge des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz mit oben genannten Bescheiden sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen den Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt III.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass keine asylrelevante individuelle Verfolgungsgefährdung in Afghanistan zu erkennen sei. Es drohe dem Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. So stünde ihnen in Afghanistan ein Onkel und eine Tante der Zweitbeschwerdeführerin sowie Cousins des Erstbeschwerdeführers als soziales Auffangnetz zur Verfügung. Zudem könnten sie mit finanzieller Unterstützung durch ihre Kernfamilien aus dem Iran rechnen sowie Unterstützung von Seiten humanitärer Organisationen in Anspruch nehmen. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin verfügten in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.

5. Gegen diese Bescheide wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und vorgebracht, dass der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer Beziehung bzw. unerlaubten Heirat durch den in Afghanistan lebenden Onkel der Zweitbeschwerdeführerin von der Blutrache der Brüder der Zweitbeschwerdeführerin betroffen seien. Zudem sei für die Zweitbeschwerdeführerin eine Zwangsverheiratung vorgesehen gewesen. Aus den zitierten Länderberichten ergäbe sich, dass in Afghanistan vor- und außereheliche Beziehungen als Zina-Vergehen (Geschlechtsverkehr zwischen unverheirateten Personen) sowohl im Strafgesetz als auch gemäß der Scharia als schweres Verbrechen bestraft würden. Den Beschwerdeführern würde somit eine aktuelle Verfolgungsgefahr asylrelevanter Intensität wegen Blutrache und unterstellter politischer Gesinnung drohen, da sie nicht willens seien sich den staatlichen Normen zu unterwerfen. Zudem sei die Zweitbeschwerdeführerin allein aufgrund ihres Geschlechts einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Der Erstbeschwerdeführer wäre auch aufgrund der Vorgeschichte seiner Familie in Afghanistan der Gefahr der Blutrache ausgesetzt. Zudem seien sie aufgrund ihres iranischen Akzents und ihrer iranischen Lebensweise einer erhöhten Gefahr in Afghanistan ausgesetzt. Dem Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin hätte aufgrund der schlechten Lage in Afghanistan zumindest subsidiärer Schutz gewährt werden müssen. Die Rückkehrentscheidung hätte aufgrund der Bemühungen des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin für dauerhaft unzulässig erklärt werden können. Unter einem legten sie Unterlagen betreffend ihre Integration in Österreich vor.

6. Am XXXX wurde der Drittbeschwerdeführer in Österreich geboren. Er ist der Sohn des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin. Für ihn wurde am 19.12.2017 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Mit Bescheid vom 19.01.2018 wurde der Antrag des Drittbeschwerdeführers vom Bundesamt sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen und ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den Drittbeschwerde-führer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass für ihn keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht worden seien. Das Vorbringen seiner Eltern habe sich als unglaubhaft erwiesen. Es drohe dem Drittbeschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Da keinem anderen Familienmitglied der Status des Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, komme dies auch für den Drittbeschwerdeführer nicht in Betracht. Der Drittbeschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.

Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und vorgebracht, dass der Bescheid ohne vorherige Einvernahme der Mutter als gesetzlicher Vertretung des Drittbeschwerdeführers erlassen worden sei. Sie sei auch nicht zur Stellungnahme zum Antrag ihres Sohnes auf internationalen Schutz aufgefordert worden, was einen Verstoß gegen das Recht auf Parteiengehör und somit einen wesentlichen Verfahrensmangel darstelle.

7. Mit Dokumentenvorlage vom 06.03.2019 wurden Unterlagen betreffend die Integration des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.08.2019 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Die Verfahren der Beschwerdeführer wurden zur gemeinsamen Verhandlung verbunden. Ein Vertreter des Bundesamtes nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde dem Bundesamt übermittelt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist mit der Zweitbeschwerdeführerin seit Oktober 2015

traditionell verheiratet (W250 2153695-1 = BF 1 AS 39; W250

2153696-1 = BF 2 AS 41 f; Verhandlungsprotokoll vom 12.08.2019 = OZ

9, S. 8, 22). Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben gemeinsam einen Sohn, den am XXXX in Österreich geborenen Drittbeschwerdeführer XXXX .

Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Hazara an und bekennen sich zum muslimisch-schiitischen Glauben (BF 1 AS 1, 38; BF 2 AS 1, 40; OZ 9, S. 8, 22).

Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Provinz Helmand, im Distrikt XXXX im Dorf XXXX geboren und ist dort zunächst aufgewachsen. Als er ca. 10 Jahre alt war, sind seine Eltern mit ihm und seinen Geschwistern in den Iran gezogen (BF 1 AS 1, 37 f; OZ 9, S. 8, 10). Der Erstbeschwerdeführer hat vier Jahre lang im Iran eine afghanische Abendschule besucht (BF 1 AS 42; OZ 9, S. 9).

Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin stammt aus der Provinz Daikundi, ihre Mutter aus der Provinz Ghazni und dem Distrikt XXXX (OZ 9, S. 23). Die Zweitbeschwerdeführerin wurde im Iran, in XXXX geboren und ist dort gemeinsam mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern (drei Brüder und eine Schwester) aufgewachsen (BF 2 AS 1, 39 f, 45; OZ 9, S. 22). Die Zweitbeschwerdeführerin hat acht Jahre lang eine offizielle Schule im Iran besucht. Nach dem Tod ihres Vaters haben ihre Brüder ihr den weiteren Schulbesuch verboten (BF 2 AS 44; OZ 9, S. 32). Die Zweitbeschwerdeführerin hat dann gemeinsam mit ihrer Mutter zuhause als Teppichknüpferin gearbeitet (BF 2 AS 44; OZ 9, S. 22 f).

Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin reisten im Familienverband unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellten am 17.11.2015 bzw. den Drittbeschwerdeführer betreffend am 19.12.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz (BF 1 AS 1 ff; BF 2 AS 1 ff; W250 2187537-1 = BF 3 AS 1 ff).

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

1.2.1. Es kann nicht festgestellt werden, dass es Grundstücksstreitigkeiten zwischen dem Vater des Erstbeschwerdeführers und dessen Brüdern - den Onkeln des Erstbeschwerdeführers - gegeben hat. Weder der Vater des Erstbeschwerdeführers noch der Erstbeschwerdeführer wurden von seinen Onkeln bedroht.

Selbst bei Wahrunterstellung dieses Vorbringens, besteht keine Gefährdung des Erstbeschwerdeführers durch seinen Onkel väterlicherseits.

1.2.2. Aus den Gründen, die zur Ausreise der Eltern der Zweitbeschwerdeführerin aus Afghanistan geführt haben, kann keine Gefahr von physischer und/oder psychischer Gewalt für die Zweitbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan abgeleitet werden.

1.2.3. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin verließen den Iran aufgrund der Probleme mit den im Iran lebenden Brüdern der Zweitbeschwerdeführerin, die nicht mit der Heirat des Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin einverstanden waren.

Von einer Rückkehr der Beschwerdeführer nach Afghanistan erlangen weder die Brüder der Zweitbeschwerdeführerin noch deren Onkel oder sonstige Verwandte Kenntnis. Den Beschwerdeführern droht in Afghanistan keine staatliche Verfolgung oder Verfolgung durch Familienmitglieder der Beschwerdeführer aufgrund ihrer Heirat.

1.2.4. Darüber hinaus droht den Beschwerdeführern keine konkrete und individuelle physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan wegen ihrer ethnisch-religiösen Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara. Angehörige der Religionsgemeinschaft der Schiiten oder der Volksgruppe der Hazara sind in Afghanistan allein aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit keiner physischen und/oder psychischen Gewalt ausgesetzt.

1.2.5. Dem Drittbeschwerdeführer ist es weder unmöglich noch unzumutbar, sich in das afghanische Gesellschaftssystem zu integrieren noch droht ihm aufgrund seines Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation der Kinder in Afghanistan physische und/oder psychische Gewalt.

1.2.6. Die Beschwerdeführer sind allein aufgrund der Tatsache, dass sie sich seit dem Kindesalter im Iran aufgehalten haben (Erstbeschwerdeführer) bzw. im Iran geboren worden sind (Zweitbeschwerdeführerin) und sich in der Folge in Europa aufgehalten haben bzw. in Europa geboren worden sind (Drittbeschwerdeführer), in Afghanistan keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt. Afghanischen Staatsangehörigen, die aus dem Iran bzw. Europa nach Afghanistan zurückkehren, droht in Afghanistan allein aufgrund ihres Aufenthaltes außerhalb Afghanistans keine psychische und/oder physische Gewalt.

1.2.7. Die Zweitbeschwerdeführerin ist eine junge auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die Zweitbeschwerdeführerin besucht in Österreich einen Vorbereitungslehrgang zum Pflichtschulabschluss während der Erstbeschwerdeführer auf den gemeinsamen Sohn aufpasst. Sie verfügt über gute Deutschkenntnisse, trifft sich in Österreich mit Freunden, kleidet, frisiert und schminkt sich nach westlicher Mode und will ihre Kinder frei von Zwängen erziehen sowie in der Zukunft selbst eine Ausbildung machen bzw. einer Arbeit nachgehen. Die Zweitbeschwerdeführerin lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach dem konservativ-afghanischen Wertebild zu leben, wobei auch ihr Ehemann ihr westliches Leben unterstützt.

Vor diesem Hintergrund würde die Zweitbeschwerdeführerin im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.3.1. Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 23.11.2018 (LIB) wiedergegeben:

Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (Länderinformationsblatt für Afghanistan vom 29.06.2018 mit Kurzinformation vom 04.06.2019 - LIB 04.06.2019, S.65).

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019 (1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (LIB 04.06.2019, S.13).

Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (LIB 04.06.2019, S.13).

Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (LIB 04.06.2019, S.13 f).

Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst ca. 53,8% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9% der Distrikte sind umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (LIB 04.06.2019, S.23).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht. In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt. Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheits-operationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden; auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (LIB 04.06.2019, S.69).

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB 04.06.2019, S.69). Die Auflistung der high-profile Angriffe zeigt, dass die Anschläge in großen Städten, auch Kabul, hauptsächlich im Nahebereich von Einrichtungen mit Symbolcharakter (Moscheen, Tempel bzw. andere Anbetungsorte), auf Botschaften oder auf staatliche Einrichtungen stattfinden. Diese richten sich mehrheitlich gezielt gegen die Regierung, ausländische Regierungen und internationale Organisationen (LIB 04.06.2019, S.69 ff).

Provinz Helmand:

Die Provinz Helmand zählte in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 zu den volatilen Provinzen des Südens, weil aufständische Gruppierungen in einer Anzahl von Distrikten aktiv waren und Angriffe ausführten. Im Februar 2018 konnten die afghanischen Kräfte, unterstützt von US-amerikanischen Truppen, an Boden gewinnen, wenngleich die Taliban rund die Hälfte der Provinz kontrollierten (LIB 04.06.2019, S.139).

Sangorian, eine regierungsnahe Milliz mit etwa 500 - 1.000 Kämpfern, wurde durch den afghanischen Geheimdienst (NDS - Directorate of National Security) gegründet, um die Aufständischen Gruppierungen zu unterlaufen und sie intern zu bekämpfen. Die Sangorian sehen sich selbst dafür verantwortlich, Versuche der Taliban, die Provinzhauptstadt Lashkar Gah einnehmen zu wollen, zu vereiteln (LIB 04.06.2019, S.139).

Im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) (15.12.2017-15.2.2018) haben regierungsfeindliche Elemente auch weiterhin Druck auf die afghanischen Sicherheitskräfte ausgeübt, indem koordinierte Angriffe auf Kontrollpunkte der afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte in den Provinzen Helmand, Kandahar, Nimroz, Kunduz, Ghazni und Farah verübt wurden (LIB 04.06.2019, S.139).

Helmand ist bekannt dafür, eine Festung der Taliban zu sein; sie kontrollieren oder beeinflussen weite Teile der afghanischen Provinz; speziell die nördlichen und südlichen Gegenden der Provinz Helmand. Diese waren lange Zeit ein Schlachtfeld, speziell die Gegend um den Distrikt Sangin (LIB 04.06.2019, S.141).

Für die Talibanaufständischen war das Jahr 2017 eines der tödlichsten Jahre in Helmand: So kamen 2.000 Taliban ums Leben. Auch die anhaltenden militärischen Operationen gegen die Taliban haben diese geschwächt. Nichtsdestotrotz rekrutieren die Taliban nach wie vor lokale Jugendliche. Arbeitsmöglichkeiten sind gering, deswegen schließen sich die Menschen den Taliban an (LIB 04.06.2019, S.141).

Eine Nichtregierungsorganisation im Bildungsbereich unterzeichnete mit den Taliban in Helmand eine Absichtserklärung (memorandum of understanding - MoU), in der es um eine Lösung im Bildungsbereich geht. Beide Seiten einigten sich auf den Schutz von Madrassen, Schulen und anderen Gebäuden, sowie die Eröffnung von geschlossenen Schulen und Madrassen. Die Bildungsabteilung der Provinz war nicht involviert; dies wurde vom Sprecher des Gouverneurs bestätigt (LIB 04.06.2019, S.141).

Religionsfreiheit

Etwa 99,7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84,7-89,7% Sunniten. Schätzungen zufolge, sind etwa 10-19% der Bevölkerung Schiiten. Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha'i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus (LIB 04.06.2019, S.309).

Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt (LIB 04.06.2019, S.311).

Schiiten

Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15% geschätzt. Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara. Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan leben einige schiitische Belutschen. Afghanische Schiiten und Hazara neigen dazu, weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein als ihre Glaubensbrüder im Iran (LIB 04.06.2019, S.312).

Obwohl einige schiitischen Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demographischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiere; auch vernachlässige die Regierung in mehrheitlich schiitischen Gebieten die Sicherheit. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen (LIB 04.06.2019, S.312).

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime ca. 30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB 04.06.2019, S.312).

Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS (LIB 04.06.2019, S.312 f).

Es wurde zwar eine steigende Anzahl von Angriffen gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige registriert, wovon ein Großteil der zivilen Opfer schiitische Muslime waren. Die Angriffe haben sich jedoch nicht ausschließlich gegen schiitische Muslime, sondern auch gegen sunnitische Moscheen und religiöse Führer gerichtet (LIB 04.06.2019, S.69 ff).

Angehörige der Schiiten sind in Afghanistan allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt.

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34.1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen (LIB 04.06.2019, S.319).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet.". Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es werden keine bestimmten sozialen Gruppen ausgeschlossen. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (LIB 04.06.2019, S.319 f).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB 04.06.2019, S.320).

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden; andererseits gehören ethnische Hazara hauptsächlich dem schiitischen Islam an (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten (LIB 04.06.2019, S.321).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können (LIB 04.06.2019, S.322).

Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban- Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert (LIB 04.06.2019, S.322).

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. In der afghanischen Gesellschaft existiert die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Mitglieder der Hazara-Ethnie beschweren sich über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. Die Arbeitsplatzanwerbung erfolgt hauptsächlich über persönliche Netzwerke; Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke (LIB 04.06.2019, S.322 f).

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen (LIB 04.06.2019, S.323).

Angehörige der Hazara sind in Afghanistan allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt.

Medizinische Versorgung

Es gibt keine staatliche Krankenkasse und die privaten Anbieter sind überschaubar und teuer, somit für die einheimische Bevölkerung nicht erschwinglich. Eine begrenzte Zahl staatlich geförderter öffentlicher Krankenhäuser bieten kostenfreie medizinische Versorgung. Alle Staatsbürger haben Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Kosten für Medikamente in diesen Einrichtungen weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e-Sharif, Herat und Kandahar. Medikamente sind auf jedem Markt in Afghanistan erwerblich, Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes (LIB 04.06.2019, S.362 f).

Frauen

Die Lage afghanischer Frauen hat sich seit dem Ende des Talibanregimes etwas verbessert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach. Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser. Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden. Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (LIB 04.06.2019, S.328).

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt. Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung. Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig (LIB 04.06.2019, S.328 f).Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an (LIB 04.06.2019, S.330).

Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Frauen sind einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (LIB 04.06.2019, S.330).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent, weshalb viele Frauen im ländlichen Afghanistan, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen (LIB 04.06.2019, S.331).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden) (LIB 04.06.2019, S.335).

Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (LIB 04.06.2019, S.335). Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen, doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So kann eine alleinstehende Frau selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten hält, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. Tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt (LIB 04.06.2019, S.337).

Kinder

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika). Landesweit gehen in den meisten Regionen Mädchen und Buben in der Volksschule in gemischten Klassen zur Schule; erst in der Mittel- und Oberstufe werden sie getrennt (LIB 04.06.2019, S.343).

Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zur Unterstufe der Sekundarbildung Pflicht (die Grundschule dauert sechs Jahre und die Unterstufe der Sekundarbildung drei Jahre). Das Gesetz sieht kostenlose Schulbildung bis zum Hochschulniveau vor (LIB 04.06.2019, S.343).

Aufgrund von Unsicherheit, konservativen Einstellungen und Armut haben Millionen schulpflichtiger Kinder keinen Zugang zu Bildung - insbesondere in den südlichen und südwestlichen Provinzen. Manchmal fehlen auch Schulen in der Nähe des Wohnortes. Jedoch wird durch UNICEF in Dorfgemeinschaften, die mehr als drei Kilometer von einer ordentlichen Schule entfernt sind eine Dorfschule mit lediglich einer Klasse errichtet um auch diesen Kindern Zugang zu Bildung zu ermöglichen. In von den Taliban kontrollierten Gegenden sind gewalttätige Übergriffe auf Schulkinder, insbesondere Mädchen, ein weiterer Hinderungsgrund beim Schulbesuch. Taliban und andere Extremisten bedrohen und greifen Lehrer/innen sowie Schüler/innen an und setzen Schulen in Brand (LIB 04.06.2019, S.343).

1.3.2. Auszug aus der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 12.06.2015 betreffend die Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen (u.a. mögliche Ausgrenzung oder Belästigungen) sowie das Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren (a-9219):

"[...]

[...] Darin gehen die Autoren auf die Motivationen und die Lage von afghanischen Flüchtlingen im Iran ein, die nach Afghanistan zurückkehren. Wie der Artikel anführt, würden RückkehrerInnen bei ihrer Ankunft in Afghanistan nach einer Abwesenheit von sieben bis 30 Jahren bemerken, dass sie weitgehend von den Verwandtschafts-, Geschäfts- und Patronage-Beziehungen, die sich in den vergangenen zehn Jahren entwickelt hätten, ausgeschlossen seien. So würden RückkehrerInnen beispielsweise berichten, dass sie keine Jobs über Verwandte oder Freunde bekommen könnten, da sie keinem Patronage-Netzwerk mit Zugang zu Ressourcen angehören würden. Dies führe nicht nur dazu, dass ihr neues Leben wirtschaftlich unhaltbar sei, sondern auch zu vielen Anzeichen einer Identitätskrise bei den RückkehrerInnen. Nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan seien sie Fremde im eigenen Land, die Mühe hätten, ihre schwachen sozialen Beziehungen, die sich weder materiell auszahlen noch Schutz bieten würden, neu zu beleben [...]

Die Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU), eine unabhängige Forschungsorganisation mit Sitz in Kabul, geht in einem Bericht vom Juli 2009 auf die Erfahrungen junger AfghanInnen bei ihrer Rückkehr aus Pakistan und dem Iran ein. Wie der Bericht anführt, sei die soziale Ablehnung durch AfghanInnen, die während der Konfliktjahre in Afghanistan geblieben seien, eine schwierige Erfahrung für einige RückkehrerInnen der zweiten Generation gewesen. Es gebe zwei wichtige Gründe, warum Flüchtlinge der zweiten Generation bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland mit dieser sozialen Exklusion konfrontiert seien: Zum einen könnten einige Flüchtlinge als "Eindringlinge" in die afghanische Gesellschaft angesehen werden, zum zweiten könnte es sich um das erste Mal handeln, dass sie als AfghanInnen mit tiefgreifenden ethnischen und Stammes-Unterschieden unter ihren Landsleuten konfrontiert würden. Rund ein Viertel der befragten RückkehrerInnen, die meisten aus dem Iran, aber auch einige aus Pakistan, hätten berichtet, dass sie bzw. Familienangehörige oder Freunde von anderen AfghanInnen wegen ihrer Rückkehr aus einem anderen Land geächtet worden seien. Bei den RückkehrerInnen, die dies berichtet hätten, habe es sich vor allem um alleinstehende, gebildete und weibliche Personen gehandelt. Zurückgekehrte Frauen seien relativ einfach anhand ihrer Kleidung auszumachen und ihre Erscheinung und ihr Verhalten könnten im Widerspruch zu den lokalen kulturellen Erwartungen und sozialen Codes stehen. Bei diesen RückkehrerInnen handle es sich eindeutig um "AußenseiterInnen", die leichte Ziele für Schikanierungen seitens anderer AfghanInnen darstellen würden. Insbesondere dann, wenn Flüchtlinge der zweiten Generation sich sehr stark in die pakistanische oder iranische Lebensweise integriert hätten und nicht wüssten, was für AfghanInnen "normal" sei, bzw. sich nicht dementsprechend verhalten könnten, könnten sie als "verwöhnt", "Nichtstuer" oder "nicht afghanisch" betrachtet werden.

Im Großen und Ganzen scheine es eine generelle negative Einstellung gegenüber einigen RückkehrerInnen zu geben, denen von einigen in Afghanistan verbliebenen Personen vorgeworfen werde, ihr Land im Stich gelassen zu haben, dem Krieg entflohen zu sein und im Ausland ein wohlhabendes Leben geführt zu haben. Einer der Gründe für diese Vorwürfe sei Angst im Zusammenhang mit der Konkurrenz um Ressourcen. RückkehrerInnen der zweiten Generation, bei denen es wahrscheinlich sei, dass sie sich in einer besseren sozioökonomischen Lage befinden würden als Personen, die in Afghanistan geblieben seien, würden von ihren Landsleuten, die ihr "Territorium" in den Bereichen Bildung, Arbeit, Eigentum und sozialer Status bedroht sehen würden, manchmal als unerwünschte Eindringlinge angesehen. Darüber hinaus scheine es eine stereotype Wahrnehmung von zurückgekehrten Mädchen und Frauen zu geben, wonach diese "freier" seien. Dies hänge mit der generellen Wahrnehmung der AfghanInnen von pakistanischen und iranischen Frauen zusammen. Afghanische Flüchtlinge der zweiten Generation würden diese Frauen oftmals als "freier" ansehen, sowohl in negativer (z.B. Scham in Verbindung mit einem weniger moralischen Verhalten) als auch in positiver Hinsicht (z.B. besserer Zugang zu Bildung und Arbeit). Die jungen RückkehrerInnen, die in Pakistan und im Iran aufgewachsen seien, würden von den in Afghanistan Verbliebenen ähnlich betrachtet. Wie der Bericht weiters anführt, werde Diskriminierung aus ethnischen, religiösen und politischen Gründen von Flüchtlingen der zweiten Generation noch intensiver erlebt als von Flüchtlingen der ersten Generation oder AfghanInnen, die bereits Erfahrungen in Afghanistan gemacht hätten und sich dieser Realität bewusster seien [...]

In einem im Februar 2011 von den beiden Denkfabriken Middle East Institute (MEI) und Fondation pour la Recherche Stratégique (FRS) veröffentlichten Bericht geht Bruce Koepke, der aktuell beim Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) tätig ist und zuvor für die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) in Nordafghanistan, Kabul und Teheran gearbeitet hat, auf die Lage von AfghanInnen im Iran ein. Wie Koepke anführt, habe der Umstand, dass die Mehrheit der im Iran geborenen AfghanInnen, vor allem Dari-/Farsi-sprechende sunnitische TadschikInnen und schiitische Hazara, über Schule und Arbeit die iranische Kultur und Lebensweise aufgenommen habe, ihre kulturelle Anpassung erleichtert. Gleichzeitig werde dadurch aber auch ihre Repatriierung erschwert. Für viele sei die Vorstellung, in ländliche Gebiete Afghanistans zurückzukehren, die meist ("most commonly") nur ein sehr grundlegendes Maß an Infrastruktur, sozialen Diensten und Beschäftigungsmöglichkeiten bieten würden, beängstigend. Darüber hinaus seien im Iran ausgebildete AbsolventInnen bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan nicht selten mit unterschiedlich stark ausgeprägten Vorurteilen konfrontiert [...]

[...] Wie Nawa anführt, würden diese AfghanInnen die Identität Afghanistans ändern und das Land iranischer machen. Diese Änderungen hätten zu Spannungen zwischen AfghanInnen, die das Land nie verlassen hätten, und den afghanischen RückkehrerInnen geführt. Den qualifizierten RückkehrerInnen werde übel genommen, dass sie bessere Jobs bei Hilfsorganisationen und der afghanischen Regierung bekommen würden. Konservative Personen würden die afghanischen Frauen, die im Iran aufgewachsen seien, verachten, da diese liberaler und mutiger erscheinen würden. Wie Nawa weiter anführt, würden Hazara, bei denen es sich historisch betrachtet um die ärmste der Minderheiten in Afghanistan gehandelt habe, reicher, gebildeter und geeint zurückkehren.

Dem Artikel zufolge würden die RückkehrerInnen als "Afghan-e badal" oder falsche AfghanInnen bezeichnet. Nur wenige von ihnen hätten politische Verbindungen in den Iran, aber aufgrund ihrer Zeit im Iran seien sie in den Augen der AfghanInnen, die das Land nicht verlassen hätten, kulturell nicht authentisch und politisch verdächtig [...]

In einer im Jahr 2014 eingereichten Masterarbeit an der University of Ottawa geht Masuma Moravej auf die Situation junger afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran nach Afghanistan zurückkehren, ein. Unter anderem basiert die Arbeit auf Angaben von zwölf afghanischen RückkehrerInnen in Kabul (im Alter zwischen 19 und 34, davon sechs Hazara), die sich bereit erklärten, mit der Autorin über ihre Erfahrungen zu sprechen. Wie Moravej anführt, habe es InterviewpartnerInnen gegeben, die sich diskriminiert und geringgeschätzt gefühlt und angegeben hätten, als "verwöhnt", "Nichtstuer" oder "nicht afghanisch" bezeichnet zu werden. Obwohl einige Interviewte der Aussage, es komme zu Diskriminierung, nicht zugestimmt hätten, habe ungefähr die gleiche Anzahl an Interviewten dieser Aussage beigepflichtet. Ausgrenzung aufgrund des Status eines/r Rückkehrers/Rückkehrerin sei nur eine der negativen Erfahrungen gewesen, die die InterviewpartnerInnen gemacht hätten. Eine weitere sei die Diskriminierung aufgrund persönlicher Merkmale (so wie Ethnie, Religion und Geschlecht) gewesen. Eine(r) der Interviewten habe mitgeteilt, dass man als RückkehrerIn aus dem Iran mit verschiedenen Arten von Diskriminierung und einem gewissen Grad an Stereotypisierung durch die lokale Gemeinschaft (andere AfghanInnen) konfrontiert werde. Deshalb müssten sich RückkehrerInnen mehr anstrengen, um bei der Arbeit oder in anderen Lebensbereichen erfolgreich zu sein. Drei Interviewte hätten angegeben, dass die BewohnerInnen Kabuls ihnen gegenüber ein unfreundliches Verhalten an den Tag gelegt hätten. Die BewohnerInnen hätten sie als OpportunistInnen und SchwindlerInnen angesehen, die während des Krieges geflüchtet und nun nach Afghanistan zurückgekehrt seien, um von der teilweise stabilisierten Lage im Land zu profitieren. Das Problem der ethnischen Diskriminierung sei von zehn der Interviewten genannt worden. So habe eine der Interviewten (eine Hazara) angegeben, dass sie im Iran wegen ihres Afghanisch-Seins beleidigt worden sei und nun in Kabul wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert werde. Wie Moravej anführt, hätten die den Hazara angehörenden Interviewten berichtet, mit einem größeren Ausmaß ethnischer Diskriminierung konfrontiert worden zu sein [...]

Der vom US-amerikanischen Kongress finanzierte Rundfunkveranstalter Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) berichtet im Februar 2015, dass Bewaffnete zwei Busse mit 30 Hazara an Bord in der Provinz Zabul auf dem Highway zwischen Kandahar und Kabul aufgehalten hätten. Laut Angaben lokaler Behörden hätten die Bewaffneten die männlichen Hazara mitgenommen, während Frauen, Kinder und Personen, die nicht den Hazara angehört hätten, zurückgelassen worden seien. Es werde davon ausgegangen, so RFE/RL weiters, dass es sich bei den BusinsassInnen um afghanische Flüchtlinge gehandelt habe, die aus dem Iran zurückgekehrt seien. Keine Gruppe habe sich zu dieser Massenentführung bekannt [...]

In einer E-Mail-Auskunft vom 4. Juni 2015 schreibt Liza Schuster vom Institut für Soziologie an der City University London, die gegenwärtig als Gastwissenschaftlerin am Afghanistan Centre der Kabul University (ACKU) tätig ist, dass sie keine Studie kenne, die sich mit dieser konkreten Fragestellung beschäftige. Sie könne lediglich sagen, dass Hazara zur Zielscheibe würden und Hazara, die Zeit im Iran verbracht hätten, aufgrund ihres veränderten Akzents und ihrer Kleidung (vor allem Frauen, die kleinere Kopftücher und kurze Mäntel über enganliegenden Hosen tragen würden) hervorstechen würden. Die 31 Hazara, die vor kurzem in Zabul entführt worden seien, hätten sich auf dem Rückweg aus dem Iran befunden. Es sei allerdings nicht bekannt, ob das Motiv für die Tat die Annahme, die Entführten hätten Geld, ihre ethnische Zugehörigkeit zu den Hazara oder politische Gründe gewesen sei. Sie habe gehört, dass fünf der Entführten getötet und 26 im Austausch für die Freilassung von Taliban-Kämpfern freigelassen worden seien, so Schuster weiter [...]

In einer E-Mail-Auskunft vom 5. Juni 2015 schreibt Niamatullah Ibrahimi von der Australian National University, dessen Forschungsschwerpunkt auf politischen und Menschenrechtsthemen in Afghanistan liegt, dass die Behandlung eines Hazara, der aus dem Iran nach Afghanistan zurückkehre, von den individuellen Umständen abhängen könnte. Im Allgemeinen denke er, dass folgende Punkte berücksichtigt werden müssten:

Zum einen könnten Hazara, die längere Zeit im Iran verbracht hätten oder dort geboren seien, mit beträchtlichen Herausforderungen bei der Wiederansiedelung und Reintegration in Afghanistan konfrontiert sein. Es sei wahrscheinlich, dass die betreffende Person einen iranischen Akzent angenommen und einen städtischen und iranischen Lebensstil entwickelt habe und nur wenig über die sich schnell verändernden sozialen und sicherheitsrelevanten Dynamiken in Afghanistan wisse. Dies könnte die Person einer großen öffentlichen Aufmerksamkeit und Kontrolle aussetzen, was zu beträchtlichen Herausforderungen in Gebieten, die einem iranischen Einfluss feindlich gegenüberstehen würden, führen könnte.

Zum zweiten seien die Taliban dem Iran traditionell feindlich gesinnt und würden dazu tendieren, die religiösen und kulturellen Verbindungen der Hazara zum Iran mit Misstrauen zu betrachten. Während es einige Fraktionen innerhalb der Taliban gebe, die gemäßigtere Ansichten in Bezug auf den Iran und die Hazara haben könnten oder einem Angriff auf aus dem Iran zurückkehrende Hazara zu diesem Zeitpunkt keine Priorität einräumen würden, würden einige Taliban-Fraktionen gegenüber Hazara, die sie als eng mit dem Iran verbunden wahrnehmen würden, ein extremistischeres und gewalttätigeres Verhalten an den Tag legen [...]"

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in die Verwaltungs- und Gerichtsakten (W250 2153695-1; W250 2153696-1; W250 2187537-1), in Auszüge aus dem Zentralen Melderegister und dem Fremdeninformationssystem, in Strafregisterauszüge und in Auszüge aus dem Grundversorgungs-Informationssystem sowie durch Einvernahme des Erst- und der Zweit-beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die zum Akt genommenen Länderberichte (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 04.06.2019; UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018; ACCORD Anfragebeantwortung betreffend die Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen [u.a. mögliche Ausgrenzung oder Belästigungen] vom 12. Juni 2015) und in die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen Beilage ./A bis ./E (zu BF 2:

Bescheinigung Teilnahme Erste-Hilfe-Kurs - Beilage ./A;

Teilnahmebestätigung am Workshop Selbstverteidigung für Frauen - Beilage ./B; Teilnahmebestätigung Vorbereitungslehrgang zum Pflichtschulabschluss vom 06.08.2019 - Beilage ./C;

Unterstützungserklärung Unterschriftenliste- Beilage ./D;

Stellungnahme zur westlichen Orientierung der BF 2 - Beilage ./E) sowie durch Einsichtnahme in die mit Dokumentenvorlage vom 06.03.2019 vorgelegten Unterlagen (zu BF 1: ÖSD Zertifikat A1 vom 21.07.2017; Prüfungszeugnis ÖIF-Test A2 inkl. Detailergebnis;

Teilnahmebestätigung Deutschkurs B1/1 vom 28.11.2018;

Teilnahmebestätigung am Werte- und Orientierungskurs; Bestätigung über Remunerationstätigkeiten; Bestätigung über Mithilfe bei Vorbereitungsarbeiten für einen Flohmarkt; Bestätigung über ehrenamtliche Mithilfe; Kopie des Freiwilligenpass; zur BF 2: ÖSD Zertifikat A2; Teilnahmebestätigung am Werte- und Orientierungskurs;

Kopie des Freiwilligenpass).

2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführer:

2.1.1. Die einzelnen Feststellungen beruhen auf den jeweils in der Klammer angeführten Beweismitteln.

2.1.2. Die Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführer ergeben sich aus ihren dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheits-dienstes, vor dem Bundesamt, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum der Beschwerdeführer gelten ausschließlich zur Identifizierung der Personen der Beschwerdeführer im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer, ihrer Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit, ihren familiären Verhältnissen sowie ihrem Lebenslauf (ihre Geburt in Afghanistan [Erstbeschwerdeführer] bzw. im Iran [Zweitbeschwerdeführerin], ihr Aufwachsen sowie ihre familiäre Situation in Afghanistan und im Iran, ihre Schulbildung und Arbeitserfahrung) gründen sich auf den diesbezüglich im Wesentlichen stringenten und übereinstimmenden Aussagen. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung an diesen Aussagen zu zweifeln.

Die Feststellungen zur Einreise sowie das Datum der Antragstellung ergeben sich aus dem Akteninhalt.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Erst- und der Zweitbeschwerde-führerin ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister (Strafregisterauszug jeweils vom 12.08.2018). Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Drittbeschwerdeführers ergibt sich aus seiner Strafunmündigkeit aufgrund seines Alters.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer:

2.2.1. Soweit der Erstbeschwerdeführer angab, dass seine Eltern Afghanistan verlassen hätten, weil sein Vater Grundstücksstreitigkeiten mit seinem Bruder gehabt habe, kommt seinem Fluchtvorbringen aus folgenden Gründen keine Glaubhaftigkeit zu:

Der Erstbeschwerdeführer gab beim Bundesamt an, dass sein Vater Afghanistan wegen des Krieges und wegen Familienproblemen verlassen habe. Es sei um Grundstücke, die vererbt werden sollten, gegangen. Sein Vater habe ihm erzählt, dass dieser bedroht worden sei, er könne dazu jedoch keine näheren Angaben machen (BF 1 AS 41). Betreffend die Grundstücke gab er weiters an, dass sein Vater früher viele Grundstücke in Afghanistan gehabt habe, aber aufgrund des Erbstreites alles in Afghanistan verloren habe (BF 1 AS 43). Dies steht im Widerspruch zu seinen Angaben in der Erstbefragung, wonach seine Familie in Afghanistan Grundstücke und ein Haus besitze (BF 1 AS 5). So entspricht es der Lebenserfahrung, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit in der Regel am nächsten kommen (VwGH 11.11.1998, 98/01/0261, mwH).

In der Beschwerdeverhandlung führte der Erstbeschwerdeführer aus, dass sein Großvater seinem Vater mehr Grundstücke geben habe wollen, weil dieser der älteste Sohn gewesen sei. Es sei deshalb zum Streit zwischen seinem Vater und seinem Bruder sowie dessen Söhnen gekommen. Sein Vater und sein Onkel väterlicherseits hätten auch gegeneinander gekämpft. Der Erstbeschwerdeführer habe zwei Jahre vor der Beschwerdeverhandlung seinen Vater am Telefon nach den Umständen der Ausreise aus Afghanistan gefragt. Genaueres könne der Erstbeschwerdeführer jedoch nicht angeben, weil sein Vater ihm nicht mehr erzählen habe

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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