TE Bvwg Erkenntnis 2019/10/8 W261 2203594-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.10.2019
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Entscheidungsdatum

08.10.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W261 2203594-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Asyl in Not, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.07.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 21.03.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der nunmehrige Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 15.06.2019 als Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtling in die Republik Österreich ein und stellte am selben Tag gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei der Erstbefragung am 16.06.2016 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu an, dass er aus der Provinz Laghman stamme, und dass er vor den Taliban geflüchtet sei.

Aufgrund von Zweifeln an den Altersangaben des BF veranlasste das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge belangte Behörde) eine medizinische Volljährigkeitsbeurteilung. Im Gutachten der medizinischen Universität Wien vom XXXX kommt der medizinische Sachverständige zum Ergebnis, dass das höchstmögliche Mindestalter des BF zum Untersuchungszeitpunkt ( XXXX ) 17,1 Jahre betragen habe. Das fiktive Geburtsdatum des BF sei der XXXX , der BF sei zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig gewesen.

Am 28.03.2018 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge belangte Behörde) im Beisein seiner Vertrauensperson sowie eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu. Er gab an, er sei habe immer in der Provinz Laghman gelebt, auch seine Eltern, Geschwister und weitere Verwandte würden noch dort leben. Er habe ab seinem 15. Lebensjahr neben der Schule in der Autowerkstatt seines Bruders gearbeitet. Er habe sich im Jahr 2014 in der Ausbildung in einer Koranschule befunden, welche von den Taliban geführt worden sei. Mit 15 habe er leichten Bartwuchs bekommen, da hätten die Taliban begonnen, der Gruppe Videos zu zeigen und die Jugendlichen zu motivieren, Selbstmordattentate zu begehen. Sie seien aufgefordert worden, sich dem Jihad anzuschließen. Ein enger Freund des BF habe ein Selbstmordattentat verübt. Da hätten auch seine Eltern Angst bekommen, und hätten die Ausreise des BF organisiert. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.) und erließ gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, dass es dem BF gelungen sei, sich dem Einfluss der Taliban durch die Flucht zu entziehen. Es könne nicht festgestellt werden, dass der BF zu befürchten hätte, in Afghanistan aufgrund der in der GFK genannten Gründe verfolgt zu werden, oder aktuell einer relevanten Bedrohungssituation für Leib und Leben ausgesetzt gewesen sei. Der BF könne seinen Lebensunterhalt in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat bestreiten. Er liefe nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können und in eine aussichtlose Lage zu geraten.

Der BF erhob mit Eingabe vom 13.08.2018, bevollmächtigt vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen diesen Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und führte begründend aus, dass der Bescheid vollinhaltlich angefochten werde. Der BF habe Afghanistan aufgrund wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen, da er sich der Zwangsrekrutierung durch die Taliban durch seine Flucht widersetzt habe. Die Sicherheitslage sei in Afghanistan volatil, so dass es ihm nicht möglich sei, dorthin zurückzukehren. Insbesondere sei die Herkunftsprovinz des BF, Laghman, besonders unsicher, wie dies auch die belangte Behörde richtig festgestellt habe. Die Taliban würden laut Stahlmann und Ruttig, zwei Afghanistanexperten, über politische Netzwerke verfügen, welche es diesen ermöglichen würden, von der Rückkehr des BF Kenntnis zu erlangen. Auch sei der BF durch die Rückkehr des BF aus dem westlichen Ausland laut Stahlmann als besonders gefährdete Person anzusehen. Der BF verfüge außerhalb seiner Herkunftsprovinz über kein familiäres oder soziales Netzwerk, so dass er im Falle einer Rückkehr auf sich alleine gestellt sei. Er habe sich in Österreich sehr gut integriert und sei nicht straffällig geworden. Es werde beantragt, der Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung stattzugeben. Der BF legte weitere Integrationsunterlagen vor.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 16.08.2019 beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

Der BF legte mit Eingabe vom 20.08.2018 weitere Integrationsunterlagen vor. Eine ursprünglich für den 09.01.2019 anberaumt gewesene mündliche Beschwerdeverhandlung musste aus dienstlichen Gründen verschoben werden.

Der Verein Menschenrechte Österreich informierte das BVwG am 21.02.2019 von der Niederlegung der Vollmacht.

Der Verein Asyl in Not übermittelte mit Eingabe vom 19.03.2019 die Vertretungsvollmacht und die zeugenschaftliche Einvernahme des Paten des BF über seine Integrationsbestrebungen.

Das BVwG führte am 21.03.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Der BF wurde im Beisein seines Vertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt und wurde ihm Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Sein Pate wurde von der erkennenden Richterin als Zeuge einvernommen. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 01.03.2019, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018 , Auszüge aus den aktuellen EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 und den Landinfo Report Afghanistan zum Thema "Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist von drei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

Der BF, bevollmächtigt vertreten durch Asyl in Not, führte in seiner Stellungnahme vom 10.04.2019 im Wesentlichen aus, dass der mit dieser Stellungnahme vorgelegte Landinfo Report Afghanistan:

Rekrutierung durch die Taliban, Landinfo 2017 belegen würde, dass auch Minderjährige von den Taliban zwangsrekrutiert werden würden. Diese würden in den Madrassen rekrutiert werden, wie dies auch der BF geschildert habe. Auch UNHCR würde belegen, dass es zu Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen komme. Auch weitere zitierte Länderinformationen würden dies bestätigen. Laut Stahlmann seien Rückkehrer aus dem Westen vom Verdacht bedroht, während ihres Aufenthaltes im Westen Gebote des Islam oder sozialer Normen verletzt zu haben. Es bestehe die Möglichkeit der landesweiten Verfolgung des BF. Die Sicherheitslage in Laghman sei prekär. Eine Neuansiedlung in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat sei dem BF aus Sicherheits- und sonstigen, aufgezählten Gründen nicht zumutbar, wie die zitierten Länderinformationen belegen würden. Die Länderinformationen würden insbesondere auch die Bedeutung sozialer und familiärer Netzwerke für Rückkehrer betonen, über welche der BF nicht verfüge. Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.

Mit Eingabe vom 24.04.2019 legte der BF eine psychologische Stellungnahme XXXX vor, wonach der BF unter schweren depressiven Symptomen und Schlafproblemen leide. Mit Eingabe vom 08.05.2019 legte der BF neuerlich den genannten Befund vor, zusätzlich eine Bestätigung über einen Termin bei einem Psychiater und einen klinisch-psychologischen Befundbericht. Mit Eingabe vom 20.05.2019 legte der BF einen psychiatrischen Befundbericht vom 20.05.2019 vor, wonach der BF unter einer depressiven Episode mit somatischen Syndrom (F32.1) leide. Das BVwG übermittelte diese Unterlagen an die belangte Behörde zur Kenntnis.

Das BVwG führte am 05.09.2019 eine Abfrage im GVS System durch, wonach der BF seit 16.06.2016 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung bezieht.

Aus dem vom BVwG am 05.09.2019 eingeholten Auszug aus dem Strafregister ist ersichtlich, dass im Strafregister der Republik Österreich für den BF keine Verurteilungen aufscheinen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX , geboren im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Laghman, ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an, ist sunnitischer Moslem, kinderlos und ledig. Die Muttersprache des BF ist Paschtu. Der BF versteht Dari und etwas Deutsch. Der BF kennt sein genaues Geburtsdatum nicht, zu Identifikationszwecken wird dieses mit XXXX festgelegt. Der BF ist Zivilist.

Der BF wuchs in seinem Heimatdorf im Haus seiner Familie gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern auf. Er besuchte die Koranschule und arbeitete auch in der Autowerkstatt seines Bruders. Der Vater des BF, XXXX , war Pächter von Grundstücken, auf welchen er Mais und Weizen anbaute. Die Mutter des BF, XXXX , ist Hausfrau. Der BF hat fünf Schwestern, wovon drei älter als der BF sind, und drei Brüder, wovon ein Bruder, XXXX , der Eigentümer der Autowerkstätte, älter als der BF ist. Der ältere Bruder des BF sorgt mit seinem Einkommen für die Familie. Die Familie lebt nach wie vor im Heimatdorf des BF. Der BF hat weitere Verwandte in der Provinz Laghman.

Der BF reiste im April 2016 aus Afghanistan aus und gelangte über den Iran, die Türkei Hulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich, wo er spätestens am 15.06.2016 illegal einreiste und am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2 Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Der BF floh aus seinem Heimatdorf in seiner Herkunftsprovinz Laghman, weil lokale Taliban in versuchten, diesen als Minderjährigen in der Madrassa zu überreden, als Selbstmordattentäter zu fungieren.

Der BF war in seinem Heimatland Afghanistan keiner psychischen oder physischen Gewalt aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt, noch hat er eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten.

Der BF wurde in Afghanistan nie persönlich bedroht oder angegriffen, es droht ihm auch künftig keine psychische oder physische Gewalt von staatlicher Seite, oder von Aufständischen, oder von sonstigen privaten Verfolgern in seinem Herkunftsstaat.

Es ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass konkret der BF auf Grund der Tatsache, dass er sich seit drei Jahren in Europa aufhält bzw. dass jeder afghanische Staatsangehörige, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre. Ebenso wenig kann mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner "westlichen Wertehaltung" psychische oder physische Gewalt drohen würde.

Auch sonst haben sich keine Hinweise für eine dem BF in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

1.3 Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung im Juni 2016 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Er bezieht seit seiner Einreise Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.

Der BF besuchte Deutschkurse, und verfügt über Kenntnisse der deutschen Sprache. Er besucht in Österreich die Schule. In seiner Freizeit spielt der BF Fußball. Er baute im Rahmen des Deutschkurses Trommeln. Der BF hat einen ehrenamtlichen Paten, mit welchem er viel Zeit verbringt. Mit ihm geht er spazieren, schwimmen, Tennis spielen und ins Theater. Dieser unterstützt den BF auch dabei, Deutsch zu lernen und den Pflichtschulabschluss nachzuholen. Der BF nahm am Bildungsangebot Zukunft.Bildung. XXXX , am Seminar Aufklärungsarbeit, Diskriminierungs- und Antirassismustraining der ARGE XXXX , der Einheit "Philosophie für Flüchtlinge" der XXXX Universität XXXX, an der Informationsveranstaltung der Caritas "Der richtige Umgang mit Geld", am 2-wöchigen Instrumentenbau- und Musik-Workshop im Rahmen der XXXX Basisbildung, am 2-wöchigen Garten-Workshop im Rahmen der XXXX Basisbildung, an der Informationsveranstaltung "Schulsystem in Österreich" der Caritas, am Workshop "Hygiene und Gesundheit" der Caritas, teil.

Da der BF keine Arbeitserlaubnis hat, kann er in Österreich nicht arbeiten. Der BF hat in Österreich keine Familienangehörigen. Neben Freundschaften konnten keine weiteren substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens des BF in Österreich festgestellt werden.

Der BF wird von seinen Vertrauenspersonen als sehr bereitwillig, motiviert, positiv, gut gelaunt, sehr zuverlässig, sehr bescheiden, sehr anspruchslos, beliebt, herzlich, freundlich, offen und ohne Vorurteile, sehr entgegenkommend, unverdrossen, konzentriert, ruhig, aufmerksam, nett, fleißig, höflich, zuvorkommend, sympathisch, zugewandt, selbstsicherer, vertrauensvollerer, zurückhaltend, musikalischen, pünktlich, schüchtern, anständig, wissbegierig, verlässlich, äußerst sozial, charmant und respektvoll beschrieben.

Der BF leidet an einer Lern- und Konzentrationsschwäche. Der BF leidet an einer depressiven Episode mit somatischem Syndrom (F32.1).

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.4 Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Überstellung in seine Herkunftsprovinz Laghman aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Dem BF steht als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF droht bei seiner Rückkehr in diese Stadt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit, vor allem nicht durch Taliban aus seiner Herkunftsprovinz Laghman.

Der BF ist jung und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen Ressourcen - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise. Er hat eine zwei Jahre Schulausbildung in einer Koranschule, weiters hat er bereits Berufserfahrung als Automechaniker in der Werkstatt seines Bruders gesammelt, die er auch in Mazar-e Sharif wird nutzen können.

Der BF ist weitgehend gesund. Der BF läuft im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten, oder dass sich eine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern wird. Es sind auch sonst keine objektivierten Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere schwerwiegende körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des BF in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

1.5 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 01.03.2019 (LIB), in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR), den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 (EASO 2018), insoweit es die Sicherheits- und Versorgungslage in der Provinz Balkh buw. Mazar-e Sharif betrifft, auf die in den notorischen EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019), in der Arbeitsübersetzung Landinfo report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo Nachrichtendienst) und in der Arbeitsübersetzung Landinfo report "Afghanistan: Rkrutierung durch die Taliban vom 29.07.2017 (Landinfo Rekrutierung) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.5.1 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren. (LIB)

1.5.1.1 Herkunftsprovinz Laghman

Die Provinz Laghman liegt inmitten des Hindukush-Gebirges. Sie besteht aus folgenden Distrikten: Alishing/Alishang. Alingar. Dawlat Shah/Dawlatshah. Qargayi/Qarghayi und Mehtar Lam/Bad Pash. Laghman grenzt an die Provinzen Nangarhar im Süden. Kunar im Osten. Nuristan und Panjshir im Norden und Kapisa und Kabul im Westen. Mehtar Lam/Mehtarlam ist die Provinzhauptstad. In der Provinz leben mehrheitlich Paschtunen, gefolgt von Tadschiken, Nuristani und Paschai. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 460.352 geschätzt.

2017 stieg die Opium-Produktion in der Provinz Laghman um 64% im Vergleich zu 2016. Alle Distrikte der Provinz, in denen Mohn angebaut wird, waren davon betroffen. Im Laufe des Jahres 2017 wurden 23 Hektar Mohnfelder umgewidmet.

Laghman zählte seit dem Fall der Taliban im Jahr 2001 zu den relativ friedlichen Provinzen; Angriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen nahmen jedoch in den letzten Jahren zu. Im Juli 2017 waren die Distrikte Alingar, Alishing und Dawlatshah von Sicherheitsproblemen betroffen, während sich die Sicherheitslage in der Provinzhauptstadt und ihren Vororten verbesserte.

In Laghman befindet sich eine internationale Militärbasis (Forward Operating Base Gamberi).

Im Jahr 2017 wurden aufgrund von Bedrohungen durch regierungsfeindliche Gruppierungen u.a. in der Provinz Laghman vorübergehend Gesundheitseinrichtungen geschlossen.

In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien. Luftangriffe werden durchgeführt. Dabei werden Aufständische, auch Talibananführer getötet. Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräfte finden statt.

Berichtet wurde, dass nun zum ersten Mal Zusammenstöße zwischen Aufständischen der Taliban und des IS von Nangarhar auf die Provinz Laghman übergeschwappt sind - beide Seiten haben hohe Verluste bei diesen Zusammenstößen zu verzeichnen. Die Provinz Laghman grenzt an die Provinz Nangarhar, in der sowohl Anhänger der Taliban als auch Anhänger des IS in abgelegenen Distrikten aktiv sind. Lokale Beamte berichten von Luftangriffen auf die Taliban und den IS in manchen Distrikten der Provinz Laghman. Regierungsfeindliche Gruppierungen, inklusive Anhänger der Taliban und des IS, haben versucht, in abgelegenen Teilen der Provinz ihre Aktivitäten auszuweiten. In der Provinz Laghman kam es zu Zusammenstößen zwischen Taliban- und IS-Kämpfern. (LIB)

Bei der Provinz Laghman handelt es sich laut EASO um einen jener Landesteile Afghanistans, wo willkürliche Gewalt ein derart hohes Ausmaß erreicht, dass im Einzelfall nur minimale Teilvoraussetzungen erfüllt sein müssen, um berechtigten Grund für die Annahme zu liefern, dass Zivilisten, welche in die betreffende Provinz rückgebracht würden, eine reelle Gefahr, ernsthaften Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen, zu gewärtigen hätten (wie beispielsweise schwerwiegende oder individuelle Bedrohung des Lebens einer Zivilperson bzw. einer konkreten Person). (EASO)

1.5.1.2 Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Bei der Provinz Balkh handelt es sich um eine jener Provinzen, in denen es zu willkürlicher Gewalt kommt, jedoch nicht auf hohem Niveau, und dementsprechend ist ein höheres Maß an Einzelelementen erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2019).

Die Stadt Mazar-e Sharif wird von EASO als eine jener Regionen eingestuft, in welcher willkürliche Gewalt auf einem so niedrigen Niveau stattfindet, dass im Allgemeinen kein reales Risiko besteht, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird (EASO 2019).

Die Provinz Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt an Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan sowie an Kunduz, Baghlan, Samangan, Sar-e Pul und Jawzjan. Die Provinz besteht aus 15 Bezirken. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif (EASO 2019). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.382.155 geschätzt (LIB).

Das Machtmonopol in Balkh hatte lange Zeit der frühere Kriegsherr Atta Mohammed Noor inne, der später Gouverneur von Balkh wurde, aber im Dezember 2017 nach einem Streit mit Präsident Ghani zurücktrat.

Die Mehrheit der Distrikte in Balkh steht unter staatlicher Kontrolle, wobei zwei Distrikte als umstritten und ein Distrikt als unter Kontrolle der Taliban eingestuft werden. Während Balkh Berichten zufolge eine der stabilsten Provinzen Afghanistans ist, sind in der Provinz dennoch regierungsfeindliche Elemente aktiv, und es wurden 2018 und Anfang 2019 Sicherheitsvorfälle gemeldet. Taliban-Kämpfer haben ALP-Personal, Mitglieder regierungsfreundlicher Milizen und Sicherheitsposten während des gesamten Jahres 2018 und Anfang 2019 in den Distrikten Sholgareh, Chahrbulak, Chemtal und Dawlatabad angegriffen. Die ANSF führte mehrere Clearing-Operationen in Balkh durch. Darüber hinaus führte die US-Luftwaffe im April 2018 einen Luftangriff im Bezirk Charbulak durch. Weitere Beispiele für Vorfälle waren eine Bombenexplosion am Straßenrand im Bezirk Sholgareh, die Entführung von Reisenden durch die Taliban, die Entführung und das Töten von Wahlbeobachtern. Laut GIM wurden im Zeitraum Januar 2018 - Februar 2019 131 Vorfälle in der Provinz Balkh im Zusammenhang mit Aufständischen gemeldet (durchschnittlich 2,2 Vorfälle pro Woche) (EASO 2019).

Die Stadt Mazar-e Sharif ist nach wie vor eine der stabilsten Regionen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Städten in Nordafghanistan (LIB). Die Bevölkerung wird offiziell mit 454 457 Einwohnern angegeben. Der Rücktritt von Atta Mohammed Noor als Gouverneur von Balkh im Dezember 2017 führte Berichten zufolge zu vermehrten kriminellen Aktivitäten, wie bewaffneten Raubüberfällen, Mord, Zusammenstößen und Entführungen in Mazar-e Sharif. Mazar- e Sharif steht unter staatlicher Kontrolle (EASO 2019).

1.5.2 Sichere Einreise

Die Stadt Mazar-e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher erreichbar. Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher. (EASO 2018)

1.5.3 Wirtschafts- und Versorgungslage

Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut auch im Jahr 2018 weiterhin zu.

In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Über 40% der erwerbstätigen Bevölkerung gelten im Jahr 2018 als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.

Die afghanische Regierung hat Bemühungen zur Armutsreduktion gesetzt und unterstützt den Privatsektor weiterhin dabei, nachhaltige Jobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Die Ausstellung von Gewerbeberechtigungen soll gesteigert, steuerliche Sanktionen abgeschafft und öffentlich-private Partnerschaften entwickelt werden; weitere Initiativen sind geplant. (LIB)

1.5.3.1 Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region. (LIB)

Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan und ein Industriezentrum mit großen Produktionsbetrieben und einer großen Anzahl kleiner und mittlerer Unternehmen, die Kunsthandwerk, Teppiche und Teppiche anbieten. Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO 2019).

In Mazar-e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bietet die Stadt Mazar-e Sharif die Möglichkeit von "Teehäusern", die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. "Teehäuser" werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO 2019).

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu erschlossener Wasserversorgung (76%), welche in der Regel in Rohrleitungen oder aus Brunnen erfolgt. 92% der Haushalte haben Zugang zu besseren Sanitäreinrichtungen (EASO 2019).

1.5.4 Medizinische Versorgung

Medizinische Versorgung ist in Afghanistan insbesondere in größeren Städten wie etwa auch in Mazar-e Sharif sowohl in staatlichen als auch privaten Krankenhäusern verfügbar. In Mazar-e Sharif zählt dazu das Alemi Krankenhaus. Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände - die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden - sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar.

In der afghanischen Bevölkerung leiden viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat geistige Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt. Jedoch ist der Fortschritt schleppend und die Leistungen außerhalb von Kabul sind dürftig. In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen und psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden genauso wie Kranke und Alte gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gemeinschaftliche Unterstützung sicherstellen.

Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam. So existieren z. B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik. Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in einigen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Personen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und bei anderen Nichtregierungsorganisationen behandelt werden. Einige dieser NGOs sind die International Psychological Organisation (IPSO) in Kabul, die Medica Afghanistan und die PARSA.

Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie werden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen "behandelt" oder es wird ihnen durch eine "Therapie" mit Brot, Wasser und Pfeffer der "böse Geist ausgetrieben". Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung sowohl über das Internet als auch in Form von Comics (für Analphabeten) zu. Beispielweise wurde in der Provinz Badakhshan durch internationale Zusammenarbeit ein Projekt durchgeführt, bei dem konventionelle und kostengünstige e-Gesundheitslösungen angewendet werden, um die vier häufigsten psychischen Erkrankungen zu behandeln: Depressionen, Psychosen, posttraumatische Belastungsstörungen und Suchterkrankungen. Erste Evaluierungen deuten darauf hin, dass in abgelegenen Regionen die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessert werden konnte. Auch die gesellschaftliche Stigmatisierung psychisch Erkrankter konnte reduziert werden.

Trotzdem findet die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt (LIB).

1.5.5 Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Ethnische Paschtunen sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pasht. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden, und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. (LIB)

1.5.6 Religion

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten, wie es auch der BF ist. (LIB)

1.5.7 Rückkehrer/innen

In der Zeit von 2012 bis 2017 sind 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei der Großteil der Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran kommen. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück. In der Provinz Balkh ließen sich von den insgesamt ca. 1,8 Millionen Rückkehrer/innen in der Zeit von 2012 bis 2017 109.845 Personen nieder.

Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen besteht auch für zurückkehrende Flüchtlinge das Risiko, in die Armut abzurutschen. Sowohl das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations World Food Programme) als auch andere UN-Organisationen arbeiten mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Kapazität humanitärer Hilfe zu verstärken, rasch Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und Hygiene- und Nahrungsbedürfnisse zu stillen.

Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (BFA Staatendokumentation 4.2018). Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.

Die Großfamilie ist für Zurückkehrende die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Quellen zufolge haben aber alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen. Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.

Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen "professionellen" Netzwerken (Kolleg/innen, Kommilitonen etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. (LIB)

1.5.8 Terroristische und aufständische Gruppierungen

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte grundsätzlich vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden: das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus. Die Taliban haben hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet. Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans. Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten. (LIB)

Die Taliban sind im Wesentlichen immer noch eine Bewegung der Paschtunen. Im letzten Jahrzehnt hat sich allerdings die Rekrutierung von Nichtpaschtunen verstärkt.

Das Konfliktschema in Afghanistan hat sich seit der Übergangsperiode 2014 verändert, die Taliban konzentrieren sich seither auf den Aufbau einer professionelleren militärischen Organisation. Das hat Folgen für die Rekrutierung, sowohl im Hinblick auf das Profil der rekrutierten Personen, als auch im Hinblick auf ihre Ausbildung. Religion und die Idee des Dschihad spielen bei der Rekrutierung weiterhin eine bedeutsame Rolle, ebenso die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Das kulturelle und sozioökonomische Umfeld erlegt den meisten Afghanen Einschränkungen auf, viele von ihnen haben keine andere Wahl als sich den Taliban anzuschließen.

Es sind Fälle von Zwangsrekrutierung dokumentiert, sie bilden allerdings die Ausnahme. Die Rekrutierung durch die Taliban ist nicht durch Zwang, Drohungen und Gewalt gekennzeichnet.

Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen und Übergriffe können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder der betroffenen Person, gerichtet sein.

Die Grenzen von unmittelbarem, konkretem und strukturellem Zwang sind vielleicht fließend; innerhalb dieses Spektrums macht es vermutlich wenig Sinn, von Freiwilligkeit zu sprechen, eben weil die Alternativen für den Betroffenen sehr beschränkt sind. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen.

Quellen von Landinfo haben bestätigt, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen.

Es ist eine Kombination verschiedener Faktoren, die Personen dazu bewegt, sich den Taliban anzuschließen. Allerdings gibt es nur sehr begrenzte Informationen über den Einsatz unmittelbarer Gewalt im Zusammenhang mit der Rekrutierung und Mobilisierung unter der Schutzherrschaft der Taliban. In Gesprächen mit Landinfo im Herbst 2010 meinte Giustozzi, dies sei bedingt durch die Tatsache, dass die Taliban im Zusammenhang mit ihrer Expansion noch nicht genötigt waren, Zwangsmaßnahmen anzuwenden.

Das relativ eindeutige Bild über Rekrutierungen durch die Taliban deutet darauf hin, dass die Organisation Zwangsrekrutierungen nicht systematisch betreibt und dass Personen, die sich gegen eine Mobilisierung wehren, keine rechtsverletzenden Reaktionen angedroht werden. Zahlreiche Gesprächspartner von Landinfo in Kabul (April 2016) waren der Ansicht, dass die Taliban keine Zwangsrekrutierungen durchführen. Eine NGO (April 2016) verwies darauf, dass es sehr einfach sei zu desertieren (Gespräch in Kabul, April 2016). Erklärungen eines nationalen Thinktanks zufolge (April 2016) stünde eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis den im Pashtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit entgegen.

Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Junge und Mann fließend; ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit, die erweiterte Familie zu repräsentieren. Welchen Status jemand auf der Skala vom Kind zum Erwachsenen innehat und zu welchem Zeitpunkt erwachsenes Verhalten erwartet wird, entspricht im Regelfall weder den nationalen afghanischen Gesetzen noch dem Völkerrecht. Diese Tatsache, gepaart mit der demografischen Zusammensetzung, wirtschaftlichen, politischen und anderen kulturellen Gegebenheiten führt im Ergebnis dazu, dass bewaffnete Soldaten in verschiedenen Gruppen die im Völkerrecht festgelegten Altersgrenzen unterschreiten können. In der überwiegenden Mehrzahl aller Kontexte ziehen Afghanen bei der Beurteilung von Status, Stellung und Reife einer Person nur in geringem Ausmaß formelle und rechtliche Bestimmungen heran.

Wie bereits erwähnt, ist die erweiterte Familie die tonangebende gesellschaftliche Institution und bildet den Rahmen für die Familienmitglieder. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband "herauslösen".

Minderjährige werden zweifellos von den Taliban rekrutiert, allerdings lässt sich das Ausmaß schwer abschätzen und es bestehen vermutlich größere Abweichungen von Ort zu Ort. Da die Taliban nun vermehrt auf militärische Erfahrung und Expertise setzen, kann davon ausgegangen werden, dass die Anzahl der rekrutierten Minderjährigen rückläufig ist.

Nach einem Bericht des VN-Generalsekretärs über Kinder und bewaffnete Konflikte in Afghanistan (VN-Sicherheitsrat 2015, S. 5) ist die Rekrutierung von 560 Minderjährigen im Zeitraum 2010 bis 2014 für bewaffnete Operationen oder für andere Dienste für eine der bewaffneten Gruppierungen des Landes dokumentiert. Dies betrifft Minderjährige, die in Unterstützungsfunktionen tätig waren, als auch solche, die für aktive Kampfhandlungen eingesetzt wurden - Angaben bezüglich deren Aufteilung bzw. Alter liegen nicht vor. Nach Angaben des VN-Generalsekretärs wurden viele eingesetzt, um improvisierte Sprengkörper zu transportieren und zu verlegen. In diesem Vierjahreszeitraum registrierte die UNO 20 Fälle von Selbstmordanschlägen durch Minderjährige.

Ein Mitarbeiter einer NGO (NGO A, Gespräch in Kabul, Mai 2017) aus einem Distrikt in Kunduz behauptete, die Taliban hätten bezüglich Rekrutierung anscheinend eine langfristige Strategie und Perspektive. In der Provinz Kunduz werden große Madrassen mit einer Vielzahl von Studierenden eingerichtet. In einigen Jahren werden die Jungen dieser Madrassen Teil des Rekrutierungsreservoirs der Taliban bilden. Es wurde von Fällen berichtet, in denen sich Kinder freiwillig den Taliban angeschlossen hätten; wenn sie jedoch ihre Meinung ändern und die Bewegung verlassen wollen, können sie von den Taliban daran gehindert werden (HRW 2016).

Einigen Berichten zufolge sollen Kinder unter 15 Jahren Selbstmordanschläge verübt haben. Nach einem Bericht des VN-Generalsekretärs verübte ein 14-Jähriger im Februar 2014 einen Selbstmordanschlag in der Provinz Paktika (VN-Generalsekretär 2015, S. 6). In einem Gespräch mit Landinfo behauptete eine VN-Quelle (VN-Quelle A, April 2016), dass Kinder im Alter von nur 10-12 Jahren von den Taliban rekrutiert wurden. Nach Berichten des Nachrichtenmediums TOLO News soll es einem 12-jährigen Jungen, der 2015 einen Selbstmordanschlag in Faryab verüben hätte sollen, gelungen sein, vom Stützpunkt der Taliban zu entkommen. Der Vater des Jungen hatte seinen Sohn angeblich für AFN 700,000 (ca. USD 10,000) verkauft (TOLO News 2015). Im Jahr 2014 hätten drei Kinder im Alter von sechs, acht und zehn Jahren einen selbstgebauten Sprengkörper in einem Schubkarren transportieren sollen. Es kam zu einer Detonation, zwei der drei Kinder starben, eines wurde verletzt (VNGeneralsekretär 2015, S. 6). Der am häufigsten berichtete Einzelfall in den vergangenen Jahren datiert aus der Zeit der Aktionen der Taliban in der Stadt Kunduz im Jahr 2015. Dort sollen einige Minderjährige unter 15 Jahren dem Vernehmen nach von den Taliban mobilisiert worden sein (UNAMA 2015, S. 18).

Was über die Rekrutierung von Soldaten unter 15 Jahren dokumentiert ist, sowohl für die Taliban als auch für andere Gruppen, ist nahezu gänzlich anekdotisch. Wenig deutet darauf hin, dass die Taliban ihre Aktivitäten solcherart organisieren, dass eine große Anzahl von Personen unter 15 Jahren für die Teilnahme an militärischen Tätigkeiten und Kampfhandlungen rekrutiert wird.

Die geschilderten Erfahrungen und Eindrücke von Landinfo decken sich mit denen des UNHCR und mehreren der angeführten Quellen; nahezu alle unabhängigen militärischen Akteure mobilisieren Personen unter 18 Jahren. Auch wenn es kein repräsentatives Zahlenmaterial gibt, ist die Annahme gerechtfertigt, dass die Mehrzahl der Mobilisierten zwischen 15 und 18 Jahre alt ist. Auch ist es richtig, dass viele von ihnen nach lokalen Standards als Erwachsene gelten. Unter Berücksichtigung der sogenannten verifizierten Fälle dürfte die Dunkelziffer vermutlich hoch sein (Landinfo Rekrutierung)

Im Grunde steht jeder auf der schwarzen Liste, der (aus Sicht der Taliban) ein "Übeltäter" ist, und dessen Identität und Anschrift die Taliban ausfindig machen können. (Landinfo Nachrichtendienst)

Es ist davon auszugehen, dass Sippenhaftung in Afghanistan ein weit verbreitetes Phänomen ist, und die Taliban neben Regierungsmitarbeitern, Sicherheitskräften und anderen, der Kollaboration oder "Spionage" bezichtigten Personen auch deren Angehörige gezielt verfolgen und bedrohen. (Landinfo Nachrichtendienst)

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit sowie zu den Aufenthaltsorten, Familienangehörigen, Sprachkenntnissen, der Schulbildung und Berufserfahrung des BF beruhen auf dessen plausiblen, im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben im Laufe des Asylverfahrens. Die Angaben dienen zur Identifizierung im Asylverfahren.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 145/2017, (in der Folge: AsylG 2005) liegt es auch am BF, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Das Asylverfahren bietet, wie der VwGH erst jüngst in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.

Mit der Glaubhaftmachung ist demnach die Pflicht der Verfahrenspartei verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der behaupteten Voraussetzungen spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzung liefern. Insoweit trifft die Partei eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Allgemein gehaltene Behauptungen reichen für eine Glaubhaftmachung nicht aus (vgl. VwGH 17.10.2007, 2006/07/0007).

Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.

Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss - unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten - genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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