TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/11 W147 2197284-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.12.2019
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Entscheidungsdatum

11.12.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch

W147 2197284-1/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Kanhäuser als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27. April 2018, Zl: 1107328504 - 160327832/BMI-BFA_BGLD_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24. September 2019 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte II. bis VI. gemäß den §§ 8 Abs. 1 iVm 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, 57 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, und §§ 52 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, 55 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2013, als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 164/2013, nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig, reiste am 2. März 2016 unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am gleichen Tag verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen ihrer Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab die Beschwerdeführerin eingangs an, dass ihr Ehegatte XXXX , der gemeinsame Sohn und die Tochter in Österreich leben würden. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die Beschwerdeführerin an, dass sie im Jahr 2003 im Zuge einer Bombardierung von XXXX schwer verletzt worden sei. Anschließend habe sie ein Jahr im Krankenhaus verbracht. Da sie aufgrund der Verletzungen einen Gedächtnisverlust erlitten habe und die Ärzte ihren Angehörigen mitgeteilt hätten, dass die Beschwerdeführerin verstorben sei, habe sie keinen Kontakt mit der Familie gehabt. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus habe man der Beschwerdeführerin mitgeteilt, dass ihr "Ehemann" mit den gemeinsamen Kindern aus dem Heimatland ausgereist sei. Erst im letzten Jahr habe die Beschwerdeführerin erfahren, dass sich ihre Familie in Österreich aufhalte. Die Beschwerdeführerin führte weiters aus, dass sie im Jahr 2006 von maskierten Männern - welche die Beschwerdeführerin als Freiheitskämpfer bezeichnete - entführt worden sei. Sie habe mit diesen Kämpfern zwei Jahre in den Wäldern gelebt und Mahlzeiten für diese zubereitet. Nach zwei Jahren sei der Beschwerdeführerin schlussendlich die Flucht gelungen, jedoch habe sie sodann Probleme mit den Behörden des Heimatlandes bekommen. Diese hätten die Beschwerdeführerin beschuldigt, die Freiheitskämpfer zu unterstützen. Bei einer Rückkehr in die Heimat befürchte die Beschwerdeführerin, dass sie verhaftet und eingesperrt werde.

2. Nach Zulassung des Verfahrens gab die Beschwerdeführerin im Rahmen ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 10. April 2018 im Beisein eines geeigneten Dolmetschers für die russische Sprache und ihrer Tochter als Vertrauensperson eingangs an, im Besitz eines russischen Inlandsreisepasses zu sein und dass ihr Auslandsreisepass von den Behörden im Heimatland abgenommen worden sei. Des Weiteren habe sie ihren "Ehemann", der nunmehr den Namen XXXX trage, nach traditionellem Brauch in XXXX geheiratet. Standesamtlich sei sie nicht verehelicht. Befragt, ob der Lebensgefährte der Beschwerdeführerin weitere Ehefrauen habe, führte die Beschwerdeführerin aus, dass er zweimal geheiratet habe, jedoch nunmehr geschieden sei. In Österreich würden weiters noch eine Tochter und ein Sohn wohnen, mit denen ein gemeinsamer Wohnsitz bestehe. Im Herkunftsstaat lebe ihr Bruder, zu dem selten Kontakt bestehe. In Österreich besuche die Beschwerdeführerin nunmehr einen Deutschkurs. Zu ihrem Gesundheitszustand befragt, führte die Beschwerdeführerin aus, dass sie sie an keinen schweren Erkrankungen leide, jedoch ihr linkes Knie und die linke Schulter schmerzen würden, weshalb sie auf ärztlichen Rat einen Orthopäden aufsuchen solle. Auf die Frage, wie sich die wirtschaftliche Situation der Beschwerdeführerin im Heimatland gestaltet habe, antwortete diese, dass sie von Gelegenheitsarbeiten wie Ausmalen und Verputzarbeiten gelebt habe. Dabei habe es sich um kleinere Arbeiten gehandelt. Einen Beruf habe die Beschwerdeführerin nicht erlernt und habe sie zuletzt auch keine Arbeit mehr gehabt.

Zu ihren Fluchtgründen aus dem Herkunftsstaat führte die Beschwerdeführerin aus, dass sie im Jahr 2003 in einen Bombenhagel geraten sei und verletzt worden sei. Die Rehabilitation habe ein Jahr gedauert und habe die Beschwerdeführerin aufgrund der Verletzungen einen Gedächtnisverlust erlitten. Im Jahr 2006 sei die Beschwerdeführerin aus dem Wartezimmer einer Arztpraxis ebenso wie der behandelnde Arzt entführt worden und hätten sie zwei Jahre im Wald gelebt. Sie habe für die Entführer, wobei es sich nicht um Tschetschenen gehandelt habe, gekocht und Wäsche gewaschen. Die Entführer hätten arabisch gesprochen und hätten sich zu dieser Zeit viele Söldner im Heimatland aufgehalten. Der Wald befinde sich an der Grenze von Inguschetien oder Georgien, genau wisse das die Beschwerdeführerin nicht. Als die Wälder von Truppen durchkämmt worden wären, seien die Entführer geflüchtet und habe auch die Beschwerdeführerin mit dem Arzt und einer weiteren Geisel ins nächstgelegene Dorf flüchten können. Vom Dorf aus hätten sie sich nach XXXX durchgefragt. Sodann hätten die Probleme mit den Behörden des Herkunftsstaates begonnen und sei die Beschwerdeführerin festgenommen sowie verhört worden. Bei den Verhören sei die Beschwerdeführerin auch geschlagen worden. Nach jedem Terrorakt sei die Beschwerdeführerin verhört worden. Die Beschwerdeführerin habe sich durch diese Anschuldigungen und Befragungen unter Druck gefühlt. Sie habe dann erfahren, dass sich ihre Familie in Österreich aufhalte, jedoch nicht genau, wo sie leben würden. Deswegen habe sie sich einen Auslandsreisepass ausstellen lassen, welcher ihr jedoch abgenommen worden sei. Aus diesem Grund sei sie auch illegal nach Österreich gereist, zumal die Beschwerdeführerin im Heimatland um ihr Leben fürchte.

Zu dem Bombenhagel und den Verletzungen der Beschwerdeführerin befragt, führte diese aus, dass sie im März 2003 auf einem Markt in XXXX Lebensmittel habe kaufen wollen. Es habe einen russischen Luftangriff gegeben und die Menschen hätten sich nicht mehr in Sicherheit bringen können. Die Beschwerdeführerin habe einen Schlag verspürt und sei ihr der linke Zeigefinger abgetrennt worden. Auch ihre Verletzung an der linken Schulter rühre von diesem Angriff. Im Spital habe man ihrem Ehegatten die Auskunft erteilt, dass die Beschwerdeführerin verstorben sei, weshalb dieser mit den gemeinsamen zwei Kindern nach Österreich gereist sei.

Hinsichtlich der ausländischen Kämpfer führte die Beschwerdeführerin aus, dass sie nicht angeben könne, wie viele Kämpfer sich im Waldstück aufgehalten hätten. Sie habe nicht überall Zutritt gehabt und sei nicht informiert worden, da sie sich nur um die Mahlzeiten habe kümmern sollen. Auf die Frage, weshalb die Beschwerdeführerin nicht ihre "Befreier" um Hilfe gebeten habe, gab sie an, dass es sich bei den Befreiern auch um Kämpfer gehandelt habe, welche der Meinung gewesen seien, dass sich die Beschwerdeführerin freiwillig in dem Wald aufgehalten habe.

Zu den Verhören befragt, antwortete die Beschwerdeführerin, dass sie nicht angeben könne, wie viele Verhöre es gewesen seien, diese jedoch zwei bis drei Stunden gedauert hätten.

Auf Vorhalt, dass es nicht nachvollziehbar sei, weshalb die Beschwerdeführerin ihr Heimatland nicht schon im Jahr 2008 verlassen habe, teilte die Beschwerdeführerin mit, dass sie nicht genug Geld gehabt habe und krank gewesen sei. Außerdem sei sie ständig unter der Beobachtung der Behörden gestanden und dass sie eine Gefahr für Kadirow Anhänger darstelle, da sie sich bei den Kämpfern im Wald aufgehalten habe. Weshalb die Beschwerdeführerin nach der Flucht des Ehemannes und der Kinder nicht inhaftiert worden sei, könne sich die Beschwerdeführerin nicht erklären. Die letzten drei Jahre vor der Ausreise habe es nur noch selten Verhöre gegeben, weshalb die Beschwerdeführerin auch vermehrt arbeiten gegangen sei und Geld ansparen habe können. Ein Bekannter habe dann der Beschwerdeführerin von ihrer Familie in Österreich erzählt. Sie sei sodann nach Österreich gereist und habe die Familie gefunden.

Die Beschwerdeführerin sei nach ihrer Ankunft in Österreich von XXXX in eine Pension verlegt worden, wo sie einen weiteren Tschetschenen getroffen habe. Dieser Mann habe sich in seinem Bekanntenkreis nach dem Verbleib des Ehemannes der Beschwerdeführerin und deren Kindern erkundigt. Auf diese Weise habe die Beschwerdeführerin ihren Ehemann wiedergefunden.

In Einem brachte die Beschwerdeführerin ihren russischen Inlandsreisepass, zwei Zertifikate über die Teilnahme der Beschwerdeführerin an einem Deutschkurs A1 sowie eine Anmeldebestätigung über einen weiteren Deutschkurs in Vorlage.

Auf die von der belangten Behörde angebotene Aushändigung von Länderinformationen über die Russische Föderation inklusive Tschetschenien samt der Möglichkeit zur Stellungnahme verzichtete die Beschwerdeführerin.

3. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG, bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), sondern gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

In der Entscheidungsbegründung wurde seitens der belangten Behörde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin eine ihr im Herkunftsstaat drohende asylrelevante Gefährdung nicht habe glaubhaft machen können.

Die belangte Behörde begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen, dass es nicht plausibel sei, weshalb die Beschwerdeführerin nicht bereits im Jahre 2013, als sie vom Verbleib ihrer Familie in Österreich erfahren habe, ihr Heimatland verlassen habe, sondern noch bis März 2016 im Herkunftsstaat verblieben sei. Die einzig logische Konsequenz bei einer ständigen Furcht vor Übergriffen der Kadirow-Leute wäre ein früheres Verlassen der Heimat gewesen. In diesem Zusammenhang folgerte die belangte Behörde weiters, dass es nicht glaubhaft sei, dass man der Beschwerdeführerin sowohl einen Inlands- als auch Auslandsreisepass ausgestellt hätte sollen, da den Verfolgern auch hätte bewusst sein müssen, dass die Beschwerdeführerin jede Gelegenheit zur Flucht aufgreifen werde. Es gäbe auch keine Anhaltspunkte auf das Vorliegen von Gefahren, welche die Erteilung subsidiären Schutzes rechtfertigen würden.

4. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 2 BFA-VG vom selben Tag wurde der Beschwerdeführerin für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht die "ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien" als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

5. Mit Schriftsatz vom 28. Mai 2018 erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht verfahrensgegenständliche Beschwerde gegen den genannten Bescheid und ficht diesen wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften in vollem Umfang an.

Die Beschwerdeführerin moniert im Wesentlichen, dass sich die belangte Behörde nicht ausreichend mit dem Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin auseinandergesetzt habe, zumal die Beschwerdeführerin sowohl Verfolgungshandlungen durch die tschetschenischen Behörden als auch durch die Rebellen befürchte. Im Weiteren liefe die Beschwerdeführerin als alleinstehende Frau ohne ihren Mann Gefahr, Misshandlungen und Gewalt ausgesetzt zu sein und stehe der Beschwerdeführerin keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, da die Verfolgung vom Staat ausgehen würde bzw. die Bedrohungen im gesamten Staatsgebiet bestehen würden.

6. Am 16. Mai 2018 langte die Beschwerdeergänzung der Beschwerdeführerin beim Bundesverwaltungsgericht ein. In dieser gibt die Beschwerdeführerin weitestgehend die Beschwerdegründe wieder und kritisiert die Einstufung ihres Ehemannes als Lebensgefährten.

7. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 8. Oktober 2018, Zahl W147 2197284-1/6E, wurde die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 27. April 2018, Zl: 1107328504 - 160327832/BMI-BFA_BGLD_RD, als unbegründet abgewiesen.

8. Gegen dieses Erkenntnis erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht mit Schriftsatz vom 7. Januar 2019 außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof und ficht das Erkenntnis vollumfänglich an.

9. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 29. März 2019, Ra 2018/18/0539, wurde die Revision, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung von internationalen Schutz richtet, zurückgewiesen (Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnis erwuchs somit in Rechtskraft) und das Erkenntnis in seinem übrigen Umfang aufgehoben. Das Verwaltungsgericht begründete seine Entscheidung im Wesentlichen, dass das Bundesverwaltungsgericht sich mit dem Vorbringen der nicht vorwerfbaren kriegsbedingten Trennung von der Familie auseinanderzusetzen habe.

10. Am 24. September 2019 fand zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die russische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, in welcher die Beschwerdeführerin im Beisein ihrer Rechtsvertreterin zu ihrem Gesundheitszustand, ihrem Leben im Heimatland sowie ihrem Familienleben in Österreich und Alltag befragt wurde.

11. Am 23. Oktober 2019 langte die Stellungnahme der Beschwerdeführerin zu den in der mündlichen Verhandlung überreichten Länderberichten beim Bundesverwaltungsgericht ein und traf die Beschwerdeführerin zu ihrem Familienleben Ausführungen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat zur vorliegenden Beschwerde wie folgt erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage des Verwaltungsaktes der belangten Behörde und der in diesem Verfahren herangezogenen Hintergrundberichte zur aktuellen relevanten Lage in der Russischen Föderation, den Ergebnissen der Beschwerdeverhandlung und Einsicht in die Verwaltungsakte der Familienangehörigen wird seitens des Bundesverwaltungsgerichtes Folgendes festgestellt:

1.1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, der Volksgruppe der Tschetschenen zugehörig, muslimischen Glaubens und stellte am 2. März 2016 nach illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Jahr 2013 ließ sich die Beschwerdeführerin einen Auslandsreisepass ausstellen, ein Visum wurde jedoch nicht beantragt. Der Beschwerdeführerin war sohin von Beginn der persönlichen Kontaktaufnahme zu ihrer in Österreich lebenden Familie an bewusst, dass sie nicht ohne weiteres eine Aufenthaltsberechtigung für Österreich erhalten wird. Die Beschwerdeführerin war nicht gewillt, die Dauer eines aufenthaltsrechtlichen Verfahrens nach dem NAG abzuwarten.

Die Beschwerdeführerin leidet an Bluthochdruck und Schultergelenksschmerzen, sohin an keinen chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheiten, welche einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen würden. Ihre Gelenksschmerzen in der linken Schulter wurden im Herkunftsstaat mit Tabletten und Injektionen behandelt.

Die Beschwerdeführerin befindet sich seit März 2016 durchgehend im Bundesgebiet. Sie hat sich Grundkenntnisse der deutschen Sprache angeeignet und ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Während die Beschwerdeführerin in ihrem Herkunftsstaat mit Gelegenheitsarbeiten als Malerin oder Verputzerin ihr Einkommen erzielte, ist sie in Österreich keiner Beschäftigung nachgegangen und lebt von staatlichen Sozialleistungen (Grundversorgung). Sie verfügt über eine Einstellungszusage als "Housekeeperin" für eine Personal-Leasing Agentur.

Die Beschwerdeführerin verfügt in Österreich über soziale Anknüpfungspunkte in Form eines Bekanntenkreises, wobei das Bestehen enger Verbindungen nicht hervorgekommen ist. Im Herkunftsstaat lebt der Bruder der Beschwerdeführerin.

Die Beschwerdeführerin hat - mit Ausnahme ihres Lebensgefährten (anerkannter Flüchtling, Zahl: 732531902), ihren gemeinsamen zwei volljährigen Kindern (beide anerkannte Flüchtlinge, Zahlen: 13966101 und 732532006), wobei sie mit ihrem Lebensgefährten und dem Sohn im gemeinsamen Haushalt lebt, und zwei Enkelkindern, keine weiteren Angehörigen im Bundesgebiet, zu denen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Im Falle der Beschwerdeführerin konnten keine nennenswerten Anknüpfungspunkte wirtschaftlicher oder sozialer Natur im Bundesgebiet festgestellt und kann auch vor dem Hintergrund der Aufenthaltsdauer von keiner besonderen Verfestigung im Bundesgebiet gesprochen werden.

Nicht festgestellt werden kann, dass die Trennung der Beschwerdeführerin und ihrer Kinder bzw. des Vaters ihrer Kinder anlässlich derer Ausreise kriegsbedingt war. Festgestellt wird, dass der Vater der Kinder der Beschwerdeführerin seit seiner Ausreise zweimal nach muslimischen Ritus mit anderen Frauen die Ehe geschlossen hat.

1.2. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation:

Die Beschwerdeführerin liefe nicht konkret Gefahr, im Fall einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat dort der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe beziehungsweise der Todesstrafe unterworfen zu werden. Die Beschwerdeführerin ist arbeitsfähig und in der Lage, im Fall ihrer Rückkehr für ihren Lebensunterhalt aufzukommen und ihre Existenz zu sichern.

1.3. Zur aktuellen politischen und menschenrechtlichen Situation in der Russischen Föderation, insbesondere Tschetschenien, werden insbesondere folgende Feststellungen getroffen:

1. Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse "wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind", berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB RUSS übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 16.3. Zeugen Jehovas).

Änderungen seit Mai 2018:

Erstens wurde weitere, die Zeugen Jehovas betreffende Literatur in die "Föderale Liste extremistischer Materialien" des Justizministeriums der RF

(http://minjust.ru/ru/extremist-materials?field_extremist_content_value) aufgenommen. Es handelt sich dabei um die Positionen 4471, 4472, 4485 bis 4488 und 4502, die aufgrund der Entscheidungen diverser russischer Gerichte am 5.7.2018 bzw. am 31.8.2018 in die Liste aufgenommen wurden. Zweitens wurde der Erlass N 11 "Über die gerichtliche Praxis in Strafsachen zu Verbrechen mit extremistischer Ausrichtung" des Plenums des Obersten Gerichts vom 28.6.2011 am 20.9.2018 novelliert, die Definition der Z 20 Abs. 2, was unter einer Teilnahme an einer extremistischen Organisation iSd Art. 282.2 russ. StGB zu verstehen ist, ist aber ebenso unverändert geblieben wie der Art. 282.2 russ. StGB ("Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation") selbst. Auch die Entscheidung des Obersten Gerichts der RF N AKPI 17-238 vom 20. April 2017, mit der das "Leitungszentrum der Zeugen Jehovas in Russland" als extremistische Organisation eingestuft und verboten wurde, ist unverändert gültig.

Unter dem Link http://gorod-che.ru/new/2018/10/10/58877 findet sich ein Artikel vom 10.10.2018, wonach fünf Bewohner der Kirowsker Oblast festgenommen wurden wegen des Versuches, die Tätigkeit einer religiösen Organisation, die die Glaubenslehre der Zeugen Jehovas weiterverbreitet, wieder aufzunehmen. Trotz der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts vom 20.4.2017 hätten die Festgenommenen laut Untersuchungskomitee - in voller Kenntnis der Gerichtsentscheidung - in der Zeit vom 16.8.2017 bis zum 29.9.2018 beschlossen, die religiöse Tätigkeit wieder aufzunehmen.

Unter Beachtung aller konspirativen Maßnahmen hätten sie jedes Mal in neuen Wohnungen Treffen von Jüngern und Teilnehmern der religiösen Vereinigung organisiert. Dort hätten sie biblische Lieder gesungen, die Fertigkeiten bei der Durchführung der missionarischen Tätigkeit vervollkommnet und in der Extremismus-Liste aufgeführte verbotene Literatur studiert (New World Translation of the Holy Scriptures, Nr. 4488 der Liste). Außerdem hätten sie eine verbotene religiöse Organisation finanziert, indem sie ca. 500.000 RUB von den Glaubensanhängern gesammelt hätten. Dieses Geld sei zwischen den Führern der Organisation für die Miete der Räumlichkeiten, für den Erwerb und die Wartung von Computern aufgewendet worden. Der Rest der Summe sei dem Leitungszentrum überwiesen worden. Art. 282.3 des russ. StGB

(http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/51346ce1f845bc43ee6f3eadfa69f65119c941fa/) stellt die Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit unter gerichtliche Strafe. Er lautet:

"Art. 282.3 Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit

1. Die Zurverfügungstellung oder Sammlung von Mitteln oder die Erbringung finanzieller Dienstleistungen, wissentlich bestimmt für die Finanzierung der Organisation, der Vorbereitung und Begehung zumindest eines der Verbrechen extremistischer Ausrichtung oder für die Sicherstellung der Tätigkeit einer extremistischen Vereinigung oder extremistischen Organisation wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 1 bis 4 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 3 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist bis zu 1 Jahr oder mit Freiheitsstrafe von 3 bis 8 Jahren.

2. Diese Taten, begangen von einer Person unter Ausnutzung ihrer Amtsstellung wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder ohne eine solche oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 2 bis 5 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 5 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist von 1 bis zu 2 Jahren oder mit Freiheitsstrafe von 5 bis 10 Jahren.

Anmerkung: Eine Person, die erstmals ein Verbrechen gemäß dieses Art. begangen hat, wird von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit frei, wenn sie mittels rechtzeitiger Benachrichtigung der Behörden oder auf andere Weise die Verhinderung des Verbrechens, das sie finanziert hat, sichergestellt hat, ebenso wenn sie die Verhinderung der Tätigkeit der extremistischen Gesellschaft oder der extremistischen Organisation sichergestellt hat, für deren Sicherstellung der Tätigkeit sie Mittel zur Verfügung gestellt oder gesammelt oder finanzielle Dienstleistungen erbracht hat, wenn in ihren Handlungen kein anderer Straftatbestand enthalten ist."

Teilnahmen an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen (der Zeugen Jehovas) werden also von den russischen Behörden im Lichte der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts, des Auslegungserlasses und der Extremismus-Liste des russischen Justizministeriums im Rahmen der russischen Strafgesetze weiterhin verfolgt.

Eine nochmalige Internetrecherche der ÖB Moskau hat aber weiterhin keine Hinweise erbracht, dass einfache Gläubige der Zeugen Jehovas, die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen teilnehmen, von legalen Repressionen betroffen wären.

Quellen:

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ÖB Moskau (23.10.2018): Information per Email

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 19. Bewegungsfreiheit bzw. 19.2. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens).

Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

-

ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 4. Rechtsschutz / Justizwesen).

Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

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ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

0. "Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

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OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

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Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

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Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

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Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

0.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

0.2. Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018, vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen "Aufständischen" und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen, hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was r

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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