TE Vwgh Erkenntnis 2020/1/29 Ra 2019/18/0228

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Veröffentlicht am 29.01.2020
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter sowie die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des H J, vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in 4910 Ried/Innkreis, Promenade 3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. April 2019, W275 2184562-1/11E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang des Spruchpunktes A.III. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 16. Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass er und seine - nunmehr in Österreich asylberechtigte - Lebensgefährtin in Afghanistan Probleme gehabt hätten, weil sie bereits ihrem Cousin versprochen gewesen wäre und sich aber in den Revisionswerber verliebt habe. Auf ihre Initiative hin hätte sich der Revisionswerber wiederholt mit ihr getroffen. Der Revisionswerber sei deswegen mehrmals von Einheimischen bedroht und von den Verwandten seiner Lebensgefährtin misshandelt worden. Als die beiden von ihrer Schwangerschaft erfahren hätten, seien sie aus Angst vor der Familie der Lebensgefährtin des Revisionswerbers ausgereist.

2 Mit Bescheid vom 19. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung sowohl des Status eines Asylberechtigten als auch eines subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte die Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan fest (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte es mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

3 Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung statt, erkannte der Lebensgefährtin sowie dem minderjährigen Kind des Revisionswerbers im Rahmen des Familienverfahrens den Status der Asylberechtigten zu (Spruchpunkt A I.) und stellte fest, dass der Lebensgefährtin sowie dem Kind des Revisionswerbers kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt (Spruchpunkt A II.). Die Beschwerde des Revisionswerbers hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wies das BVwG als unbegründet ab (Spruchpunkt A III.), der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. gab es statt, erkannte dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A IV.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A V.). Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).

4 Begründend führte das BVwG zusammengefasst aus, dass das Vorbringen des Revisionswerbers, wonach er vom Vater und den Brüdern seiner Lebensgefährtin geschlagen worden sei, zwar glaubhaft, aber nicht asylrelevant sei. Die befürchtete Verfolgung gehe von Privatpersonen aus und stehe nicht im Zusammenhang mit einer politischen oder religiösen Gesinnung. Der mangelnde staatliche Schutz ergebe sich aus der mangelnden Effektivität der afghanischen Polizei. Es bestehe zwar ein Familienverfahren mit der minderjährigen Tochter, doch leite diese bereits ihren Status von der Mutter, der Lebensgefährtin des Revisionswerbers, ab, eine weitere Ableitung auf den Revisionswerber sei gemäß § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG 2005 nicht möglich. Die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz seien im Fall des Revisionswerbers jedoch gegeben, weil nicht davon ausgegangen werden könne, dass dem Revisionswerber ausreichender staatlicher Schutz zukommen würde. Es könne nicht mit erforderlicher Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Revisionswerber im Fall der Rückkehr nach Afghanistan keiner realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt werden würde. Die Rückkehr würde unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Revisionswerbers und der derzeit in Afghanistan vorherrschenden Sicherheitslage mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung darstellen.

5 Gegen den Spruchpunkt A.III. dieses Erkenntnisses wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, welche zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, dass das Erkenntnis die Judikatur zur völligen Unverhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen, die wegen eines Verstoßes gegen bestimmte in Afghanistan gesetzlich verbindliche Moralvorstellungen drohen würden, übergehe. 6 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

9 Unter "Verfolgung" im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen (vgl. zu alldem VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350, mwN).

10 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung nur dann Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der Flüchtlingskonvention genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 12.6.2018, Ra 2018/20/0177 bis 0180, mwN). 11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung auch wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass im Zusammenhang mit der Verquickung von Staat und Religion in muslimischen Staaten das Erfordernis einer Prüfung auch dem Schutz religiöser Werte dienender Strafvorschriften unter dem Gesichtspunkt einer unterstellten politischen Gesinnung besteht. Die völlige Unverhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen, die wegen eines Verstoßes gegen bestimmte im Herkunftsstaat gesetzlich verbindlichen Moralvorstellungen drohen, kann unter diesem Blickwinkel asylrelevant sein (vgl. VwGH 28.1.2015, Ra 2014/18/0112, mwN).

12 Das Verwaltungsgericht hat die Pflicht, für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen und auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 29.3.2019, Ra 2018/18/0539, mwN).

13 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht. Bereits vor dem BFA hat der Revisionswerber gleichlautend vorgebracht, er habe mit seiner Lebensgefährtin eine außereheliche körperliche Beziehung geführt, die bekannt geworden sei, weshalb ihm der Tod in Afghanistan drohe. Das BFA hat diesem Vorbringen die Glaubhaftigkeit nur abgesprochen, weil der Revisionswerber widersprüchlich angegeben habe, mit seiner Lebensgefährtin verheiratet zu sein. Auch in der Beschwerde hat der Revisionswerber darauf hingewiesen, dass er nicht verheiratet sei und nach islamischem Recht der außereheliche Geschlechtsverkehr eine Straftat darstelle. Das BVwG führte bloß aus, es sei glaubhaft, aber nicht asylrelevant, dass der Revisionswerber von den Verwandten seiner Lebensgefährtin geschlagen worden sei, nachdem diese vom telefonischen Kontakt zwischen jenen erfahren hätten. Dabei unterlässt es das BVwG auf das Parteivorbringen, wonach ihm aufgrund des außerehelichen Geschlechtsverkehrs der Tod drohe, einzugehen.

14 Vor diesem Hintergrund wäre im vorliegenden Verfahren vom BVwG eine nähere Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Revisionswerbers zur "Zina" (Ehebruch) zu erwarten gewesen. 15 Es fehlen aber sämtliche Feststellungen zum Umgang mit vorbzw. außerehelichem Geschlechtsverkehr in Afghanistan. Dieser bedarf es jedoch, um beurteilen zu können, ob das Vorbringen einen asylrelevanten Fluchtgrund darstellen könnte (vgl. zuletzt VwGH 18.11.2019, Ra 2019/18/0362). Sollte man dies bejahen, wäre es darüber hinaus im vorliegenden Fall von Bedeutung, ob es im Falle einer Privatverfolgung aufgrund der Begehung von "Zina" allenfalls die Möglichkeit gäbe, staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen; dies wurde vom BVwG bereits im angefochtenen Erkenntnis mit Verweis auf die mangelnde Effektivität der afghanischen Polizei verneint.

16 Es fehlen aber auch Feststellungen dazu, ob in Afghanistan der Staat selbst die außereheliche Beziehung und damit einen Verstoß gegen die religiösen Werte unter Strafe stelle. In der Beschwerde brachte der Revisionswerber bereits vor, dass außerehelicher Geschlechtsverkehr in Afghanistan sowohl nach islamischem als auch nach afghanischem Recht eine Straftat darstelle. Träfen diese Ausführungen auf den vorliegenden Fall zu, käme eine Schutzgewährung durch den Staat schon wegen dessen Strafverfolgungsanspruchs nicht in Betracht, wenn sich die staatlichen Strafverfolgungsmaßnahmen im Sinne der oben dargestellten Rechtsprechung als asylrelevant erweisen, weil sie sich als völlig unverhältnismäßig darstellen. Nach dem vom BVwG ins Verfahren eingebrachtem Länderinformationsblatt vom 9.1.2019 drohe bei Ehebruch die Todesstrafe. Würde die bei Verfolgung durch Privatpersonen in Erwägung zu ziehende Inanspruchnahme staatlichen Schutzes asylrelevante Verfolgung durch den Staat verursachen, ist es im Hinblick auf wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes des Heimatstaates zu bedienen. Ohne zur Frage des staatlichen Umgangs mit außerehelichem Geschlechtsverkehr Feststellungen zu treffen, konnte das BVwG nicht ohne Weiteres davon ausgehen, die Nichterlangung staatlichen Schutzes durch den Revisionswerber weise keinen Anknüpfungspunkt zu den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen auf (vgl. VwGH 20.5.2015, Ra 2015/20/0030).

17 Da daher nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensfehler hätte anders ausfallen können, war das angefochtene Erkenntnis im Ausmaß des Spruchpunktes A.III. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 29. Jänner 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180228.L01

Im RIS seit

27.02.2020

Zuletzt aktualisiert am

27.02.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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