Index
19/05 MenschenrechteNorm
ASVG §4 Abs2Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima LL.M., über die Revision der Salzburger Gebietskrankenkasse, nunmehr Österreichische Gesundheitskasse, vertreten durch Niederhuber & Partner Rechtsanwälte GmbH in 5020 Salzburg, Wilhelm-Spazier-Straße 2a, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12. September 2019, Zl. L501 2004850-1/12E, betreffend Zurückverweisung in einer Angelegenheit der Pflichtversicherung nach dem ASVG und dem AlVG (mitbeteiligte Parteien: 1) Dr. W A als Masseverwalter im Konkurs über das Vermögen der R, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Siebenstädterstraße 64; 2) Pensionsversicherungsanstalt in 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1; 3) Allgemeine Unfallversicherungsanstalt in 1200 Wien, Adalbert-Stifter Straße 65-67, 4) F N, 5) H G, 6) V Z, 7) F P, 8) B A, 9) F A, 10) M A, 11) S A, 12) P B, 13) G B, 14) H B, 15) T D, 16) M E, 17) F E, 18) R E, 19) C F, 20) M G, 21) T H, 22) M H, 23) M K, 24) H K, 25) B M, 26) W L, 27) A L, 28) H M, 29) T N, 30) B O, 31) K S, 32) M S, 33) M S, 34) M S, 35) R S, 36) E S, 37) P W, 38) L W; weitere Partei: Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 19. April 2013 stellte die revisionswerbende Gebietskrankenkasse (im Folgenden: GK) fest, dass die viert- bis siebtmitbeteiligte Partei sowie die weiteren in Anlage 1 zu diesem Bescheid namentlich angeführten 31 Personen zu näher angegebenen Beschäftigungszeiten auf Grund der für die erstmitbeteiligte Partei als Dienstgeber in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit ausgeübten, entgeltlichen Tätigkeit der Pflicht-(Voll)versicherung in der Kranken-, Unfall-, Pensions- und Arbeitslosenversicherung gemäß § 4 Abs. 1 und 2 ASVG und § 1 Abs. 1 lit. a AlVG unterliegen.
2 Mit dem in Revision gezogenen Beschluss hat das Bundesverwaltungsgericht diesen Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die GK zurückverwiesen. Die GK habe „relevante Ermittlungen bzw. die Feststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts“ unterlassen. Die als Verkaufsleiter angesehenen viert- bis sechstmitbeteiligten Parteien sowie der als Filialleiter des Callcenters angesehene Siebtmitbeteiligte seien von der GK nicht einvernommen worden. Drei der 31 vom erstinstanzlichen Bescheid umfassten Warenpräsentatoren seien von der GK einvernommen worden. Einer sei im Zuge einer anderweitigen Ermittlung nach Bescheiderlassung lediglich gefragt worden, ob die Feststellungen im erstinstanzlichen Bescheid der Wahrheit entsprechen würden. Von den ca. 200 bis 300 österreichweit für die erstmitbeteiligte Partei tätigen Warenpräsentatoren seien sieben von der steiermärkischen bzw. von der niederösterreichischen Gebietskrankenkasse einvernommen worden.
3 Die GK habe die Pflichtversicherung der viert- bis sechstmitbeteiligten Parteien auf die Niederschriften mit den Präsentatoren, ein E-Mail des Viertmitbeteiligten an die Präsentatoren, auf die persönliche Wahrnehmung des Prüfers vor Ort, wonach die genannten mitbeteiligten Parteien über Büroräumlichkeiten bei der erstmitbeteiligten Partei verfügt hätten, sowie einen Artikel in der Zeitschrift „Weekend Salzburg“ gestützt. Den wenigen Einvernahmen mit den Präsentatoren sei nun zwar deren Einstellung sowie deren Schulung durch die viert- bis sechstmitbeteiligte Partei zu entnehmen, sie seien jedoch nicht so aussagekräftig, dass daraus das Fehlen einer Vertretungsmöglichkeit bzw. eine Einbindung in den Betriebsablauf hervorgehen würde. Auch die hinsichtlich des Siebtmitbeteiligten festgestellte Einbindung sei nicht durch eine Befragung abgeklärt worden. Es sei nicht geprüft worden, wie der zwischen ihm und der erstmitbeteiligten Partei abgeschlossene Vertrag tatsächlich gelebt worden sei. Die Pflichtversicherung der 31 weiteren Personen sei auf die drei von der GK einvernommenen Personen sowie auf die sieben - nicht vom erstinstanzlichen Bescheid umfassten - von anderen Gebietskrankenkassen Befragten gestützt worden.
4 In Fällen, in denen sich - wie hier - die Rechtsfrage abstrakt für eine Vielzahl von Personen stelle, die sich alle in vergleichbaren Situationen befunden hätten, könne einer prozessökonomischen Zielsetzung durch prozessuale Maßnahmen entsprochen werden, etwa durch die Herausarbeitung verallgemeinerungsfähiger Sachverhaltselemente aus Musterfällen oder auch durch Abstandnahme von weiteren Zeugeneinvernehmungen bei entsprechendem Stand der Ermittlungen und der Vorbringen. Dies erfordere eine Klärung der in einen oder mehreren Beispielfällen gegebenen repräsentativen Sachverhaltskonstellationen, um entsprechende Fallgruppen bilden zu können, wobei es weiters erforderlich sei, diese „Musterfälle“ mit Bedacht auszuwählen.
5 Im gegenständlichen Verfahren seien von der GK weder Fallgruppen (Cluster) gebildet noch einzelne Musterfälle herausgearbeitet worden, unter die die übrigen Betroffenen subsumierbar wären. Es sei auch verabsäumt worden zu klären, ob (und wenn ja, warum) jene drei Personen, denen ein Fragebogen übermittelt worden sei, für die übrigen 28 Personen repräsentativ seien. Zwei der Personen hätten ausgesagt, dass man einen Termin ohne Sanktionen habe ablehnen können. Dies sei bei einer der befragten Personen einmal vorgekommen, bei der anderen öfters. Die dritte Auskunftsperson habe angegeben, sie glaube, dass eine Absage ohne Angabe von Gründen am selben Tag sehr unangenehm für sie gewesen wäre. Ebenso uneinheitlich seien die diesbezüglichen Angaben der von den anderen Kassen befragten Warenpräsentatoren ausgefallen. Aus den Befragungen auch zu anderen Themen (etwa Vertretung, Hilfspersonen, etc.) hätten sich keine „wirklichen Übereinstimmungen“ ableiten lassen. Wenngleich für eine Erhebung der repräsentativen Sachverhaltskonstellationen keine lückenlose Einvernahme aller Betroffenen zwingend erforderlich sei, so erscheine die Einvernahme von drei Personen, deren Aussagen kein stimmiges Bild ergeben würden, jedenfalls nicht ausreichend.
6 Die GK habe Ermittlungstätigkeiten unterlassen, die für die Beurteilung des Sachverhalts unabdingbar wären, sodass keine Ermittlungsergebnisse vorlägen, welche allenfalls im Zusammenhalt mit einer durchzuführenden Verhandlung ergänzt und zu einer meritorischen Entscheidung hätten herangezogen werden können. Es wäre vielmehr das gesamte erforderliche Ermittlungsverfahren betreffend die viert- bis siebtmitbeteiligte Partei sowie die 31 Warenpräsentatoren - beginnend mit jenen Ermittlungen, welche ein „Clustern“ überhaupt erst zulassen würden - erstmalig durch das Bundesverwaltungsgericht durchzuführen.
7 Es sei sohin das dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG eingeräumte Ermessen im Sinne einer kassatorischen Entscheidung auszuüben und das Verfahren an die belangte Behörde zurückzuverweisen.
8 Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
9 Gegen diesen Beschluss richtet sich die Revision der GK.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die GK bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, dass im vorliegenden Fall drei von 33 Personen (9,6 %) von ihr einvernommen worden seien. Darüber hinaus stütze sich der festgestellte Sachverhalt auf Wahrnehmungen vor Ort, diverse Unterlagen usw, die einer ausführlichen Beweiswürdigung unterzogen worden seien. In Anbetracht dessen seien dem Bundesverwaltungsgericht brauchbare Ermittlungsergebnisse vorgelegen, die von ihm allenfalls zu vervollständigen gewesen wären. Mit dem angefochtenen Beschluss weiche das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen der Aufhebung und der Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Fall VwGVG ab.
11 Die Revision ist aus dem genannten Grund zulässig und berechtigt.
12 Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte darstellt. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, rechtfertigen keine Zurückverweisung der Sache, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung zu vervollständigen sind (vgl. VwGH 8.5.2018, Ro 2018/08/0007, mwN).
13 In Anbetracht der ausführlichen und aussagekräftigen Feststellungen der GK im erstinstanzlichen Bescheid lagen dem Bundesverwaltungsgericht brauchbare Ermittlungsergebnisse vor, die von ihm ausgehend vom Beschwerdevorbringen mit den Parteien zu erörtern und allenfalls zu vervollständigen gewesen wären. Das Bundesverwaltungsgericht lässt bei seiner Kritik an den angeblich unzureichenden Zeugenbefragungen außer Acht, dass eine den Anforderungen des Art. 6 EMRK entsprechende Sachverhaltsermittlung, insbesondere die (nochmalige) Vernehmung von Zeugen über strittige Beweisthemen, ohnehin nur von ihm selbst vorgenommen werden kann.
14 Die entscheidungswesentliche Rechtsfrage, ob ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis vorliegt, stellt sich hier für eine Vielzahl von Personen, die sich womöglich alle oder zumindest gruppenweise bei Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit in der gleichen Situation befunden haben. In solchen Fällen können die prozessökonomischen Zielsetzungen des § 39 AVG iVm § 17 VwGVG zB durch die Ermittlung der Sachverhaltselemente, die bei allen Dienstnehmern oder zumindest bei bestimmten Gruppen von ihnen gleichermaßen vorliegen, erreicht werden. Das Verwaltungsgericht kann sich auf die Klärung der in einem oder mehreren Beispielsfällen gegebenen, repräsentativen Sachverhaltskonstellationen beschränken - ähnlich wie es die Gebietskrankenkasse im erstinstanzlichen Verfahren gemacht hat - und bei entsprechendem Stand der Ermittlungen und der Vorbringen in freier Beweiswürdigung von weiteren Zeugenvernehmungen Abstand nehmen (VwGH 25.4.2019, Ra 2019/08/0035, mwN).
15 Der angefochtene Beschluss war gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 29. Jänner 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019080154.L00Im RIS seit
05.01.2021Zuletzt aktualisiert am
07.01.2021