TE OGH 2020/2/10 7Ob16/20h

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Veröffentlicht am 10.02.2020
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei F***** S*****, vertreten durch Mag. Martin Divitschek und andere Rechtsanwälte in Deutschlandsberg, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 15.555 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 25. April 2018, GZ 7 R 70/17v-14, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 2. November 2017, GZ 13 Cg 36/17b-10, bestätigt wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

I. Das Revisionsverfahren wird fortgesetzt.

II. Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.332,54 EUR (darin 222,09 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger stellte am 29. Oktober 2007 bei der Beklagten einen Antrag auf Abschluss einer klassischen Ab- und Erlebensversicherung mit Prämien von anfangs 100 EUR pro Monat. In diesem Antrag wurde er schriftlich wie folgt auf sein Rücktrittsrecht hingewiesen:

Der Antragsteller kann innerhalb von 31 Tagen nach Zugang der Polizze schriftlich vom Vertrag zurücktreten. Es genügt, wenn die Rücktrittserklärung innerhalb des genannten Zeitraumes abgesendet wird. Die einzelnen gesetzlichen Rücktrittsregelungen sind in den §§ 3 und 3a KSchG sowie in den §§ 5b und 165a VersVG enthalten. Den Gesetzeswortlaut entnehmen Sie bitte unserer Homepage www.u*****.at. Wir senden Ihnen diesen auf Wunsch auch kostenlos zu.

Der Kläger unterfertigte den Antrag gleichzeitig mit den Erklärungen und Hinweisen, in denen die Belehrung zum Rücktrittsrecht enthalten war, eigenhändig. Es kam antragsgemäß zur Polizzierung der Lebensversicherung mit dem Versicherungsbeginn 1. Dezember 2007 und dem Versicherungsende 1. Dezember 2040.

Der Kläger erklärte mit Schreiben vom 26. April 2017 den Rücktritt vom Versicherungsvertrag, weil er nicht ordnungsgemäß über sein Rücktrittsrecht belehrt worden sei.

Die Beklagte ist „dem Rücktrittsersuchen … nicht näher getreten“.

Der Kläger begehrt die Rückzahlung aller gezahlten Prämien einschließlich Versicherungssteuer und 4 % kapitalisierten Zinsen bis 30. Juni 2017 samt 4 % Zinsen seit Klagseinbringung sowie die Feststellung, dass der Versicherungsvertrag aufgehoben und der Kläger von der weiteren Prämienzahlungsverpflichtung befreit sei. Die Schriftlichkeit der Rücktrittserklärung sei in § 165a VersVG nicht vorgesehen. Im Lichte von 7 Ob 107/15h und der Entscheidung des EuGH 19. 12. 2013, C-209/12, Endress, folge aus dieser fehlerhaften Belehrung ein unbefristetes Rücktrittsrecht, welches mangels Kenntnis weder verjährt noch rechtsmissbräuchlich sei.

Die Beklagte wandte ein, die Belehrung sei zutreffend und gesetzeskonform erfolgt, die 30-tägige Rücktrittsfrist des § 165a VersVG sei abgelaufen, das Rücktrittsrecht sei verjährt und werde rechtsmissbräuchlich geltend gemacht.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und bewertete den Entscheidungsgegenstand als 5.000 EUR, nicht jedoch 30.000 EUR übersteigend. Es ließ die ordentliche Revision zu, weil zur Frage, ob infolge einer Belehrung des Versicherers, dass der Versicherungsnehmer seine Rücktrittserklärung nach § 165a VersVG schriftlich abzugeben habe, diesem ein unbefristetes Rücktrittsrecht zustehe, keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege, und die Entscheidung des Berufungsgerichts im Widerspruch zu 7 Ob 107/15h stehen könne.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, der Klage stattzugeben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Zu I.:

1. Der Senat hat aus Anlass der Revision mit Beschluss vom 26. September 2018, AZ 7 Ob 124/18p, das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das Vorabentscheidungsersuchen vom 12. Juli 2018 des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien (GZ 13 C 738/17z-12 [13 C 8/18y, 13 C 21/18k und 13 C 2/18s]), Rechtssache C-479/18, UNIQA Österreich Versicherungen ua, unterbrochen.

2. Der EuGH hat mit Urteil vom 19. Dezember 2019 in den verbundenen Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18 auch über dieses Vorabentscheidungsersuchen entschieden.

3. Das Revisionsverfahren ist daher fortzusetzen.

Zu II.:

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.

A. Vorlagefragen und Beantwortungen

A.1.1. Dem EuGH wurde unter anderem folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Vorlagefrage 1: Sind „Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 in Verbindung mit deren Art. 186 Abs. 1 dahin auszulegen (...), dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die dem Versicherungsnehmer vom Versicherer mitgeteilt werden, entweder nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder eine Form verlangt wird, die das auf den Vertrag anwendbare nationale Recht nicht vorschreibt“? (EuGH 19. 12. 2019, C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rn 60).

A.1.2. Diese Vorlagefrage 1 hat der EuGH wie folgt beantwortet:

„1. Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG in der durch die Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung), Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) in Verbindung mit deren Art. 186 Abs. 1 sind dahin auszulegen, dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt,

– nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder

– eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht oder den Bestimmungen des Vertrags nicht vorgeschrieben ist, solange dem Versicherungsnehmer durch die Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Die vorlegenden Gerichte werden im Wege einer Gesamtwürdigung, bei der insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen sein wird, zu prüfen haben, ob den Versicherungsnehmern diese Möglichkeit durch den in den ihnen mitgeteilten Informationen enthaltenen Fehler genommen wurde.“

B. Belehrung über das Rücktrittsrecht

B.1. Zum nationalen (österreichischen) Recht:

B.1.1. Der bei Vertragsabschluss geltende § 165a VersVG (idF VersRÄG 2006, BGBl I 2006/95) lautete soweit hier relevant:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen 30 Tagen nach seiner Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten. …“

B.1.2. Der bei Vertragsabschluss geltende § 178 VersVG (idF BGBl 1994/509) lautete auszugsweise:

„(1) Auf eine Vereinbarung, die von den Vorschriften der §§ 162 bis 164, der §§ 165, 165a und 169 oder des § 171 Abs 1 Satz 2 zum Nachteil des Versicherungsnehmers abweicht, kann sich der Versicherer nicht berufen. Jedoch kann für die Kündigung, zu der nach § 165 der Versicherungsnehmer berechtigt ist, die Schriftform ausbedungen werden.“

B.1.3. § 9a Abs 1 VAG in der bis 9. Dezember 2007 geltenden Fassung (BGBl 1996/447) lautete auszugsweise:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist bei Abschluss eines Versicherungsvertrages über ein im Inland belegenes Risiko vor Abgabe seiner Vertragserklärung schriftlich zu informieren über

...

6. die Umstände, unter denen der Versicherungsnehmer den Abschluss des Versicherungsvertrages widerrufen oder von diesem zurücktreten kann.“

B.2. Zur Rechtsbelehrung der Beklagten:

B.2.1. Das Antragsformular der Beklagten enthielt in der Rechtsbelehrung über die Rücktrittsrechte des Versicherungsnehmers den Hinweis, dass ein Rücktritt einerseits nur schriftlich und andererseits binnen 31 Tagen möglich sei.

B.2.2. § 165a Abs 1 VersVG idF VersRÄG 2006 sah für die Erklärung des dem Versicherungsnehmers eingeräumten Rücktritts eine Frist von 30 Tagen vor. Die in der Belehrung vorgesehene unrichtige Frist von 31 Tagen verlängerte diese von Unionsrecht und nationalem Recht vorgesehene Frist. Eine solche unrichtige Wiedergabe der Rechtslage war aber schon deshalb nicht geeignet, die Möglichkeit des Klägers zum Rücktritt zu beeinträchtigen, weil sie ihm zu seinen Gunsten eine längere Überlegungszeit einräumte und nicht erkennbar ist, wie ihn dies daran gehindert hätte, innerhalb der längeren Frist einen Rücktritt zu erklären. Auf diese Frage kommt die Revision auch nicht tragend zurück.

B.2.3. Die Rechtsbelehrung über das Rücktrittsrecht des Versicherungsnehmers durch die Beklagte widersprach inhaltlich weder dem seinerseits geltenden Unionsrecht noch der österreichischen Rechtslage und war daher – nach dem Inhalt – nicht fehlerhaft, sondern richtig.

B.2.4. Der bei Vertragsabschluss geltende § 165a Abs 1 VersVG idF BGBl I 1997/6) verlangte für die Erklärung des dem Versicherungsnehmer eingeräumten Rücktritts keine Schriftform. Auf eine davon zum Nachteil des Versicherungsnehmers abweichende Vereinbarung einer Schriftform konnte und kann sich der Versicherer nach § 178 VersVG (idF BGBl 1994/509) nicht berufen.

B.2.5. Der Kläger vertritt in seiner Revision die Rechtsansicht, dass ihn die Beklagte deshalb unrichtig belehrt habe, weil sie für den Rücktritt nach § 165a Abs 1 VersVG die Einhaltung der Schriftform verlangt habe, was Unterschriftlichkeit bedeute. Dies weiche, anders als das Berufungsgericht meine, zum Nachteil des Versicherungsnehmers vom Gesetz ab und könne ihm daher nach § 178 Abs 1 VersVG nicht entgegengehalten werden, der in Ansehung des § 165a VersVG die Vereinbarung der Schriftform auch nicht zulasse.

Entgegen der Ansicht des Klägers folgt daraus aber nicht ein unbefristetes Rücktrittsrecht:

C. Schriftformerfordernis und Wahrnehmung des Rücktrittsrechts

C.1. Zwar liegt betreffend die Form der Rücktrittserklärung insoweit eine unvollständige bzw unrichtige Belehrung durch die Beklagte vor, als „nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen (österreichischen) Recht keiner besonderen Form bedarf“ und „eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen (österreichischen) Recht … nicht vorgeschrieben ist“ (EuGH C-355/18 ua).

C.2. Aus der Beantwortung der Vorlagefrage 1 durch den EuGH folgt allerdings, dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt, nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht nicht vorgeschrieben ist, solange dem Versicherungsnehmer durch die Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben.

C.3. Nach Ansicht des Fachsenats wurde dem Versicherungsnehmer durch das Verlangen des Versicherers nach Einhaltung der Schriftform für die Ausübung seines Rücktrittsrechts nach § 165a Abs 1 VersVG idF VersRÄG 2006 nicht die Möglichkeit genommen, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Dies folgt im gegebenen Kontext aus folgenden Erwägungen:

C.4.1. § 165a Abs 1 VersVG idF VersRÄG 2006 sah für die Ausübung des Rücktrittsrechts keine besondere Form vor. § 178 Abs 1 VersVG (idF BGBl 1994/509) bestimmte, dass sich der Versicherer auf eine Vereinbarung, die von den Vorschriften (ua) des § 165a VersVG idF VersRÄG 2006 zum Nachteil des Versicherungsnehmers abweicht, nicht berufen kann. Selbst wenn sich also der Kläger als Versicherungsnehmer für einen von ihm gegebenenfalls gewünschten Rücktritt nach § 165a Abs 1 VersVG idF VersRÄG 2006 nicht an die Schriftform gehalten, diesen etwa mündlich (telefonisch) oder per E-Mail erklärt hätte, hätte sich die Beklagte nicht auf die Einhaltung der Schriftform berufen können. Ein Rücktritt des Klägers nach § 165a Abs 1 VersVG idF VersRÄG 2006 hätte also ungeachtet der Rechtsbelehrung der Beklagen in jeder beliebigen Form – wirksam – erfolgen können.

C.4.2. Nach Art 31 Abs 4 der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung), Art 36 Abs 4 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen bzw Art 185 Abs 8 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) haben die Mitgliedstaaten die Durchführungsvorschriften zur unionsrechtlich vorgegebenen Belehrung zu erlassen. Gegenstand der Belehrung sind (ua) „die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts“, welche wiederum nach Art 15 Abs 1 Unterabs 3 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG, Art 35 Abs 1 Unterabs 3 der Richtlinie 2002/83/EG bzw Art 186 Abs 1 Unterabs 3 der Solvabilität II-Richtlinie ebenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegen sind (vgl dazu auch EuGH C-355/18 ua Rn 61 f). Daraus folgt, dass der europäische Gesetzgeber den Mitgliedstaaten keine bestimmten Vorgaben für die Form der Ausübung des Rücktrittsrechts erteilt, sondern diesen deren Festlegung überlassen hat.

Der österreichische Gesetzgeber hat Art 186 Abs 1 der Solvabilität II-Richtlinie mit dem Bundesgesetz, mit dem das Versicherungsvertragsgesetz, das Konsumentenschutzgesetz und das Versicherungsaufsichtsgesetz 2016 geändert werden (BGBl I 2018/51) in Form des einheitlichen Rücktrittsrechts nach § 5c VersVG (idgF) umgesetzt. Als Grund für die in § 5c Abs 4 Satz 1 VersVG iVm § 1b VersVG (idgF) für den Rücktritt vorgeschriebene Form führte der österreichische Gesetzgeber aus (IA 302/A 26. GP 5):

„Für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach § 5c wird im Hinblick auf die notwendige Beweisbarkeit für die rechtzeitige Absendung der Rücktrittserklärung die geschriebene Form vorgesehen. Die Vereinbarung einer strengeren Form soll nicht möglich sein. Damit werden die Voraussetzungen für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach Art 186 Abs 1 Richtlinie 2009/138/EG gesetzlich geregelt.“

Der Gesetzgeber misst damit der Beweisbarkeit der Ausübung des Rücktrittsrechts besondere Bedeutung zu.

C.4.3. Im Alltag ist für eine Vielzahl von (rechtsgeschäftlichen) Erklärungen die Schriftform auch bei Privaten (Verbrauchern) eine geradezu typische und faktisch regelmäßig praktizierte Mitteilungsform, die für jedermann einfach und ohne besonderen Aufwand durchzuführen ist, sodass keine für ihre Effektivität relevanten Hürden entgegenstehen. Der Schriftform für den Rücktritt vom Lebensversicherungsvertrag stehen keine grundsätzlichen europarechtlichen Bedenken entgegen (vgl oben C.4.2.) und gerade die Schriftform beseitigt – im Unterschied zu mündlichen oder fernmündlichen Erklärungen – Zweifel über Zeitpunkt und Inhalt einer Rücktrittserklärung und dient insofern dem – auch vom Gesetzgeber betonten (oben
C.4.2.) – Schutz des Versicherungsnehmers bei der Wahrnehmung des Nachweises eines erhobenen Rücktritts. War daher eine Rechtsbelehrung des Versicherers oder eine in seinen allgemeinen Versicherungsbedingungen enthaltene Regelung dahin zu verstehen, dass der Rücktritt nach § 165a Abs 1 VersVG idF VersRÄG 2006 schriftlich zu erklären sei, dann ist dies keine relevante Erschwernis dieses Rücktrittsrechts, die dem Versicherungsnehmer dessen unbefristete Ausübung erlauben würde.

D. Ergebnis

D.1. Aus der Belehrung, für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach § 165a Abs 1 VersVG idF VersRÄG 2006 sei die Schriftform erforderlich, folgt keine relevante Erschwernis dieses Rücktrittsrechts. Auf die Einhaltung der Schriftform konnte sich die Beklagte zudem auch nicht berufen, sodass ein allfälliger Rücktritt des Klägers in jeder beliebigen Form wirksam gewesen wäre. Die Schriftform steht im gegebenen Kontext nicht mit europarechtlichen Vorgaben im Widerspruch, ist eine für jedermann mögliche, auch für Private (Verbraucher) ohne praktische Hürden wahrnehmbare und faktisch regelmäßig praktizierte Mitteilungsform und dient im vorliegenden Zusammenhang dem Schutz des Versicherungsnehmers bei der Wahrnehmung seiner Beweispflicht. Ausgehend von der Beantwortung der Vorlagefrage 1 durch den EuGH C-355/18 ua erlaubte daher ein Verlangen der Beklagten nach einer schriftlichen Ausübung des Rücktritts nach § 165a Abs 1 VersVG idF VersRÄG 2006 einen Rücktritt im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen und war daher keine relevante Erschwernis dieses Rücktrittsrechts, die dessen unbefristete Ausübung erlauben würde.

D.2. Das Rücktrittsrecht nach § 165a Abs 1 VersVG idF VersRÄG 2006 hat daher im vorliegenden Fall bereits mit dem Zeitpunkt zu laufen begonnen, zu dem der Beklagte davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass der Vertrag geschlossen ist, hier also mit Zusendung der Polizze unstrittig sogleich nach dem Antrag im Jahr 2007. Der im Jahr 2017 erklärte Vertragsrücktritt ist daher längst verfristet.

D.3. Weitere Fragen zur Verjährung von Zinsen im Fall eines berechtigten Rücktritts des Versicherungsnehmers und zur Rückforderbarkeit der Versicherungssteuer stellen sich somit nicht.

Die Vorinstanzen haben die Klagebegehren zu Recht abgewiesen; der Revision ist ein Erfolg zu versagen.

E. Kosten

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.

Textnummer

E127445

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00016.20H.0210.000

Im RIS seit

27.02.2020

Zuletzt aktualisiert am

19.06.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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