TE Vfgh Erkenntnis 1996/9/24 B1216/95

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Veröffentlicht am 24.09.1996
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
AufenthaltsG §6 Abs2
AufenthaltsG §6 Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Abweisung von Anträgen auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung wegen Versäumung der im AufenthaltsG normierten Frist von vier Wochen vor Ablauf der gültigen Bewilligung zur Stellung von Verlängerungsanträgen; Unterlassung der im Sinne einer verfassungskonformen Interpretation trotz imperativer Anordnung im Gesetz gebotenen Interessenabwägung

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid in dem durch Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit 18.000,-- S bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Beschwerdeführerin, geboren am 4. Juni 1962, war Staatsangehörige der ehemaligen Republik Jugoslawien, lebt - den unwidersprochen gebliebenen Beschwerdeausführungen zufolge - seit 1970 mit einer Unterbrechung von 1982 bis 1986 in Österreich und hatte zuletzt eine Aufenthaltsbewilligung gültig bis 4. November 1994. Am 24. November 1994 stellte sie einen Verlängerungsantrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung; aus dem Inhalt der Verwaltungsakten ergibt sich aber, daß die belangte Behörde eine Antragstellung durch die Beschwerdeführerin am 4. November 1994 nicht ausschließen kann.

2. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies der Bundesminister für Inneres die Berufung ab und führte in der Begründung aus, der Verlängerungsantrag sei verspätet gestellt worden. Infolge der Verfahrensvorschrift des §6 Abs3 Aufenthaltsgesetz, BGBl. 466/1992 idF 505/1994 (AufG), sei die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ausgeschlossen und auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin - auch in Zusammenhang mit ihren persönlichen Verhältnissen - nicht weiter einzugehen.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, mit der insbesondere die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 Abs1 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

4. Der Bundesminister für Inneres als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und beantragte - ohne auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin einzugehen - die Abweisung der Beschwerde.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Der angefochtene, die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung nach dem AufG versagende Bescheid greift in das der Beschwerdeführerin durch Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein, da sie sich seit 1970 mit Unterbrechung und seit 1986 ununterbrochen in Österreich aufhält.

2. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, daß dieser mit Gesetzeslosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

Wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis vom 10. Oktober 1995, B1722/94 ua., mit näherer Begründung dargelegt hat, ist die Behörde auch bei Anwendung der Bestimmung des §6 Abs3 AufG idF vor der Novelle BGBl. 351/1995, die eine Antragstellung spätestens vier Wochen vor Ablauf der Geltungsdauer der Bewilligung vorsah, in Fällen, in denen durch die Versagung der Bewilligung in das durch Art8 Abs1 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingegriffen wird, verhalten, die Notwendigkeit der Versagung aus den in Art8 Abs2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen zu prüfen und dabei auch auf die familiären und sonstigen privaten Interessen des Bewilligungswerbers Bedacht zu nehmen.

3. Die belangte Behörde hat - ausgehend von einer verfehlten Rechtsansicht - diese iS des Art8 EMRK gebotene Interessenabwägung nicht vorgenommen.

Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer von 3.000,-- S enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben, Interessenabwägung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1996:B1216.1995

Dokumentnummer

JFT_10039076_95B01216_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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