TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/20 W192 2192553-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.11.2019
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Entscheidungsdatum

20.11.2019

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §52
FPG §54
FPG §55

Spruch

W192 1413738-2/13E

W192 2192549-1/8E

W192 2192553-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , und

2.) XXXX , geb. XXXX , beide StA. Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.03.2018,

Zahlen: 1.) 781301201-180011988 und 2.) 1091840309-180022637, zu

Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I., II. und III. 1.

Satz werden gemäß §§ 9 Abs. 1 Z.1 und Abs. 4, 57 AsylG 2005 i.d.g.F. als unbegründet abgewiesen.

II. In Erledigung der Beschwerden gegen die Spruchpunkte III. (2. und 3. Satz) und IV. wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung jeweils gemäß § 52 FPG 2005 i.d.g.F. iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG i.d.g.F, auf Dauer unzulässig ist. Gemäß §§ 54 und 55 AsylG 2005 i.d.g.F. wird 1.) XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" und 2.) XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von 3.) XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.03.2018, Zahl: 1167919507-171059345, zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. wird gemäß §§ 3, 8, 57 AsylG 2005 i.d.g.F. als unbegründet abgewiesen.

II. In Erledigung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG 2005 i.d.g.F. iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG i.d.g.F, auf Dauer unzulässig ist. Gemäß §§ 54 und 55 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1.1. Die damals minderjährige Erstbeschwerdeführerin stellte nach gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern erfolgter illegaler Einreise am 22.12.2008 gemeinsam mit diesen einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie brachte bei der Erstbefragung vor, dass sie und ihre Schwestern von ihrem Vater, der ein Alkoholiker sei, häufig misshandelt worden seien.

Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 13.04.2010 gab sie im Beisein ihrer Mutter als gesetzliche Vertreterin an, dass sie fünf Jahre lang im Haushalt des Vaters gelebt habe und dort ebenso wie ihre Schwestern schlecht behandelt und geschlagen worden sei. Sie und ihre Schwestern hätten bei ihrer Mutter leben wollen.

1.2. Mit Bescheid des Bundesasylamts vom 21.05.2010 wurde der Erstbeschwerdeführerin nach Abweisung ihres Antrages bezüglich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 21.05.2011 erteilt. Die Behörde stellte zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftslandes fest, dass nicht glaubhaft gewesen sei, dass die Erstbeschwerdeführerin im Haushalt ihres Vaters unzureichend versorgt oder misshandelt worden sei oder sie persönliche Probleme mit Behörden des Herkunftsstaates gehabt oder dort einer Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Da der Mutter der Erstbeschwerdeführerin mit Bescheid der Behörde vom selben Tag der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, habe die Erstbeschwerdeführerin im Rahmen des Familienverfahrens den gleichen Schutz zu erhalten.

Eine gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobene Beschwerde wurde von der Mutter der Erstbeschwerdeführerin als deren gesetzliche Vertreterin im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 16.12.2010 zurückgezogen.

In weiterer Folge wurde die für die Erstbeschwerdeführerin erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte laufend verlängert, zuletzt bis 21.05.2018.

1.3. Am 21.10.2015 stellte die Erstbeschwerdeführerin für ihre in Österreich geborene Tochter, die Zweitbeschwerdeführerin, einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Zweitbeschwerdeführerin wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 29.10.2015 im Rahmen des Familienverfahrens abgeleitet vom Status der Erstbeschwerdeführerin der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Für sie wurde zuletzt eine Aufenthaltsberechtigung mit Befristung bis 05.11.2018 erteilt.

1.4. Am 14.09.2017 brachte die Erstbeschwerdeführerin für ihren mittlerweile geborenen Sohn einen Antrag auf internationalem Schutz im Familienverfahren beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein, wobei sie eine am 20.03.2017 in Grosny ausgestellte russische Geburtsurkunde vorlegte. Sie gab bei der Behörde an, dass die Geburt während ihres Urlaubes in Russland erfolgt sei.

2.1. Bei einer Einvernahme durch das BFA am 26.01.2018 brachte die Erstbeschwerdeführerin vor, dass sie gesund sei. Sie wurde darauf hingewiesen, dass ein amtswegiges Aberkennungsverfahren eingeleitet worden sei. Auf Befragen gab sie an, dass ihre Tochter in Wien und ihr Sohn in Weißrussland geboren worden seien. Die Erstbeschwerdeführerin habe keine Angehörigen in Russland, mit ihrem Vater habe sie keinen Kontakt. Nur ihr Freund lebe in Russland. Dieser, der Vater ihrer Kinder, sei einmal mit einem Visum in Österreich gewesen, wo sie ihn kennengelernt habe. Er sei dann wieder zurückgekehrt. Der Kontakt sei abgebrochen und die Erstbeschwerdeführerin sei deswegen nach Russland gereist. Sie sei Ende Jänner hingefahren, ihr Kind sei zu früh geboren worden und sie sei Ende Mai zurückgekommen. In weiterer Folge brachte sie vor, dass sie dort nur einen Monat verbracht habe. Ihr Sohn sei klein gewesen und sie habe sich erkundigen müssen, wie sie zurückfahren könne. Sie änderte die Angaben zu ihrer Aufenthaltsdauer weiter dahingehend, dass sie bis Ende März in Russland gewesen sei. Sie habe auf der Straße einen Freund ihres Freundes getroffen, der ihr dessen Adresse gegeben habe. Sie sei zu ihm gefahren und habe festgestellt, dass er schon verheiratet sei. Dann habe sie zurückkehren wollen. Sie sei zunächst in ein Hotel gegangen und dann in ein Krankenhaus gebracht worden und habe den Drittbeschwerdeführer zur Welt gebracht. Nach fünf oder sechs Tagen im Krankenhaus habe ihr Freund sie zu einer Wohnung gebracht und in weiterer Folge habe der Freund einen Taxilenker gefunden, der die Erstbeschwerdeführerin gegen Übergabe eines Ringes, einer Kette und etwas Geld nach Österreich gebracht habe.

Seit 2008 sei die Erstbeschwerdeführerin das erste Mal in Russland gewesen. Sie habe dort keine Probleme gehabt, sei nur in der Wohnung mit ihrem Sohn gesessen und nicht hinausgegangen. Sie habe Angst gehabt, weil sie mit dem Baby ganz alleine gewesen sei. Sie wisse nicht, ob ihre Kinder in Russland Probleme zu befürchten hätten.

Die Erstbeschwerdeführerin bestätigte, dass sie arbeitsfähig sei und brachte vor, dass sie zwei Jahre als Zahnarztassistentin gearbeitet und dann ihre Tochter bekommen habe. Die Erstbeschwerdeführerin lebe mit ihren beiden Kindern in der Mietwohnung bei ihrer Mutter, die erwerbstätig sei. Zum Hinweis, dass sie laut einem Versicherungsdatenauszug nur vom 08.01.2013 bis 31.08.2014 gearbeitet habe, brachte sie vor, dass sie gesundheitliche Probleme gehabt habe. Sie sei etwa 2 bis 3 Wochen im Krankenhaus gewesen. Die Erstbeschwerdeführerin habe Kurse besucht und die Schule abgeschlossen, sie werde Belege dafür nachreichen. Die Erstbeschwerdeführerin habe nicht viele Freunde, die genaue Adresse einer näheren Freundin könne sie nicht nennen. Sie treffe sie mit den Kindern in einem Park. Der Tagesablauf der Erstbeschwerdeführerin bestehe im Wesentlichen in der Betreuung der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers.

Die Erstbeschwerdeführerin brachte vor, dass sie nichts mit Russland verbinde und sie die ganze Zeit hier gewesen sei. Ihr Freund sei hier gewesen und habe ihr versprochen, dass er herziehe und mit ihr leben werde.

Mit Schreiben vom 01.02.2018 brachte die Erstbeschwerdeführerin vor, dass man in Tschetschenien sehr schwer zu leben habe. Sie lebe so viele Jahre hier, dass sie sich nicht vorstellen könne, wieder nach Tschetschenien zurückzukehren. Sie fühle sich hier frei und sehr wohl und wolle mit ihren Kindern hier leben. Es wurden ein Externistenprüfungszeugnis über die vierte Klasse der Hauptschule vom 27.06.2012, die Bestätigung eines Praktikums als Kinderbetreuerin, ein österreichisches Sprachdiplom Deutsch auf Niveau B1 sowie Fotos von privaten Kontakten beigelegt.

2.2. Mit den an die Erstbeschwerdeführerin und die Zweitbeschwerdeführerin ergangenen angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde diesen jeweils der mit Bescheiden vom 21.05.2010 bzw. vom 29.10.2015 erteilte Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 aberkannt (Spruchpunkte I.), die erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte jeweils gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkte II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die genannten beschwerdeführenden Parteien eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für deren freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte IV.).

Mit dem an den Drittbeschwerdeführer ergangenen angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des Drittbeschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Drittbeschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Die Behörde stellte die Staatsangehörigkeit, Religion und Volksgruppenzugehörigkeit, die familiären Verhältnisse sowie die Identität der beschwerdeführenden Parteien fest. Der Erstbeschwerdeführerin, welche keine individuellen Fluchtgründe angeführt hätte, sei 2010 der Status der subsidiär Schutzberechtigten im Familienverfahren zuerkannt worden, da ihre Schwester aus originären Gründen, nämlich der Behandlungsbedürftigkeit einer psychischen Störung, dieser Status zuerkannt wurde. Aufgrund der Volljährigkeit der Erstbeschwerdeführerin sei es nun nicht mehr möglich, dass sie sich auf die Gründe ihrer Angehörigen berufe. Im Übrigen stehe unzweifelhaft fest, dass die Erstbeschwerdeführerin freiwillig in den Herkunftsstaat eingereist und dort einen Zeitraum von mindestens 2 bis 4 Monaten verbracht habe und sohin offenbar des Schutzes Österreichs nicht mehr bedürfe. Die Erstbeschwerdeführerin verfüge über Angehörige und soziale Kontakte in Russland, welche ihnen im Falle einer Rückkehr Unterstützung bieten könnten. Ihr drohe keine Verfolgung seitens staatlicher oder privater Akteure.

Die Mutter und beiden Schwestern der Erstbeschwerdeführerin würden sich im Bundesgebiet aufhalten, wobei die Mutter und die ältere der beiden jüngeren Schwestern über eine Aufenthaltsberechtigung nach dem NAG verfügen und die jüngste Schwester subsidiär schutzberechtigt seien. Das ältere Kinder der Erstbeschwerdeführerin verfüge über von dieser abgeleiteten subsidiären Schutz, beim jüngeren Kind laufe ein Verfahren über einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Erstbeschwerdeführerin verfüge über ein Sprachzertifikat Deutsch B1 und somit über der Dauer ihres Aufenthaltes nicht angemessene Kenntnisse der deutschen Sprache. Sie sei lediglich von Jänner bis August 2014 einer Erwerbstätigkeit nachgegangen und sonst von staatlichen Transferleistungen abhängig. Eine Integration in die österreichische Gesellschaft habe nicht festgestellt werden können.

Eigene konkrete Fluchtgründe des Drittbeschwerdeführers habe die Erstbeschwerdeführerin explizit verneint. Der Erstbeschwerdeführerin sei gemeinsam mit ihren Kindern eine Ausreise in die Russische Föderation zumutbar, zumal der weitere Aufenthalt der Beschwerdeführer die öffentliche Hand belasten würde. Da alle Mitglieder der Kernfamilie gleichermaßen von Rückkehrentscheidungen betroffen seien, würden diese keinen ungerechtfertigten Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens bilden.

2.3. Gegen diese, den beschwerdeführenden Parteien am 19.03.2018 zugestellten, Bescheide brachte eine damals bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation mit Schreiben vom 10.04.2018 fristgerecht jeweils eine gleichlautende Beschwerde ein. Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass die Erstbeschwerdeführerin mit ihren minderjährigen Kindern nicht nach Russland zurückkehren könne, da sie keine Familienangehörigen dort habe, die sie unterstützen. Sie sei alleinerziehende Mutter und ihre Familie (Mutter und Schwestern) lebe in Österreich. Sie sei auf ihre Familie angewiesen, finanziell abhängig und wohne mit der Familie in einem gemeinsamen Haushalt. Darüber hinaus sei die Erstbeschwerdeführerin gut integriert, beherrsche die deutsche Sprache und habe eine Zeit lang in Österreich gearbeitet. Die Rückkehrentscheidungen wäre daher gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig und es wäre die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung geboten, um das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer aufrecht zu erhalten.

2.4. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG vom 13.05.2019 wurden die gegenständlichen Rechtssachen der bis dahin zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.

2.5. Am 22.10.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchgeführt, an welcher die Erstbeschwerdeführerin, deren nunmehriger gewillkürter Vertreter, die Mutter der Erstbeschwerdeführerin als Zeugin, sowie eine Dolmetscherin für die russische Sprache teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte mit Schreiben vom 17.10.2019 auf die Teilnahme an der Beschwerdeverhandlung verzichtet.

Im Rahmen der Verhandlung wurden die aktuellen Rückkehrbefürchtungen der Erstbeschwerdeführerin, deren Aufenthalt in der Russischen Föderation im Jahr 2017, die familiäre und private Situation der beschwerdeführenden Parteien im Bundesgebiet sowie die Situation in ihrem Herkunftsstaat erörtert.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Personen der beschwerdeführenden Parteien und deren Rückkehrsituation:

Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, welche der tschetschenischen Volksgruppe angehören und sich zum moslemischen Glauben bekennen. Die Erstbeschwerdeführerin ist Mutter und gesetzliche Vertreterin der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin und des minderjährigen Drittbeschwerdeführers. Die Erstbeschwerdeführerin war im Dezember 2008 im Alter von fünfzehn Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern illegal ins Bundesgebiet eingereist. Mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesasylamtes vom 21.05.2010 war dieser in diesbezüglicher Stattgabe eines durch ihre damalige gesetzliche Vertreterin am 22.12.2008 gestellten Antrags auf internationalen Schutz, welcher hinsichtlich der Zuerkennung der Status einer Asylberechtigten abgewiesen worden war, gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden. Begründend wurde im Wesentlichen festgehalten, dass im Falle der damals minderjährigen Erstbeschwerdeführerin keine individuellen Gefährdungsmomente hätten festgestellt werden können. Da ihrer Mutter der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden wäre, hätte die Erstbeschwerdeführerin als deren Familienangehörige Anspruch auf den gleichen Schutzumfang gehabt.

Der im Jahr 2015 im Bundesgebiet geborenen Zweitbeschwerdeführerin war infolge eines durch deren gesetzliche Vertreterin am 21.10.2015 gestellten Antrags auf internationalen Schutz mit rechtskräftigem Bescheid vom 29.10.2015 ebenfalls der Status einer subsidiär Schutzberechtigten nach den Bestimmungen des Familienverfahrens, abgeleitet vom Status der Erstbeschwerdeführerin, zuerkannt worden, nachdem in der Entscheidung festgehalten wurde, dass keine Gründe für eine individuelle Gefährdung der Minderjährigen im Herkunftsstaat hätten festgestellt werden können.

Für den im Jahr 2017 in der Russischen Föderation geborenen Drittbeschwerdeführer wurde am 14.09.2017 der verfahrensgegenständliche Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der zweijährige Drittbeschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.

Die Erstbeschwerdeführerin hat in Bezug auf ihre beiden Kinder, ebenso wie hinsichtlich ihrer eigenen Person, keine individuellen Verfolgungsbefürchtungen geäußert.

Die Erstbeschwerdeführerin hat sich im Jahr 2017 für einen mehrmonatigen Zeitraum in der Russischen Föderation aufgehalten, dort den Drittbeschwerdeführer zur Welt gebracht und dessen Geburt in Grosny registrieren lassen. Die Erstbeschwerdeführerin war im Zuge ihrer Ein- und Ausreise sowie ihres Aufenthalts von keinen Problemen betroffen.

Es besteht für die Erstbeschwerdeführerin als leistungsfähige Frau im berufsfähigen Alter im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation (Tschetschenien) keine reale Bedrohungssituation für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit. Ebensowenig besteht eine solche Gefährdung für die in Obhut ihrer Mutter in den Herkunftsstaat zurückkehrenden minderjährigen zweit- und drittbeschwerdeführenden Parteien, welche mit der russischen Sprache vertraut sind. Die beschwerdeführenden Parteien liefen auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die beschwerdeführenden Parteien haben entfernte Angehörige im Herkunftsstaat, welche sie im Falle einer Rückkehr bei einer Wiedereingliederung unterstützen könnten. Zudem stünde es auch den in Österreich lebenden Angehörigen der beschwerdeführenden Parteien offen, diese im Fall einer Rückkehr finanziell zu unterstützen. Den beschwerdeführenden Parteien stünde die zumutbare Möglichkeit offen, sich alternativ zu einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion Tschetschenien in einem anderen Teil der Russischen Föderation, etwa in Moskau, niederzulassen.

Die unbescholtenen beschwerdeführenden Parteien leben im Bundesgebiet in einem gemeinsamen Haushalt mit der Mutter der Erstbeschwerdeführerin, bestreiten ihren Lebensunterhalt gegenwärtig im Rahmen der Grundversorgung und sind nicht selbsterhaltungsfähig. Im Bundesgebiet leben darüber hinaus die beiden Schwestern der Erstbeschwerdeführerin, zu welchen ebenfalls ein enger familiärer Kontakt besteht. Die Mutter und Geschwister der Erstbeschwerdeführerin sind gemäß den Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes bzw. Asylgesetzes zum Aufenthalt in Österreich berechtigt; die Mutter der Erstbeschwerdeführerin ist Inhaberin des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt EU." Die Erstbeschwerdeführerin hat im Bundesgebiet die 8. Schulstufe der Hauptschule absolviert und sich Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 angeeignet. Zwischen Jänner 2013 und August 2014 ist sie einer Beschäftigung als Zahnarztassistentin (Lehrling) nachgegangen, hat die Ausbildung jedoch nicht abgeschlossen. Zuletzt legte sie eine schriftliche Bestätigung über eine ihr in Aussicht stehende Anstellung in einem Restaurantbetrieb vor. Die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin und der minderjährige Drittbeschwerdeführer besuchen den Kindergarten im Bundesgebiet und gebrauchen vorwiegend die deutsche Sprache. Der Vater der zweit- und drittbeschwerdeführenden Parteien ist laut Angaben der Erstbeschwerdeführerin ein in der Russischen Föderation lebender Staatsangehöriger jenes Landes, zu welchem kein aufrechter Kontakt besteht.

Die beschwerdeführenden Parteien konnten glaubhaft darlegen, dass ihr Lebensmittelpunkt nunmehr in Österreich liegt. Es kann nicht erkannt werden, dass die Erstbeschwerdeführerin die Dauer ihres mittlerweile knapp elfjährigen, rechtmäßigen, Aufenthalts im Bundesgebiet überhaupt nicht zur Integration genutzt hätte oder durch einen weiteren Aufenthalt eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit entstehen würde.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat:

...

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

? AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

? BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reiseaufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

? Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

? EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

? GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

? SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der ISSprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des ISKalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018 - Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018 - DW - Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien:

"Wir sind beim IS beliebt",

https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018 - ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation - SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015):

Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern,

http://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018 - SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus,

https://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten prorussischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen: - Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018 - Caucasian Knot (21.6.2018):

Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

- SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018 - SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus,

https://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018 - EASO - European Asylum Support Office (3.2017):

COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018 - FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018 - ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation - US DOS - United States Department of State (20.4.2018):

Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013):

Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). SchariaGerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art "alternativer Justiz". Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische

Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).

Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen und daher auch zu einem generellen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. In Tschetschenien werden Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitsbehörden mit Straffreiheit begangen (US DOS 20.4.2018, vgl. HRW 7.2018, AI 22.2.2018).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018 - EASO - European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser),

http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 2.8.2018 - EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection,

http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018 - DIS - Danish Immigration Service (1.2015):

Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014,

http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnyafact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 2.8.2018 - HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia,

https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018 - ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf] - SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik,

http://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018 - US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen "fremdländischen" Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch "ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden "unantastbaren Polizeieinheiten" zu tun haben" (EASO 3.2017).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg - EASO - European Asylum Support Office (3.2017):

COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018 - HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia,

https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018 - Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 2.8.2018 - US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von

Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CATOP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. EASO 3.2017).

Auch 2017 gab es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land. Die Art und Weise, wie Gefangene transportiert wurden, kam Folter und anderen Misshandlungen gleich und erfüllte in vielen Fällen den Tatbestand des Verschwindenlassens. Die Verlegung in weit entfernte Gefängniskolonien konnte monatelang dauern. Auf dem Weg dorthin wurden die Gefangenen in überfüllte Bahnwaggons und Lastwagen gesperrt und verbrachten bei Zwischenstopps Wochen in Transitzellen. Weder ihre Rechtsbeistände noch ihre Familien erhielten Informationen über den Verbleib der Gefangenen (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen "Komitee gegen Folter" kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig. Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene "Geständnisse" werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 21.5.2018).

Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 20.4.2018).

Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 1.2018). In der ersten Hälfte des Jahres 2017 wurden die Inhaftierungen und Folterungen von Homosexuellen in Tschetschenien publik (HRW 18.1.2018). Der Umfang der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien ist bis heute unklar. Bis zu 100 Opfer, darunter auch mehrere Tote, werden genannt. Viele der Verfolgten sind aus Tschetschenien geflohen [vgl. hierzu Kapitel19.4 Homosexuelle] (Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl, zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.07.18 von der unabhängigen russischen Zeitung "Novaya Gazeta" veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen fünf bis sieben an der Folter beteiligte Personen festgenommen und 17 Mitarbeiter der Strafkolonie suspendiert worden sein. Das Video hatte in der russischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. Immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen von Misshandlungen und Folter im russischen Strafvollzug (NZZ 23.7.2018).

Quellen: - AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation - AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018 - EASO - European Asylum Support Office (3.2017):

COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018 - FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 3.8.2018 - HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html, Zugriff 3.8.2018 - ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation - NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegenrusslands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 2.8.2018 - Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenienaufklaeren, Zugriff 3.8.2018 - US DOS - United States Department

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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