Entscheidungsdatum
21.11.2019Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W182 2214897-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.01.2019, Zl. 740298708 - 180953908/BMI-BFA_OOE_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.07.2019 gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:
A) I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen
Bescheides wird insofern stattgegeben, als gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, die Dauer des Einreiseverbotes auf 5 Jahre herabgesetzt wird.
II. Im Übrigen wird die Beschwerde gemäß § 7 Abs. 1 iVm § 7 Abs. 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, § 8 Abs. 1 Z 2, 10, 57 AsylG 2005 sowie § 57 AsylG 2005, § 10 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl I. Nr. 87/2012 idgF, § 52 Abs. 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, § 46 FPG, § 52 Abs. 9 FPG, § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 FPG und § 55 Abs. 1 - 3 FPG, als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz
(B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an, ist Muslim, stammt aus Grosny, reiste im Februar 2004 im Alter von sieben Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern illegal in das Bundesgebiet ein und wurde für ihn am 21.02.2004 ein Asylantrag gestellt.
In einer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 23.08.2004 präzisierte der Vater als gesetzlicher Vertreter des BF, dass es sich dabei um einen Asylerstreckungsantrag handeln würde und der BF keine eigenen Fluchtgründe habe. Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der Vater des BF an, aufgrund der bürgerkriegsähnlichen Situation und der damit verbundenen Gefahren Tschetschenien verlassen zu haben, konkret gegen ihn gerichtete Handlungen habe es nicht gegeben.
Dem Vater des BF wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.11.2004, Zl. 04 02.984-BAL, gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl I 1997/76 idF BGBl I Nr. 126/2002 (AsylG), Asyl gewährt und gemäß § 12 leg. cit. festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
Dem BF wurde aufgrund seiner Eigenschaft als Familienangehöriger des asylberechtigten Vaters mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.11.2004, Zl. 04 02.987-BAL, gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997, BGBl I 1997/76 (AsylG) idgF, durch Erstreckung in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
Mit Aktenvermerk vom 09.10.2018 wurde seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) in Folge einer Anklageerhebung gegen den BF ein Aberkennungsverfahren eingeleitet.
Im Zuge des Aberkennungsverfahrens fand am 31.10.2018 vor dem Bundesamt eine Einvernahme des BF statt. Der BF gab dabei an, in Tschetschenien für ein Jahr die Schule besucht zu haben, in Österreich habe er vier Jahre die Volksschule und vier Jahre die Hauptschule besucht, eine Lehre habe er nicht absolviert. Er sei seit ca. einem Monat arbeitssuchend und habe Schulden. Zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich befragt gab der BF an, er lebe bei seinem Vater und seiner Mutter, des Weiteren sei eine Schwester von ihm in Österreich; er sei ledig und habe keine Kinder. Der Vater habe Asthma, könne nicht mehr arbeiten und beziehe Sozialhilfe; die Mutter arbeite als Putzfrau in einem Hotel. Er habe keine Verwandten im Heimatland und kenne dort niemanden mehr. In seiner Freizeit würde er boxen und treffe sich mit Freunden.
Zu den vorliegenden Anzeigen und Verurteilungen befragt gab der BF an, dies liege schon seit längerem zurück und sei er ein "Vollidiot" gewesen. Er habe sich nun Ziele gesetzt und möchte ein normales Leben führen. Im Übrigen habe er ein Antiaggressionstraining besucht.
2. Mit dem im Spruch genannten, angefochtenen Bescheid vom 10.01.2019 (im Bescheid aufgrund eines offensichtlichen Versehens mit 10.01.2018 datiert) erkannte das Bundesamt dem BF den mit Bescheid vom 04.11.2004, Zl. 04 02.987-BAL, zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte das Bundesamt dem BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA- VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 0 FPG idgF wurde gegen den BF ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Darin wurde u.a. festgestellt, dass die Identität des BF feststehe, er der Volksgruppe der Tschetschenen angehöre und muslimischen Glaubens sei. Er sei unverheiratet, kinderlos, gesund und arbeitsfähig. Der BF sei nach der Asylgewährung viermal rechtskräftig verurteilt worden, mit Urteil eines Bezirksgerichts vom XXXX 2012 wegen Körperverletzung nach § 83 Abs. 2 StGB, mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2012 wegen Einbruchsdiebstahls nach §§ 127, 129 Z 1 StGB, mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2017 wegen Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB und unerlaubtem Umganges mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 1 1. Fall, 27 Abs. 1 2. Fall und 27 Abs. 1 8. Fall SMG sowie mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2018 wegen Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 5. Fall SMG.
Die Behörde verwies darauf, dass § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 bei Vorliegen der in § 6 AsylG 2005 aufgelisteten Ausschlussgründe, darunter die rechtskräftige Verurteilung durch ein inländisches Gericht wegen einem besonders schweren Verbrechens, eine Aberkennung des Status des Asylberechtigten vorsehe. Das Delikt des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 5. Fall SMG stelle ein besonders schweres Verbrechen dar und stelle der BF aufgrund seiner mehrfachen Verurteilung eine auffallende Gefahr für die Gemeinschaft dar, weshalb die Voraussetzungen für eine Aberkennung nach § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 vorliegen würden.
Es könne nicht festgestellt werden, dass der BF in seinem Herkunftsland einem realen Risiko unterworfen wäre, einer Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Gefahr ausgesetzt zu sein oder einer den Art. 6 oder 13 Zusatzprotokoll zur EMRK widerstreitenden Behandlung unterworfen zu sein. Eine wie auch immer geartete Gefährdung seiner Person im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation könne nicht festgestellt werden. Es könne nicht festgestellt werden, ob der BF aktuell in der Russischen Föderation aufhältige Familienangehörige habe, er sei jedoch ein gesunder junger und arbeitsfähiger Mann, der seinen Lebensunterhalt aus Gelegenheitsarbeiten bestreiten könne.
Zu den in Österreich lebenden Familienangehörigen bestehe kein Abhängigkeitsverhältnis und daher kein schützenswertes Familienleben, darüber hinaus würden keine besonderen und außergewöhnlichen sozialen Beziehungen in Österreich bestehen. Ein Eingriff in das Privat- und Familienleben des BF sei daher gerechtfertigt.
Mit Verfahrensanordnung vom 11.01.2019 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
3. Gegen den am 15.01.2019 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid erhob der BF fristgerecht in vollem Umfang Beschwerde und führte darin im Wesentlichen aus, dass seine wirtschaftliche und soziale Lage im Fall einer Rückkehr nach Russland aufgrund seines fehlenden familiären Netzes keinesfalls gesichert wäre und die Behörde dahingehend mangelhafte Ermittlungen geführt habe. Die dem bekämpften Bescheid zugrundeliegende Beweiswürdigung sei höchst einseitig und tendenziös und seien dabei weder die Art und Schwere der Verbrechen noch die bestehenden familiären und privaten Bindungen des BF in Österreich oder die fehlenden Bindungen zum Herkunftsland gewürdigt worden. Das vom BF begangene Verbrechen sei darüber hinaus aufgrund der vorliegenden Milderungsgründe und der Höhe des bedingten Strafausmaßes nicht als subjektiv besonders schwerwiegend zu erachten, zumal die angedrohte Strafdrohung nicht ausgeschöpft worden sei. Der BF sei seit fast 15 Jahren in Österreich asylberechtigt und habe den Großteil seines Lebens in Österreich verbracht, zudem sei er in Österreich stark familiär verankert, spreche sehr gut Deutsch und habe gerade eine Arbeit aufgenommen. Er kümmere sich um seinen lungenkranken Vater und die Kinder seiner Schwester. Zum Beweis dieser intensiven Bindungen wurde die Einvernahme der in Österreich lebenden Familienangehörigen als Zeugen beantragt. Des Weiteren sei bei der Abwägung des Privat- und Familienlebens in Bezug auf die Bindungen zum Heimatstaat nicht berücksichtigt worden, dass der BF von seiner Heimat entwurzelt sei und inwieweit er sich im seinem Herkunftsstaat eine Existenzgrundlage schaffen könne. Es wurde u.a. die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt. Der Beschwerde beigeschlossen waren ein Sozialversicherungsauszug, ein Schreiben des BF, ein ärztliches Attest und ein lungenärztlicher Befund den Vater betreffend, eine Bestätigung über die Teilnahme am Rückkehrberatungsgespräch, eine Teilnahmebestätigung eines Anti-Gewalt-Trainings, Zeugnisse der Volks- und Hauptschule sowie etliche Unterstützungsschreiben.
4. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 12.07.2019 wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF in Anwesenheit eines Vertreters der Behörde, des Vertreters des BF sowie einer Dolmetscherin der russischen Sprache, weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes. Der BF, welcher durchwegs in deutscher Sprache einvernommen wurde, brachte dabei vor, in Österreich seien seine Eltern und eine Schwester aufhältig. Seit einem Jahr wohne er wieder bei seinem Vater, er sei jedoch bei seiner Mutter gemeldet. Seine Schwester wohne in der Nähe des Vaters mit ihrem Ehegatten zusammen. Ein Cousin und dessen Familie seien ebenfalls in Österreich. Er habe gedacht, dass alle Familienangehörigen in Russland tot seien, vor zwei oder drei Tagen habe er jedoch von seiner Mutter erfahren, dass diese einen Bruder und eine Schwester in Russland habe. Ob sein Vater noch Angehörige in Russland habe wisse er nicht; er habe keinen Kontakt zu Familienangehörigen im Herkunftsland. Der BF führte an, gesund zu sein und seit Mai einer legalen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Er verfüge über einen Hauptschulabschluss; einen Lehrabschluss oder eine Berufsausbildung habe er nicht gemacht. Er habe eine Freundin, mit der er seit einem Jahr zusammen sei, aber nicht zusammenwohnen würde. In Bezug auf seine letzte Verurteilung habe er einen Antrag auf eine Fußfessel gestellt und sei aus diesem Grund bislang noch nicht in Haft gewesen. Er sei vom Weg abgekommen und habe sich mit falschen Freunden eingelassen, sein Ziel sei es jetzt aber zu arbeiten, Geld zusammenzusparen, eine Familie zu gründen und in die richtige Richtung zu gehen. Dazu befragt, was er befürchte, wenn er in sein Herkunftsland zurückkehren müsste, gab er an, dass Tschetschenien für ihn ein unbekanntes Land wäre, es herrsche dort Armut und er beherrsche nicht die russische Sprache.
Die Mutter des BF wurde am selben Tag als Zeugin einvernommen und gab dabei an, einen Bruder und eine Schwester zu haben, welche in Grosny leben und ihren Unterhalt durch Gelegenheitsarbeiten bestreiten würden. Des Weiteren habe sie eine Tante in der Russischen Föderation; der BF habe keinen Kontakt zu den Verwandten im Herkunftsland. Auch bezweifle sie, dass diese für den BF sorgen würden, da sie selbst in einer angestrengten finanziellen Lage seien und den BF nicht kennen würden. Aktuell würde der BF bei ihr wohnen, das Wochenende verbringe er beim Vater.
Ebenfalls als Zeugin einvernommen wurde die Schwester des BF, welche angab, mit ihrem Gatten nicht zusammen zu wohnen, dieser sei jedoch öfters bei ihr. Sie wohne in direkter Nachbarschaft. Am Wochenende sei der BF beim Vater und unter der Woche bringe der BF den Vater zur Mutter. Der Vater habe einen Bruder in der Russischen Föderation, welcher Alkoholiker sei. Die Beziehung des BF zu ihren Kindern sei sehr innig und habe sie selbst auch eine enge Bindung zu ihm.
Der Verhandlung nachfolgend wurden folgende Unterlagen in Vorlage gebracht:
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Antrag auf elektronisch überwachten Hausarrest
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Bericht der Bewährungshilfe
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Lohnzettel des BF für Monate Mai und Juni 2019
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Patientenbrief vom Mai 2019 hinsichtlich des Vaters des BF
In einer schriftlichen Stellungnahme des Bundesamtes vom 16.07.2019 zur Beschwerdeverhandlung wurde mitgeteilt, dass das Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten des Vaters des BF mit 27.06.2019 in Rechtskraft erwachsen sei. Diesbezüglich wurde auch auf den entsprechenden Bescheid des Bundesamtes vom 24.05.2019, Zl. 740298403 / BMI-BFA_OOE_RD, der dem Bundesverwaltungsgericht im gegenständlichen Verfahren in Kopie am 07.06.2019 übermittelt wurde, hingewiesen. Aus den darin abgedruckten Einvernahmeprotokoll des Vaters des BF vom März 2019 geht u.a. hervor, dass dieser wegen des Krieges in Tschetschenien Asyl bekommen und sich die Situation diesbezüglich im Herkunftsland geändert habe. Er verfüge im Herkunftsland über Verwandte (Schwester und Bruder samt Kinder), zu denen er regelmäßigen Kontakt pflege und die ihn im Fall einer Rückkehr aufnehmen und unterstützen würden. Er würde seit 2016 alleine wohnen und sich mit dem BF einmal, mit seiner Tochter drei Mal wöchentlich treffen. Weiters wurde vom Bundesamt mitgeteilt, dass inzwischen auch die Aberkennungsverfahren hinsichtlich der Mutter und der Schwester des BF rechtskräftig abgeschlossen seien, wobei auch ihnen die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig und Moslem. Der (damals minderjährige, heute volljährige) BF reiste gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester im Februar 2004 nach Österreich, wo er am 21.02.2004 einen Asylantrag stellte. Für den BF wurden durch seinen gesetzlichen Vertreter keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.11.2004, Zahl: 04 02.987-BAL, wurde seinem Asylantrag gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 stattgegeben, ihm durch Erstreckung in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
Der BF wurde im Bundesgebiet seit 2012 viermal rechtskräftig verurteilt.
Das nunmehr gegenständliche Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten wurde am 09.10.2018 eingeleitet.
Die Muttersprache des BF ist Tschetschenisch, er verfügt jedoch über gute Deutschkenntnisse und wurde die zugezogene Dolmetscherin zu seiner Befragung im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung nicht benötigt.
Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er besuchte ein Jahr die Schule in der Russischen Föderation, danach in Österreich vier Jahre die Volksschule und vier Jahre die Hauptschule, über einen Lehrabschluss oder eine Berufsausbildung verfügt er nicht.
Der BF geht aktuell seit XXXX einer Erwerbstätigkeit als XXXX nach. Er war zuvor seit 2012 in insgesamt vier Beschäftigungsverhältnissen, welchen er jeweils in einer Dauer von drei Tagen bis zu maximal zwei Monaten nachging.
Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Er befindet sich seit ca. einem Jahr in einer Beziehung mit einer Frau, die beiden wohnen nicht zusammen.
In Österreich leben die Eltern des BF sowie seine Schwester. Dem Vater des BF wurde gemäß § 7 Abs. 3 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt EU" erteilt und mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesamtes vom 24.05.2019, Zl. 740298403 - 190153089, der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wegen Vorliegen eines Endigungsgrundes aberkannt, festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt und gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Sowohl der Mutter als auch der Schwester des BF wurde ebenfalls der Asylstatus rechtskräftig aberkannt und sind diese mittels zuvor erteiltem Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigt.
Der Vater des BF ist mittlerweile geschieden, lebt alleine und leidet an COPD im vierten Stadium, Diabetes Mellitus Typ II, und diversen anderen Krankheiten.
Der BF lebte bis 10.11.2014 mit seinen Familienmitgliedern in einem gemeinsamen Haushalt. Von 10.11.2014 bis 22.08.2017 war der BF als obdachlos gemeldet. Seit dem 03.11.2017 ist der BF an der Adresse seiner Mutter amtlich gemeldet.
Des Weiteren wohnt ein Cousin des BF mit seiner Familie im Bundesgebiet.
Der BF verfügt über soziale Anknüpfungspunkte in Österreich in Form eines Freundeskreises und legte dazu etliche Unterstützungsschreiben vor.
Der BF verfügt in Tschetschenien über ein familiäres Netz (Tanten und Onkel väterlicher- und mütterlicherseits).
Mit Urteil eines Bezirksgerichts vom XXXX 2012, rk. am XXXX 2012, wurde der BF des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 2 StGB für schuldig befunden und der Ausspruch der verhängten Strafe für eine Probezeit von 3 Jahren vorbehalten, für die Dauer der Probezeit wurde zudem Bewährungshilfe angeordnet.
Mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2012, rk. am XXXX 2012, wurde er des Verbrechens des Einbruchsdiebstahls nach §§ 127, 129 Z 1 StGB für schuldig befunden und zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 5 Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt.
Mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2017, rk. am XXXX 2017, wurde der BF der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB und des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach §§ 27 Abs. 1 1. Fall, 27 Abs. 1 2. Fall und 27 Abs. 1 8. Fall SMG für schuldig befunden und zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von 3 Jahren sowie einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 4,00 EUR (720,00 EUR), im Nichteinbringungsfall 90 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt.
Zuletzt wurde der BF mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2018, rk. am XXXX 2018, des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 5. Fall SMG für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 24 Monaten, davon 18 Monate bedingt, unter Bestimmung einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt. Vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht im zuvor ergangenen Urteil gegen den BF wurde abgesehen, jedoch die Probezeit auf 5 Jahre verlängert und die Bewährungshilfe angeordnet. Die zuletzt ausgesprochene Freiheitsstrafe wurde bis dato noch nicht vollzogen, da der BF einen Antrag auf elektronisch überwachten Hausarrest stellte und im diesbezüglichen Verfahren von ihm gegen die erstinstanzliche Entscheidung Beschwerde eingereicht wurde, weshalb die Anordnung des Strafvollzuges nach wie vor gehemmt ist.
Weiters erhielt der BF zwischen XXXX und XXXX 2017 fünf Strafverfügungen wegen Verwaltungsübertretungen im Zusammenhang mit dem Führerscheingesetz (keine gültige Lenkerberechtigung), dem Kraftfahrgesetz (Kennzeichenmissbrauch, kein Verbandszeug, keine Warnkleidung, keine geeignete Warneinrichtung), der Straßenverkehrsordnung (Fahrerflucht nach Verkehrsunfall mit Sachschaden) sowie dem Meldegesetz (Meldepflichtverletzung), wobei gegen ihn Geldstrafen in der Höhe von zusammengerechnet über 1600,- € verhängt wurden.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffe ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass dieser konkret Gefahr liefe, in seinem Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundalge entzogen wäre.
1.2. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen:
Politische Lage
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt.
Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).
Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,
https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018
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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018
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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018
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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018
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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018
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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018
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OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,
https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018
-
Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",
https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volkschliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018
-
Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,
https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018
-
Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin,
-
https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018
Tschetschenien
Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.
Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,
http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018
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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation
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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,
http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018
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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,
https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018
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BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018
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Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,
https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018
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EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018
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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,
https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018
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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
Tschetschenien
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).
Quellen:
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Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018
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Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018
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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:
Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018
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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
Rechtsschutz / Justizwesen
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen