TE Vwgh Erkenntnis 1998/7/23 96/20/0621

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Veröffentlicht am 23.07.1998
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1968 §1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Puck und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Baur, Dr. Nowakowski und Dr. Hinterwirth als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Grubner, über die Beschwerde des BY in Wien, geboren am 1. März 1959, vertreten durch Dr. Heinrich Vana, Rechtsanwalt in 1020 Wien, Taborstraße 10, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 12. Dezember 1995, Zl. 4.337.156/11-III/13/95, betreffend Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund (Bundesministerium für Inneres) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.800,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am 20. Jänner 1992 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 21. Jänner 1992 Asyl. Bei seiner Einvernahme vor der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien am 6. Mai 1992 gab der Beschwerdeführer - soweit entscheidungswesentlich - nach Inhalt des darüber aufgenommenen Protokolls seine Fluchtgründe wie folgt an:

"Ich bin Kurde und wohnte in der Provinz Erzincan. In unserem Dorf befinden sich ca. 150 Häuser, jedoch sind nur mehr vier von ihnen bewohnt. Der Grund dafür ist die ständige Belästigung durch die türkischen Soldaten. Die Soldaten kamen immer wieder in unser Dorf und verdächtigten die Bewohner, die PKK-Kämpfer zu unterstützen. Auch ich wurde auf der Straße mehrmals von der Polizei belästigt. Man forderte mich auf, das Dorf zu verlassen. Falls ich dieser Aufforderung nicht Folge leisten würde, würde ich ins Gefängnis kommen. Geschlagen oder verhaftet wurde ich von der Polizei nicht. Ich konnte jedoch als Kurde kein normales Leben in der Türkei führen. Da ich die Belästigungen und Beschimpfungen einfach nicht mehr aushalten konnte, entschloß ich mich zur Flucht."

Mit Bescheid vom 29. Mai 1992 stellte die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien fest, daß der Beschwerdeführer die Voraussetzungen für seine Anerkennung als Flüchtling nicht erfülle.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung, in der er im wesentlichen geltend machte:

"Darüber hinaus ist mein bisheriges Vorbringen sehr wohl geeignet, meine Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Konvention zu begründen. Ich bin Angehöriger des kurdischen Volkes und werde deswegen verfolgt. Ich wurde immer wieder von der türkischen Polizei abgeholt, verhört und gefoltert. Die Folterspuren trage ich immer noch. Bei meinem Verhör in Tannengasse hat der Amtsarzt diese Folterspuren angesehen. Meine Familie besteht aus neun Personen und sie werden auch verfolgt und mißhandelt. Die Polizei fragt meine Frau und Kinder, wo ich mich befinde? Sie geschlagen meine Kinder, weil sie nicht sagen, wo ich mich befinde. Ich und meine ganze Familie werden in der Türkei, sei es wegen Rasse, Religion (alevitische Glaube) oder in dem sozialen und politischen Bereich unterdrückt. Da ich Kurde und Alevite bin, habe ich in der Türkei keine Möglichkeit, mich zu beschäftigen und auszubilden. Noch dazu bin ich immer von der Gendarmerie bedroht worden."

Nachdem der diese Berufung abweisende Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 8. Jänner 1993 mit

hg. Erkenntnis vom 20. Dezember 1994, Zl. 94/20/0084 (wegen irrtümlicher Anwendung des Asylgesetzes 1991) aufgehoben worden war, räumte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 22. September 1995 ausdrücklich die Gelegenheit zur Berufungsergänzung ein. Zugleich hielt sie dem Beschwerdeführer darin folgende Annahme vor:

"Ferner haben sich für die erkennende Behörde aus dem Gesamtbild Ihres Vorbringens keinerlei Gründe ergeben, die die Annahme nahe legen würden, daß sich die von Ihnen geltend gemachten Umstände auf das gesamte Gebiet Ihres Heimatstaates beziehen. Sie also nicht Schutz vor etwaigen Beeinträchtigungen in einem anderen Teil Ihres Heimatstaates, insbesondere außerhalb der Unruhegebiete, hätten finden können und nicht schon während Ihres Aufenthaltes in Istanbul gefunden haben."

In der vom Beschwerdeführer eingebrachten Berufungsergänzung führte dieser dazu zusammengefaßt (lediglich) aus, daß er aus einer Familie stamme, deren Mitglieder insbesondere in Belgien Zuflucht vor der Verfolgung durch das türkische Regime gefunden hätten. Aufgrund der Tatsache, daß ein großer Teil seiner Familie das Land verlassen und als Flüchtlinge in Belgien Schutz gefunden habe, habe der Beschwerdeführer selbst berechtigten Grund zur Furcht vor Verfolgungshandlungen, die gegen ihn als deren Verwandter gerichtet seien.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 12. Dezember 1995 wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab und stellte fest, daß der Beschwerdeführer nicht Flüchtling im Sinne des Asylgesetzes (1968) sei. Nach Darstellung des Flüchtlingsbegriffes der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, führte die belangte Behörde aus: "Sie haben im gesamten Verwaltungsverfahren keine Umstände glaubhaft gemacht, die objektiv die Annahme rechtfertigen könnten, daß Sie sich aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb Ihres Heimatlandes befinden und nicht gewillt sind, sich wieder unter dessen Schutz zu stellen.

Soweit Sie bei Ihrer niederschriftlichen Einvernahme zur Begründung Ihres Asylantrages die allgemeine Situation der kurdischen Volksgruppe und die sich dadurch ergebenden Beeinträchtigungen (insbesondere im Gebiet Ihrer Heimatprovinz) ins Treffen führen, so ist Ihnen entgegenzuhalten, daß dies die Gewährung von Asyl nicht zu rechtfertigen vermag, da hiefür Voraussetzung ist, daß Sie selbst illegitim motivierte Verfolgung zu befürchten haben, die speziell und intentional gegen Ihre Person gerichtet ist. Derartige Maßnahmen, welche dem Begriff der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zugrunde gelegt werden können, vermochten Sie jedoch nicht darzutun und stellen die von Ihnen behaupteten Beeinträchtigungen, allgemeine soziale Schwierigkeiten sowie atmosphärische Diskriminierungen dar, aus welchen allein schon mangels (einer) für den Verfolgungsbegriff unabdingbaren Eingriffsintensität eine individuell-konkret gegen Ihre Person gerichtete Verfolgungsintention Ihrer Heimatbehörden insbesondere, da Sie laut Ihren eigenen niederschriftlichen Angaben nie von der Polizei inhaftiert oder geschlagen worden sind und sich die von Ihnen behaupteten Beeinträchtigungen aus der allgemeinen Situation - Erdbeben - ergeben und jedermann betreffen mögen, nicht abgeleitet werden kann.

Des weiteren haben sich aus Ihren Vorbringen bei Ihrer niederschriftlichen Einvernahme für die erkennende Behörde auch keinerlei Gründe ergeben, die die Annahme nahelegen würden, daß sich die von Ihnen geltend gemachten Umstände, welche sich ja ausschließlich aus der Topographie Ihres Heimatortes ergeben, auf das gesamte Gebiet Ihres Heimatstaates beziehen, Sie also, insbesondere da für die erkennende Behörde auch kein schlüssiges Motiv - gaben Sie doch nicht an, einer politischen Partei oder sonstigen Organisation angehört zu haben - für den angeblichen "Verfolgerstaat" feststellbar ist, weshalb dieser gerade Sie nachhaltig zu belangen trachten sollte, nicht Schutz vor etwaigen Fährnissen in einem anderen, befriedeten, Teil der Türkei hätten finden können; zumal Sie laut Ihren eigenen Angaben in den Jahren 1981 bis 1991 zeitweise in Istanbul gearbeitet haben. Dies insbesondere deshalb, als Ihnen per Schreiben des Bundesministeriums für Inneres vom 22. September 1995 dieser Sachverhalt zur Kenntnis gebracht wurde und Sie sich diesbezüglich in Ihrer Berufungsergänzung vom 6. November 1995 mit keinem Wort äußerten. Es stand Ihnen somit eine innerstaatliche Fluchtalternative zu Gebote und deutet in Ihrem Fall nichts darauf hin, daß Sie bei einer eventuellen Rückkehr, insbesondere in ein Gebiet, in dem allgemein sich aus der Natur bürgerkriegsähnlicher Umstände ergebende Beeinträchtigungen nicht zu befürchten sind, aus Konventionsgründen und von staatlicher Seite Beeinträchtigungen irgendeiner Art ausgesetzt sein könnten."

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Antrag, den Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zunächst ist festzuhalten, daß infolge der zutreffenden Anwendung des Asylgesetzes 1968 im angefochtenen Bescheid kein Fall des Außerkrafttretens gemäß § 44 Abs. 2 Asylgesetz 1997 vorliegt.

Gemäß § 1 des Asylgesetzes 1968, BGBl. Nr. 126, in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 796/1974, ist ein Fremder Flüchtling, wenn nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes festgestellt wird, daß er die Voraussetzungen des Art. 1 Abschnitt A der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1995 (im folgenden: FlKonV), unter Bedachtnahme auf das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974, erfüllt und bei ihm kein Ausschließungsgrund nach Art. 1 Abschnitt C oder F FlKonv vorliegt. Nach Art. 1 Abschnitt A Z. 2 FlKonv ist Flüchtling, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlanes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Stellte man im vorliegenden Fall - wie die belangte Behörde - ausschließlich auf die Angaben des Beschwerdeführers anläßlich seiner Einvernahme vor der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien ab, so wäre die in den obigen Ausführungen zur "Topographie" gelegene Annahme der belangten Behörde, die vom Beschwerdeführer geschilderte schwierige Situation der kurdischen Bevölkerung in seinem Heimatdorf bzw. Heimatbezirk sei wesentlich auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände in diesen Unruhegebieten, wo das türkische Militär gegen die PKK kämpfe, zurückzuführen und es stellten die angegebenen Beeinträchtigungen eine sämtliche Bewohner seines Heimatdorfes treffende Benachteiligung dar, nicht als rechtswidrig zu erkennen. Nach dem Inhalt des Protokolles über die Einvernahme des Beschwerdeführers vor der Behörde erster Instanz wurde von ihm nicht konkret geltend gemacht, die türkischen Behörden hätten es darauf angelegt, gerade dem Beschwerdeführer die Lebensgrundlage zu entziehen. Der Beschwerdeführer hat danach vielmehr ausdrücklich erklärt, er sei selbst von einer konkreten Verfolgungshandlung der türkischen Behörden nicht betroffen gewesen und er habe sich politisch nicht betätigt; er hat in erster Instanz auch nicht behauptet, ihm konkret sei eine oppositionelle politische Gesinnung (die über die allgemeine Verdächtigung der kurdischen Bevölkerung in Richtung einer Unterstützung der PKK-Kämpfer hinausginge) vorgeworfen worden, derethalben von ihm unmittelbar bevorstehende Verfolgungshandlungen zu befürchten gewesen wären. Die von ihm in erster Instanz hervorgehobenen allgemeinen Benachteiligungen für die kurdische Bevölkerung in der Türkei vermögen die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers nicht zu begründen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 5. Juni 1996, Zl. 96/20/0323, uva.).

Der Beschwerdeführer hat allerdings in seiner Berufung ausdrücklich vorgebracht, daß er von den türkischen Behörden mehrfach verhört und gefoltert worden sei, wobei die bei ihm vorhandenen Folterspuren vom Amtsarzt im Verwaltungsverfahren "angesehen" worden seien. Die türkischen Behörden hätten nach seiner Flucht seine Familie nach seinem Aufenthaltsort befragt und dabei auch seine Kinder geschlagen, weil sie seinen Aufenthaltsort nicht preisgegeben hätten. Weiters hat der Beschwerdeführer seine Verfolgung auch ausdrücklich darauf gestützt, daß er Kurde sei und aus einer Familie stamme, welche von den türkischen Behörden besonders verfolgt werde. Dazu hat der Beschwerdeführer in seiner Berufungsergänzung namentlich bezeichnete Personen angeführt, die in anderen Staaten als Flüchtlinge anerkannt worden und mit ihm verwandt seien.

Mit diesem Vorbringen hat der Beschwerdeführer mit hinreichender Deutlichkeit auf einen Sachverhalt hingewiesen, der für die Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention in Frage kommen kann. Die belangte Behörde hat diesem Vorbringen trotz des eklatanten Widerspruches zu den Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren erster Instanz nicht etwa die Glaubwürdigkeit versagt, sondern dieses Vorbringen einfach negiert. Durch das völlige Übergehen der genannten Angaben des Beschwerdeführers (diesen stand ein Neuerungsverbot nach dem AsylG 1968 nicht entgegen) verstößt die belangte Behörde aber gegen die Begründungspflicht, weil dadurch nicht nachvollziehbar ist, ob die belangte Behörde dem Beschwerdeführer diesbezüglich die Glaubwürdigkeit versagte, ob sie aus rechtlichen Erwägungen dieses Vorbringen als unwesentlich ansah oder ob andere Gründe dazu führten, daß sie darüber hinwegging (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 1996, Zl. 95/20/0330). Da dieses Vorbringen des Beschwerdeführers über ausschließlich mit der besonderen Situation von regionalen bürgerkriegsähnlichen Unruhegebieten untrennbar verbundene Argumente in bezug auf behördliche Verfolgungshandlungen hinausgeht und die belangte Behörde dieses Vorbringen auch bei Beurteilung der von ihr angenommenen inländischen Fluchtalternative des Beschwerdeführers in Istanbul oder in anderen "befriedeten Teilen" der Türkei nicht berücksichtigte, erfaßt insoweit dieser Begründungsmangel auch diesen Teil des bekämpften Bescheides.

Da die belangte Behörde somit wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt hat und es nicht ausgeschlossen ist, daß sie bei deren Vermeidung zu einem anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Bescheid hätte gelangen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Eines Eingehens auf die weiteren Beschwerdeausführungen, insbesondere auch auf die zur Widerlegung der Annahme einer inländischen Fluchtalternative unter Verletzung des Neuerungsverbotes des § 41 VwGG vorgelegten Entscheidungen deutscher Gerichte, bedurfte es daher nicht mehr.

Der Ausspruch über den Aufwanderersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung

BGBl. Nr. 416/1994. Die Abweisung des Mehrbegehrens beruht darauf, daß zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung lediglich die Vorlage von zwei Beschwerdeausfertigungen und einer Bescheidausfertigung erforderlich war.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1998:1996200621.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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