TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/2 W129 2218981-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.12.2019
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Entscheidungsdatum

02.12.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W129 2218980-1/6E

W129 2218981-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter DDr. Markus GERHOLD als Einzelrichter über die Beschwerden 1.) von XXXX , geb. XXXX , und 2.) von XXXX , geb. XXXX , StA Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 1) vom 08.04.2019, 1216341300-190018122/BMI-BFA_NOE_AST_02, 2) vom 05.04.2019, 1216341409-190018114/BMI-BFA_NOE_AST_02, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.09.2019, zu Recht:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und 1.) XXXX und 2.) XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1.) XXXX und 2.) XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin (BF1) stellte am 04.01.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und gab bei der Erstbefragung am 07.01.2019 im Wesentlichen und zusammengefasst an, dass sie eine Missionarin bei den Zeugen Jehovas sei. Sie könne ihre Religion in ihrer Heimat nicht ausleben, daher sei sie geflüchtet. Sie würden als Extremisten bezeichnet werden; ihr würden Gefängnisstrafen von 6 bis 10 Jahren drohen.

Der Zweitbeschwerdeführer (BF2) stellte ebenso am 04.01.2019 einen gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und gab bei der Erstbefragung am 07.01.2019 im Wesentlichen und zusammengefasst an, dass er Missionar bei den Zeugen Jehovas sei. Zeugen Jehovas würden in Russland 6 bis 10 Jahre in Gefängnis kommen. Sie würden als Extremisten bezeichnet werden. Die Polizei habe ihn schon viermal zur Einvernahme mitgenommen.

2. Am 06.03.2019 wurde die BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Dabei gab sie zum Fluchtgrund im Wesentlichen an, dass sie Zeuge Jehovas sei. Sie sei mit ihrem Mann gemeinsam missionarisch tätig gewesen. Ihr Mann sei observiert worden. Auch hätten sie mitbekommen, dass Kollegen festgenommen und verurteilt worden seien.

Am selben Tag wurde auch der BF2 einvernommen. Dabei gab er zum Fluchtgrund im Wesentlichen an, dass er Zeuge Jehovas sei und deshalb verfolgt worden sei. Bei einer Rückkehr befürchte er, dass er verhaftet und gefoltert werde, weil er Zeuge Jehovas sei.

Im Zuge ihrer Einvernahme legten beide Beschwerdeführer eine Bestätigung der Jehovas Zeugen in Österreich vor.

3. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.04.2019 bzw. vom 05.04.2019 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Den Beschwerdeführern wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen und sinngemäß zur BF1 ausgeführt, dass ihre Identität feststehe. Sie sei Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehöre zur Volksgruppe der Russen und bekenne sich zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Sie sei verheiratet und habe keine Kinder.

Der Begründung zum BF2 ist zusammengefasst und sinngemäß zu entnehmen, dass seine Identität feststehe. Er sei Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehöre zur Volksgruppe der Armenier und bekenne sich zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Er sei verheiratet und habe keine Kinder.

Weiters wurde bei beiden Beschwerdeführern ausgeführt, es sei glaubhaft, dass sie sich zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas bekennen würden. Es habe aber nicht festgestellt werden können, dass sie die Russische Föderation aufgrund einer aktuellen, konkreten gegen sie gerichteten asylrelevanten Verfolgung maßgeblicher Intensität im Zusammenhang mit der von ihnen behaupteten Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas verlassen hätten.

4. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Dabei wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Beschwerdeführer seien - unbestritten - Angehörige der Zeugen Jehovas. Die Ansicht der belangten Behörde, demnach es in der Russischen Föderation "keine organisierte landesweite Verfolgung" der Zeugen Jehovas gebe, sei falsch. Die Beschwerdeführer würden sämtliche Voraussetzungen für Asyl erfüllen.

5. Mit Schreiben vom 15.05.2019 legte die belangte Behörde die Beschwerde sowie die bezughabenden Akten dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo das Konvolut am 17.05.2019 einlangte.

6. Am 19.09.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchgeführt, an der beide Beschwerdeführer teilgenommen haben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität der Beschwerdeführer steht fest.

Die Beschwerdeführer tragen den im Spruch angeführten Namen und sind Staatsangehörige der Russischen Föderation. Die Beschwerdeführer sind miteinander verheiratet.

Die Beschwerdeführer stellten jeweils am 04.01.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführer sind beide Zeugen Jehovas und wurden in der Russischen Föderation getauft. Die Beschwerdeführer hatten eine exponierte Stellung inne. Früher haben sie sehr offen ihren Dienst verrichtet und auf den Straßen missioniert. Das war ihnen später nicht mehr möglich, weshalb sie aus der Russischen Föderation ausreisten. Der BF2 wurde in der Vergangenheit bereits einvernommen und beschattet.

Auch in Österreich sind sie aktive Mitglieder, so besuchen sie regelmäßig die Gottesdienste und beteiligen sich aktiv am Predigtdienst.

Den Beschwerdeführern droht bei einer nunmehrigen Rückkehr - insbesondere vor dem Hintergrund ihrer in der Heimat ausgeübten höheren Funktion und dem Umstand, dass der BF2 bereits in der Vergangenheit einvernommen und beschattet wurde - die reale Gefahr, wegen der Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt zu werden. Bei einer Verurteilung drohen ihnen Freiheitsstrafen von zwei bis zehn Jahren Haft.

Die Beschwerdeführer sind strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

Religionsfreiheit

Art. 28 der Verfassung garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit (AA 13.2.2019). Christentum, Islam, Buddhismus und Judentum haben dabei als "traditionelle Religionen" de facto eine herausgehobene Stellung (AA 13.2.2019, vgl. USCIRF 4.2019), die russisch-orthodoxe Kirche

(ROK) spielt allerdings eine zentrale Rolle (AA 13.2.2019, vgl. USCIRF 4.2019, FH 4.2.2019). Der Islam ist eine der traditionellen Hauptreligionen Russlands. In der Russischen Föderation leben rund 20 Millionen Muslime (AA 21.5.2018, vgl. ÖB Moskau 12.2018, GIZ 8.2019c). 2015 wurde von Präsident Putin in Moskau die größte Moschee Europas eröffnet (ÖB Moskau 12.2018). Der Islam in Russland ist grundsätzlich von Toleranz gegenüber anderen Religionen geprägt. Radikalere, aus dem Nahen und Mittleren Osten beeinflusste Gruppen stehen insbesondere im Nordkaukasus unter scharfer Beobachtung der Behörden (AA 21.5.2018). Die Behörden gehen gegen tatsächliche und mutmaßliche Islamisten vor allem im Nordkaukasus mit teils gewaltsamer Repression vor (AA 13.2.2019).

Bei den traditionell religiös orientierten ethnischen Minderheiten Russlands findet man Anhänger des Islam und des Buddhismus, des Schamanismus und Judaismus, des protestantischen und katholischen Glaubens. Der Islam ist die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Russland. Die Muslime sind in der Regel Baschkiren, Tataren, Tschuwaschen, Tschetschenen und Angehörige anderer Kaukasusvölker. Sie werden durch die Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Europäischen Teils Russlands und Sibiriens sowie die Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Nordkaukasus vertreten. Alle anderen Religionen, wie der Buddhismus (ca. 600.000 Gläubige) - zu dem sich Burjaten, Kalmyken, Tuwa und andere Bevölkerungsgruppen in den Gebieten Irkutsk und Tschita bekennen - und das Judentum (ca. 200.000 Gläubige), haben nur geringe Bedeutung. Von den christlichen Kirchen sind die katholische Kirche, die evangelisch-lutherische Kirche sowie eine Reihe von Freikirchen (vor allem Baptisten) in Russland vertreten. Sie sind im europäischen Russland und in Sibirien präsent (GIZ 8.2019c). Auch andere Religionsgemeinschaften können in Russland legal bestehen, müssen sich aber registrieren lassen (GIZ 8.2019c, vgl. USCIRF 4.2019). Die russische Regierung betrachtet unabhängige religiöse Aktivitäten als eine Bedrohung für die soziale und politische Stabilität des Landes und pflegt gleichzeitig bedeutende Beziehungen zu den sogenannten "traditionellen" Religionen des Landes. Die Regierung aktualisiert regelmäßig

Gesetze, die die Religionsfreiheit einschränken, darunter ein Religionsgesetz von 1996 und ein Gesetz zur Bekämpfung des Extremismus von 2002. Das Religionsgesetz legt strenge Registrierungsanforderungen an religiöse Gruppen fest und ermächtigt Staatsbeamte, die Tätigkeit der Gruppierungen zu behindern (USCIRF 4.2019).

Seit Ende der Achtziger Jahre hat der Anteil der Gläubigen im Zuge einer "religiösen Renaissance" bedeutend zugenommen. Allerdings bezeichnen sich laut Meinungsumfragen rund 50% der Bevölkerung als ungläubig. Zwar gibt es in Russland einen hohen Grad der Wertschätzung von Kirche und Religiosität, dies bedeutet aber nicht, dass die Menschen ihr Leben nach kirchlichen Vorschriften führen. Offizielle Statistiken zur Zahl der Gläubigen verschiedener Konfessionen gibt es nicht, und die Zahlen in den meisten Quellen unterscheiden sich erheblich. Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) ist heute die mit Abstand größte und einflussreichste

Religionsgemeinschaft in Russland. Seit der Unabhängigkeit der Russischen Föderation ist sie zu einer äußerst gewichtigen gesellschaftlichen Einrichtung geworden. Die Verluste an Gläubigen und Einrichtungen, die sie in der Sowjetzeit erlitt, konnte sie zu einem großen Teil wieder ausgleichen. Die ROK hat ein besonderes Verhältnis zum russischen Staat, z.B. ist der Patriarch bei wichtigen staatlichen Anlässen stets anwesend. Die ROK versteht sich als multinationale Kirche, die über ein "kanonisches Territorium" verfügt. Über die Zahl der Angehörigen der ROK gibt es nur Schätzungen, die zwischen 50 und 135 Millionen Gläubigen schwanken. Wer heute in Russland seine Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche herausstellt, macht damit deutlich, dass er zur russischen Tradition steht. Das Wiedererwachen des religiösen Lebens in Russland gibt regelmäßig Anlass zu Diskussionen um die Rolle der ROK in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat (GIZ 8.2019c).

Bestimmte religiöse Gruppen wie die Zeugen Jehovas, Scientology oder Falun Gong sind aufgrund ihres Glaubens zur Zielscheibe der russischen Behörden geworden. Auch hier stützt man sich vor allem auf das Extremismusgesetz [das sogenannte Yarovaya-Gesetz]. Die NGO SOVA sieht als Hauptgründe der exzessiven Implementierung des Gesetzes einerseits die schlechte Schulung von Polizeibeamten, andererseits den Missbrauch der Rechtsvorschrift zum Vorgehen gegen oppositionelle bzw. unabhängige Aktivisten (ÖB Moskau 12.2018). Besonders Muslime, die in Verdacht stehen, extremistisch zu sein, sind von strengen Strafen betroffen (USCIRF 4.2018), aber auch moderate muslimische Organisationen sehen sich stärkeren Kontrollen ausgesetzt. Im Jahr 2015 wurde in der Staatsduma ein Gesetz angenommen, das die Kontrolle des Justizministeriums über die Finanzflüsse religiöser Organisationen erhöhen soll. Gruppen, die aus dem Ausland Gelder oder sonstige Vermögenswerte erhalten, werden in Zukunft den Behörden mehr Informationen vorlegen müssen. Im Zuge der Verschärfung der anti-extremistischen Gesetzgebung im Juni 2016 wurden auch die Auflagen für Missionstätigkeiten außerhalb religiöser Institutionen präzisiert (ÖB Moskau 12.2018).

Am 20.4.2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, die die

Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wird beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden (AA 13.2.2019, vgl. AI

22.2.2018, HRW 17.1.2019). Mit November 2018 ermittelten die Behörden gegen 85 Zeugen Jehovas wegen Extremismusvorwürfe. 26 von ihnen befanden sich in Untersuchungshaft (HRW

17.1.2019).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,

https://www.ecoi.net/en/file/local/1434107/4598_1528119149_auswaertiges-amt-bericht-asylund-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-april-2018-21-052018.pdf, Zugriff 12.8.2019

-

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,

https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 12.8.2019

-

AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation,

https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 12.8.2019

-

FH - Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff

12.8.2019

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 5.9.2019

-

HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 12.8.2019

-

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 12.8.2019

-

USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom(4.2018): 2018 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1435641/1226_1529394241_tier1russia.pdf, Zugriff 12.8.2019

-

USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom(4.2019): 2019 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008198/Tier1_RUSSIA_2019.pdf, Zugriff 12.8.2019

Tschetschenien

Die tschetschenische Bevölkerung gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an, wobei traditionell eine mystische Form des Islam, der Sufismus, vorherrschend ist (BAMF 10.2013). Beim Sufismus handelt es sich um eine weit verbreitete und zudem äußerst facettenreiche Glaubenspraxis innerhalb des Islams. Heutzutage sind Sufis sowohl innerhalb des Schiitentums als auch unter Sunniten verbreitet (ÖIF 2013).

In Tschetschenien setzt Ramzan Kadyrow seine eigenen Ansichten bezüglich des Islams durch.

Dieser soll moderat, aber streng kontrolliert sein. Salafismus und Wahhabismus duldet er nicht (USCIRF 4.2019). Gegen tatsächliche und mutmaßliche Islamisten wird teils gewaltsam vorgegangen (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018). Frauen müssen sich islamisch kleiden und können in polygame Ehen gezwungen werden (USCIRF 4.2019). Polygamie kam schon in der Sowjetunion vor, allerdings nur heimlich. Nun wird sie durch die Scharia legitimiert. Die Religion verdrängt die alten Werte der traditionellen Dorfgemeinde. Der Islam wird dabei in unterschiedlichsten Formen gelebt und dient oft den Männern dazu, ihre Frauen zu unterdrücken (Welt.de 14.2.2017).

Anhänger eines "nicht traditionellen" Islams oder Personen mit Verbindungen zu Aufständischen, können Opfer von Verschwindenlassen durch die Sicherheitskräfte werden. Um gegen die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus im Nordkaukasus Erfolge nachweisen zu können, werden auch friedliche muslimische Dissidenten ins Visier genommen. Verletzungen der Religionsfreiheit ergeben sich auch aus der Anwendung von "prophylaktischen Maßnahmen", wie der Führung von schwarzen Listen angeblicher Extremisten, einschließlich weltlicher Dissidenten, häufigen Razzien bei salafistischen Moscheen und Schikanen gegen ihre Mitglieder (USCIRF 4.2019).

Mutmaßliche Dschihadisten werden in Tschetschenien inhaftiert, und es kann zu Folterungen und Verschwindenlassen kommen. Auch kollektive Strafen gegen ihre Familien können verhängt werden (HRW 17.1.2019, vgl. USCIRF 4.2019).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,

https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 12.8.2019

-

BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):

Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

-

HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 12.8.2019

-

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 12.8.2019

-

ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam, S. 111-113 [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

-

USCIRF - United States Commission on International Religious Freedom(4.2019): 2019 Annual Report, Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008198/Tier1_RUSSIA_2019.pdf, Zugriff 12.8.2019

-

Welt.de (14.2.2017): Immer ein echter Mann zu sein - das ist eine Last,

https://www.welt.de/politik/ausland/article161562501/Immer-ein-echter-Mann-zu-sein-das-isteine-Last.html, Zugriff 28.8.2019

Dagestan

Die meisten Muslime Dagestans gehören dem Sufismus an, einer gemäßigt-mystischen Richtung im Islam. Sie hören auf Scheichs, religiöse Führer, die zwischen Gott und den Menschen vermitteln. Die Scheichs treten auch als Fürsprecher der Gläubigen vor Politikern auf. Der Sufismus ist seit vielen Jahrhunderten in Dagestan zuhause. Die zweitgrößte Gruppe der Muslime in Dagestan sind die Salafisten. Diese ultrakonservative Strömung breitet sich seit den 1990erJahren in der Region aus. Zunächst wurden sie als Wahhabiten bezeichnet. In Dagestan gibt es Schätzungen zufolge zehntausende Salafisten, und sie haben ihre eigenen Moscheen. Die Salafisten wollen ein Kalifat bzw. einen Gottesstaat errichten. Die Sufis hingegen haben sich mit dem russischen Staat arrangiert. Die Radikalen unter den Salafisten wollen das Kalifat mit Gewalt durchsetzen und kämpfen dafür. In Dagestan gibt es einen bewaffneten islamistischen Untergrund. Seit Jahren verüben die Terroristen Anschläge gegen russische Sicherheitskräfte, es gab Hunderte

Todesopfer. Sie ermordeten auch mehrere geistliche Führer der Sufis, die sich offen gegen die

Ideologie der Salafisten aussprachen. Viele Salafisten in Dagestan fühlen sich zu Unrecht von den

Behörden verdächtigt. Sie werden immer wieder von der Polizei festgehalten, müssen stundenlang

Fragen beantworten und Speichel- und Blutproben abgeben. Salafisten werden oft mit den TerrorKämpfern des sogenannten Islamischen Staates gleichgesetzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

In den Republiken Inguschetien und Dagestan wurde in der Vergangenheit versucht, einen Dialog zwischen Regierung und offizieller Geistlichkeit auf der einen Seite und islamistischer Opposition auf der Gegenseite zu führen. Derzeit befindet sich die Regierung in Dagestan aber wieder in Konfrontation mit salafistischen Gemeinden. Der "Krieg gegen Wahhabiten", der dort schon 1999 ausgerufen worden war, hat allerdings dazu geführt, dass sich immer mehr junge Leute zu einem puristischen, streng konservativen Islam bekennen. Im Jahr 2011 ordneten sich bei Umfragen 20% der jungen Dagestaner einem moderaten Salafismus zu (SWP 4.2017). Deshalb stehen insbesondere salafistische Strömungen im Visier der dagestanischen Behörden, da sie im Verdacht stehen, allfällige militante Umtriebe zu unterstützen. Die dagestanische Volksversammlung verabschiedete 1999 ein Gesetz zum "Verbot wahhabitischer oder anderer extremistischer Tätigkeiten auf dem Gebiet der Republik Dagestan", allerdings ohne genaue Definition von Wahhabismus und Extremismus. Der Kampf gegen den Terrorismus fördert daher mitunter die Drangsalierung von Anhängern des Wahhabismus. Die Behörden wenden zur Terrorismusbekämpfung unterschiedliche Methoden an, darunter Installation von Videokameras in Moscheen, Massenverhaftungen von Gläubigen beim Verlassen der Moscheen und langfristige

Registrierung ihrer Daten. Mitunter werden auch Entführungen, Misshandlungen und die Zerstörung ihrer Häuser als Druckmittel auf Verwandte und Sympathisanten der Rebellen verwendet (ÖB Moskau 12.2018).

Quellen:

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Salafisten contra Sufis, https://www.deutschlandfunk.de/diereligioese-landschaft-dagestans-salafisten-contra-sufis.886.de.html?dram:article_id=389688, Zugriff 12.8.2019

-

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation,

https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 12.8.2019

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus,

https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 12.8.2019

Zeugen Jehovas

Am 20.4.2017 verbot das Oberste Gericht die Moskauer Zentrale und die 395 Regionalverbände der Zeugen Jehovas in Russland. Zur Begründung hieß es, die Religionsgemeinschaft mit ihren mehr als 170.000 Anhängern sei "extremistisch" (AI 22.2.2018, vgl. ÖB Moskau 12.2018, FH 4.2.2019). Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden. Die russischen Behörden gehen auch gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor. Seit April 2017 haben Behörden mindestens 85 strafrechtliche

Ermittlungen eingeleitet. Bei einer Verurteilung drohen ihnen Freiheitsstrafen von zwei bis zehn Jahren Haft. Mit November 2018 waren 27 Zeugen Jehovas in Untersuchungshaft, 17 befanden sich in Hausarrest und 31 weitere durften ihren Wohnort nicht verlassen. Die NGO Memorial erachtet 62 Angehörige der Zeugen Jehovas als aus religiösen Gründen inhaftiert (AA 13.2.2019). Laufende Gerichtsverfahren beziehen sich etwa auf die staatliche Beschlagnahmung von

Eigentum der Religionsgemeinschaft oder die Diskreditierung ihrer Schriften als extremistische

Literatur. Gläubige sollen sich laut Medienberichten bei der Ausübung ihrer Religion nunmehr in die

Verborgenheit zurückziehen. Gewisses Aufsehen erregte in den vergangenen Monaten die Festnahme sowie das Verfahren gegen einen Zeugen Jehovas, der allerdings dänischer Staatsangehöriger ist (ÖB Moskau 12.2018).

Im Jahr 2018 startete die Polizei eine umfassende Kampagne gegen die Zeugen Jehovas. Dazu gehörten Dutzende von Hausdurchsuchungen, Razzien und Verhören (HRW 17.1.2019). Russische Behörden haben angeordnet, dass der Staat Zeugen Jehovas ihre Kinder zur Resozialisierung entziehen kann. Das Plenum des Obersten Gerichts hat im November 2017 bestimmt, dass ein Gericht Eltern das Sorgerecht entziehen kann, wenn sie ihre Kinder mit einer religiösen Organisation in Kontakt bringen, die als extremistisch eingestuft und verboten wurde. Im selben Monat hat das Ministerium für Bildung und Wissenschaft daraufhin die landesweite Empfehlung ausgesprochen, Kinder, die religiös-extremistischen Ideologien ausgesetzt waren, zu resozialisieren. Das Ministerium erwähnt nur zwei Gruppen - Kinder von IS-Angehörigen und Zeugen Jehovas. Bisher ist allerdings kein Fall bekannt geworden (AA 13.2.2019).

Die EU hat Russland aufgerufen, das in ihrer Verfassung garantierte Recht auf Religionsfreiheit zu achten und den Zeugen Jehovas, genauso wie auch anderen Religionsgemeinschaften, die friedliche Religionsausübung zu ermöglichen. Im April 2017 traf sich die Hohe Vertreterin der EU für Außen-und Sicherheitspolitik mit Außenminister Sergej Lawrow in Moskau und thematisierte dabei unter anderem die Verfolgung der Zeugen Jehovas. Die EU wird Russland weiterhin zur Einhaltung der entsprechenden Menschenrechtsstandards drängen (ÖB Moskau 12.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,

https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 12.8.2019

-

AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation,

https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 12.8.2019

-

FH - Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 12.8.2019

-

HRW - Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 12.8.2019

-

ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 12.8.2019

Ethnische Minderheiten

Russland ist ein multinationaler Staat, in dem Vertreter von mehr als hundert Völkern leben. Die

Russen stellen mit 79,8% die Mehrheit der Bevölkerung. Größere Minderheiten sind die Tataren

(4,0%), die Ukrainer (2,2%), die Armenier (1,9%), die Tschuwaschen (1,5%), die Baschkiren

(1,4%), die Tschetschenen (0,9%), die Deutschen (0,8%), die Weißrussen und Mordwinen (je 0,6%), die Burjaten (0,3%) und andere. Vielfach ist die Verflechtung zwischen den nicht-russischen und russischen Bevölkerungsteilen durch gemischte Ehen und interethnische Kommunikation recht hoch, ebenso der Russifizierungsgrad der nichtrussischen Bevölkerungsteile. Nur wenige nationale Gebietseinheiten, wie Tschetschenien, Dagestan, Tschuwaschien und Tuwa, sind stärker vom namensgebenden Ethnos geprägt. Russisch ist die einzige überall geltende Amtssprache. Parallel dazu wird in den einzelnen autonomen Republiken die jeweilige Volkssprache als zweite Amtssprache verwendet (GIZ 8.2019c). Minderheiten sind in der Regel politisch und gesellschaftlich gut integriert (AA 13.2.2019).

Im Nordkaukasus ist die ethnische, kulturelle und sprachliche Vielfalt beeindruckend groß. Deshalb, sowie hinsichtlich der räumlichen Gliederung und der politischen, kulturellen und religiösen Geschichte seiner Volksgruppen, stellt der Nordkaukasus die ethnisch am stärksten differenzierte Region der Russischen Föderation dar. Gerne wird sie als "ethnischer Flickenteppich" bezeichnet (Rüdisser 11.2012).

Die Verfassung garantiert gleiche Rechte und Freiheiten unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache und Herkunft. Entsprechend bemüht sich die Zentralregierung zumindest in programmatischen Äußerungen um eine ausgleichende Nationalitäten- und Minderheitenpolitik, inklusive der Förderung von Minderheitensprachen im Bildungssystem (AA 21.5.2018). Trotzdem werden Rechte von Minderheiten nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert (ÖB Moskau 12.2018). Fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments richten sich insbesondere gegen Kaukasier und Zentralasiaten (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2018, vgl. FH 4.2.2019). "Racial profiling" ist bei den Behörden verbreitet. Je stärker das Aussehen von demjenigen slawischer Osteuropäer abweicht, desto höher ist laut russischen Migrationswissenschaftlern die

Wahrscheinlichkeit, einer polizeilichen Personenkontrolle unterworfen zu werden (AA 13.2.2019). Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine haben zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung geführt. Seitens gewisser nationalistischer Gruppierungen wurde sogar Kritik laut, wonach der Kreml unter Leitung von Präsident Putin das Projekt "Noworossija" zur Eingliederung des Donbass in die Russische Föderation verraten habe. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden daher verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank auch die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen, wie die NGO SOVA bestätigt. Gestiegen ist auch die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen wie etwa die Organisation BORN. Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO SOVA in den vergangenen Jahren über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe. Die meisten Vorfälle gab es wie in den Vorjahren in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe (ÖB Moskau 12.2018).

Anfang Oktober 2018 regte Präsident Putin eine Entschärfung der mitunter überschießend ausgelegten strafrechtlichen Regeln gegen die Anstiftung zum Hass an. Mitte November 2018 billigte die Staatsduma einen Gesetzesentwurf in erster Lesung, laut welchem eine Milderung der Strafe wegen der Anstiftung zum Hass oder Feindseligkeit vorgesehen ist. Demzufolge soll ein erstmaliger Verstoß, der die Staatssicherheit nicht ernsthaft gefährdet, zunächst nur eine verwaltungsrechtliche Geldstrafe und keine strafrechtliche Verantwortlichkeit nach sich ziehen. Erst bei weiterem Verstoß innerhalb eines Jahres ist eine strafrechtliche Verfolgung vorgesehen. Ausschlaggebend für die Neuerungen war vor allem die wachsende Anzahl an oft überzogenen Bestrafungen für öffentliche Äußerungen (teilweise auch nur "Likes" in sozialen Medien), die als extremistisch eingestuft wurden (ÖB Moskau 12.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1434107/4598_1528119149_auswaertiges-amt-bericht-asylund-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-april-2018-21-052018.pdf, Zugriff 12.8.2019

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AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,

https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 12.8.2019

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FH - Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff

12.8.2019

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 5.9.2019

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ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 12.8.2019

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In:

Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zu den Beschwerdeführern:

Die Identität und ihre Staatsangehörigkeit wurde auch bereits vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl festgestellt. Auch wurde bereits im angefochtenen Bescheid festgestellt, dass die Beschwerdeführer verheiratet sind.

Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt.

Dass die Beschwerdeführer Zeugen Jehovas sind, ergibt sich aus ihren glaubwürdigen diesbezüglichen Angaben. Dazu wurde auch noch eine Bestätigung der Jehovas Zeugen in Österreich vorgelegt. Auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte im angefochtenen Bescheid aus, dass es glaubhaft sei, dass sich die Beschwerdeführer zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas bekennen.

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdeführer im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, welche nicht zuletzt auch deshalb durchgeführt wurde, um sich einen persönlichen Eindruck von den Beschwerdeführern zu verschaffen, einen glaubwürdigen Eindruck vermittelten.

Weiters ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführer gleichbleibend angaben, dass sie eine Verfolgung befürchten, weil sie Zeugen Jehovas sind. Dies gaben sie übereinstimmend bei der Erstbefragung, bei der niederschriftlichen Einvernahme, in der Beschwerde sowie bei der Beschwerdeverhandlung an.

In der mündlichen Verhandlung schilderten sie detailliert und lebensnah, dass die Ausübung ihrer Religion in der Russischen Föderation unter fortlaufend erschwerten Bedingungen erfolgte. So führte die BF1 aus, dass sie immer sehr offen ihren Dienst verrichtet hätten, und auf den Straßen missioniert hätten. Später hätten sie sich verstecken müssen und sehr vorsichtig sein müssen. Ihre Säle seien konfisziert worden, die Literatur sei schon 2015 konfisziert worden. Ihre Website sei verboten worden. Sie hätten dann begonnen, sich rein privat in Kleingruppen von 10 bis 15 Personen zu versammeln, immer bei ihnen zu Hause. Sie wären also die Gastgeber für 10 bis 15 Personen gewesen. Nach einigen Monaten sei klar geworden, dass das sehr gefährlich sei, und sie hätten die Gruppengröße auf 5 bis 6 Personen verkleinert. Als sie beschattet worden seien, seien sie nur zu zweit geblieben, damit sie die anderen nicht in Gefahr bringen würden (VH-Protokoll S. 10).

Der BF2 schilderte glaubwürdig, dass er insgesamt viermal befragt worden sei. Dies war deshalb glaubhaft, da er dies plausibel schilderte und nicht den Eindruck erweckte, zu übertreiben, sondern vielmehr die Situation ehrlich darstellte. So verneinte er die Frage, ob er misshandelt worden sei, und führte dazu - schlüssig aus - dass man sich damals noch auf die Gesetze berufen hätte können und der Druck auf die Zeugen Jehovas noch nicht so stark gewesen sei (VH-Protokoll S. 15). Weiters antwortete der BF2 verneinend auf die Frage, ob es körperliche Übergriffe von Sicherheitsbehörden oder sonstigen staatlichen Einrichtungen gegeben habe, sie hätten rechtzeitig fliehen können, würden jetzt aber keine Chance mehr haben. Die Leute, die beschattet worden seien, seien Opfer behördlicher Gewalt geworden (VH-Protokoll S. 16).

Weiters wurde in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und glaubwürdig dargelegt, dass die Beschwerdeführer in der Hierarchie der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation eine gewisse Sonderstellung innegehabt haben (VH-Protokoll S. 11f).

Aus den Länderberichten ergibt sich, dass am 20.04.2017 das Oberste Gericht die Moskauer Zentrale sowie die 395 Regionalverbände der Zeugen Jehovas in Russland verbot und dass die Zeugen Jehovas für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden. Weiter ist zu entnehmen, dass die russischen Behörden gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vorgehen. Seit April 2017 haben Behörden mindestens 85 strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Bei einer Verurteilung drohen ihnen Freiheitsstrafen von zwei bis zehn Jahren Haft.

Die Rückkehrbefürchtungen der Beschwerdeführer stellen sich vor dem Hintergrund der (gehobenen) Funktion der Beschwerdeführer und dem Umstand, dass der BF2 bereits in der Vergangenheit von den Behörden einvernommen und beschattet wurde, als plausibel dar.

Dass die Beschwerdeführer auch in Österreich aktive Mitglieder sind, ergibt sich aus den vorgelegten Bestätigungen der Jehovas Zeugen in Österreich.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0370). Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 17.09.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH vom 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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