TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/3 W111 1258963-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.12.2019
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

03.12.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55

Spruch

W111 1258963-3/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.06.2019, Zl. 742156004/190489257, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 4, 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie §§ 52 Abs. 2 Z 3 und Abs. 9, 46, 53 Abs. 1 und Abs. 3 Z 1, 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 31.10.2007 wurde dem Beschwerdeführer, einem Staatsangehörigen der Russischen Föderation, in Stattgabe seiner Berufung gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.03.2005, Zahl 04 21-560-BAT, gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt und gemäß § 12 leg. cit die Feststellung getroffen, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

Im Rahmen der Begründung stellte der Unabhängige Bundesasylsenat als den entscheidungsrelevanten individuellen Sachverhalt fest, der Beschwerdeführer sei von 1997 bis 1999 Anführer einer tschetschenischen Spezialeinheit gewesen, habe am zweiten Tschetschenienkrieg jedoch aufgrund von Auffassungsunterschieden mit der damaligen tschetschenischen Führung nicht mehr teilgenommen. Sodann sei er als Fahrer, KFZ-Mechaniker und Schweißer tätig gewesen. Daneben sei er inoffiziell als Leibwächter seines Onkels, des damaligen Gouverneurs der Stadt XXXX , beschäftigt gewesen. Dieser Onkel, welcher bei der tschetschenischen Führung und russischen Sicherheitsdiensten in Ungnade gefallen wäre, sei Anfang Oktober 2003 ermordet worden, woraufhin der Beschwerdeführer wegen der traditionellen Verpflichtung, Blutrache zu üben, Nachforschungen angestellt hätte. Mitte April 2004 sei ein Anschlag auf ihn verübt worden, als er sich gerade im Auto befunden hätte. Das Auto sei von zwei Schüssen getroffen worden, der Anschlag sei vermutlich von Mitgliedern des Militärgeheimdienstes GRU verübt worden. Das Haus des Beschwerdeführers sei in seiner Abwesenheit von Sicherheitskräften durchsucht worden. Der Beschwerdeführer gelte aber auch bei den sogenannten Wahhabiten als Verräter, da er am zweiten Tschetschenienkrieg nicht mehr teilgenommen hätte. Ein Freund des ermordeten Onkels und angeblicher Mitarbeiter im Sicherheitsdienst FSB habe dem Beschwerdeführer geraten, Tschetschenien zu verlassen. Dieser Freund sei in der Folge auf ungeklärte Weise verschwunden.

Dem Beschwerdeführer drohe insofern Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung, als dieser den Tod seines Onkels, der bei Kadyrow und bei den russischen Sicherheitsdiensten in Ungnade gefallen wäre, habe aufklären wollen, weshalb ihm nun ebenfalls eine diese politischen Kräfte ablehnende Gesinnung und politische Gegnerschaft unterstellt werde. Zwar möge es zutreffen, dass der Beschwerdeführer außerhalb seiner im Nordkaukasus gelegenen Heimatregion (in anderen Teilen der Russischen Föderation) nicht unmittelbar Verfolgungsmaßnahmen seitens der Wahhabiten ausgesetzt wäre, sodass keine "landesweite Verfolgung" vorliege. Jedoch ergebe sich aus den Länderfeststellungen, dass eine Niederlassung in anderen Teilen der Russischen Föderation aus faktischen Gründen nicht möglich bzw. zumutbar sei, dies im Hinblick darauf, dass die sogenannte Registrierung, von welcher die legale Wohnsitznahme sowie der Zugang zu Beschäftigung und Sozialleistungen abhängig wären, im Regelfall verweigert würde und aufgrund der im Allgemeinen fremdenfeindlichen Haltung der Behörden und der Bevölkerung (Verdächtigung ethnischer Tschetschenen, an terroristischen Aktivitäten beteiligt zu sein) eine Wohnsitznahme außerhalb des Nordkaukasus nicht zumutbar sei.

Gemeinsam mit dem Beschwerdeführer waren dessen Ehegattin und die gemeinsamen minderjährigen Kinder ins Bundesgebiet eingereist, welchen ebenfalls der Status von Asylberechtigten zuerkannt worden war.

2. In Folge mehrfacher strafgerichtlicher Verurteilungen (siehe dazu die Feststellungen unter Punkt I.1.) leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Aktenvermerk vom 14.05.2019 ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten ein und führte am 12.06.2019 im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers durch.

Der Beschwerdeführer brachte auf entsprechende Befragung hin zusammengefasst vor, er sei gesund, benötige keine Medikamente und halte sich seit dem Jahr 2004 in Österreich auf. Seit 2004 sei er zweimal im Heimatland gewesen um seine Mutter zu besuchen, zuletzt vor etwa einem Jahr. Im Zuge des Besuchs habe er sich an der Adresse seiner Mutter in der Stadt XXXX aufgehalten. Die Einreise in sein Heimatland ein Jahr zuvor sei legal mit seinem russischen Reisepass erfolgt, welchen der Beschwerdeführer nunmehr in Vorlage brachte. Der Beschwerdeführer habe insgesamt fünf Kinder. Mit seiner ersten Ehefrau, mit welcher er vier Kinder hätte, lebe er in Scheidung. Seit rund zwei Jahren habe er eine Lebensgefährtin, mit welcher er ein Kind hätte. Von seiner ersten Ehefrau sei er noch nicht amtlich geschieden, er habe die diesbezüglichen Dokumente im Zuge seines Besuchs in der Stadt XXXX eingereicht. Mit seiner nunmehrigen Freundin, einer ungarischen Staatsangehörigen, lebe der Beschwerdeführer in einem gemeinsamen Haushalt und habe mit dieser eine im September 2018 geborene Tochter, welche ebenfalls ungarische Staatsangehörige wäre. Im Zuge seiner beiden einwöchigen Aufenthalte bei seiner Mutter habe sich nichts Nennenswertes ereignet, er habe einfach Zeit mit seiner Mutter verbracht. Im Herkunftsstaat hielten sich noch seine Mutter, zwei Brüder und drei Schwestern auf, diesen ginge es gut. Auf die Frage, welche Befürchtungen er für den Fall einer aktuellen Rückkehr in die Russische Föderation hätte, erklärte der Beschwerdeführer, er wisse nicht, was passieren würde. Alle würden denken, dass der Krieg zu Ende wäre, in Wahrheit ginge er aber weiter. Aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage in Tschetschenien könnte er nicht dorthin zurückkehren. In einem anderen Teil der Russischen Föderation würde ihn niemand erwarten.

In Österreich habe er einen Deutschkurs auf dem Niveau A1 besucht und ansonsten in unterschiedlichen Berufen gearbeitet. Mit seinen Kindern aus seiner früheren Beziehung stünde er in Kontakt, er überweise diesen keine regelmäßigen Geldbeträge, brächte ihnen jedoch manchmal Lebensmittel.

3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 17.06.2019 wurde dem Beschwerdeführer in Spruchteil I. der ihm mit Erkenntnis vom 31.10.2007 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 idgF aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. In Spruchteil II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, weiters wurde ihm in Spruchteil III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG 2005 wurde gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Die Entscheidung über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten wurde darauf gestützt, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation keine Gefährdungslage zu befürchten hätte und eine aktuelle individuelle Furcht vor Verfolgung nicht habe glaubhaft machen können. Dieser habe sich neuerlich unter den Schutz seines Heimatlandes gestellt und habe anlässlich seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl keine aktuellen Fluchtgründe vorgebracht. Vielmehr habe er erklärt, zweimal nach Tschetschenien zurückgekehrt zu sein und dort jeweils eine Woche mit seiner Mutter verbracht zu haben, wobei ihm die Ein- und Ausreisen offenbar problemlos möglich gewesen wären. Im Falle einer etwaigen Suche oder Verfolgung seiner Person wäre der Beschwerdeführer einerseits zu einer freiwilligen Rückkehr in sein Heimatland nicht bereit gewesen, andererseits wäre er in einem solchen Fall direkt bei der Einreisekontrolle festgenommen worden. Überdies habe sich der Beschwerdeführer im Jahr 2015 einen russischen Reisepass ausstellen lassen und habe sich auch durch dieses Verhalten freiwillig wieder unter den Schutz seines Heimatlandes gestellt. Da eine aktuelle Verfolgung demnach keinesfalls mehr vorliegen würde, sei dem Beschwerdeführer eine Rückkehr in den Herkunftsstaat möglich und zumutbar.

Der Beschwerdeführer könnte seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation bestreiten und würde ebendort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Dieser sei gesund, befinde sich im erwerbsfähigen Alter und weise Schulbildung sowie langjährige Berufserfahrung in unterschiedlichen Bereichen auf. Zudem könnte er auf Unterstützung seiner nach wie vor in Tschetschenien aufhältigen Angehörigen zurückgreifen, weshalb es keine Anhaltspunkte für eine dem Beschwerdeführer nach einer Rückkehr drohende existenzgefährdende Lage gebe.

Der Beschwerdeführer sei strafrechtlich in Erscheinung getreten und wegen mehrmaliger Körperverletzung, wegen versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt sowie wegen mehrmaliger Sachbeschädigung verurteilt worden. Der Beschwerdeführer würde getrennt von seiner ersten Frau leben, mit welcher er vier Kinder hätte. Er lebe in einem gemeinsamen Haushalt mit einer ungarischen Staatsbürgerin, mit welcher er eine gemeinsame Tochter habe. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot erweise sich aufgrund der vorliegenden strafgerichtlichen Verurteilungen und der darin zum Ausdruck kommenden Gewaltbereitschaft seiner Person als gerechtfertigt. Die Dauer des erlassenen Einreiseverbotes entspreche jenem Zeitraum, innerhalb dessen ein allfälliger positiver Gesinnungswandel erwartet werden könne.

4. Mit am 10.07.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingelangtem Schriftsatz wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften eingebracht. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Behörde habe sich unzureichend mit den ursprünglichen Verfolgungsgründen befasst und dadurch, ebenso wie durch Nichtdurchführung einer ordnungsgemäßen Gefährdungsprognose, ihre Ermittlungspflichten verletzt. Ob es zu einer wesentlichen und in Anbetracht der Vorgaben der Statusrichtlinie erheblichen und nicht nur vorübergehenden Verbesserung der Umstände gekommen wäre, habe die belangte Behörde nicht ermittelt. Insbesondere hätte die Behörde keine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer erlassen dürfen. Dieser lebe seit dem Jahr 2004 in Österreich, sein Heimatstaat sei ihm nahezu fremd geworden, auch könnte dieser sich nicht auf familiäre Unterstützung verlassen, er sei lediglich aufgrund der schweren Erkrankung seiner Mutter zwei Mal in Russland gewesen. Der Beschwerdeführer habe fünf Kinder in Österreich und hätte demnach seit Jahren einen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel nach dem NAG, welchen er lediglich aus rechtlicher Unkenntnis nicht beantragt hätte. Der Beschwerdeführer bereue seine Straftaten und strebe ein anständiges Leben, gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und seiner zehn Monate alten Tochter, an. Der Beschwerdeführer sei fast durchgehend berufstätig gewesen und arbeite derzeit bei einer Umzugsfirma. Auch seien seine Lebensgefährtin und seine minderjährige Tochter auf sein Gehalt angewiesen. Demgemäß stelle auch die Verhängung eines Einreiseverbotes einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familien- und Privatlebens dar.

5. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 17.07.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

6. Aus einem polizeilichen Abschlussbericht vom 15.10.2019 ergibt sich, dass gegen den Beschwerdeführer am 09.10.2019 infolge des Verdachtes auf Körperverletzung und fortgesetzte Gewaltausübung zum Nachteil seiner Lebensgefährtin ein Betretungsverbot ausgesprochen worden wäre.

Aus einem Schreiben der zuständigen Staatsanwaltschaft vom 25.10.2019 ergibt sich, dass das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachtes des Vergehens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs. 1 StGB eingestellt worden sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 31.10.2007, Zahl 258.963/0/6E-XII/36/05, wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt und gemäß § 12 leg. cit die Feststellung getroffen, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten lag im Wesentlichen zugrunde, dass dem Beschwerdeführer insofern Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung drohe, als dieser den Tod seines Onkels, der bei Kadyrow und bei den russischen Sicherheitsdiensten in Ungnade gefallen wäre, habe aufklären wollen, weshalb ihm nun ebenfalls eine diese politischen Kräfte ablehnende Gesinnung und politische Gegnerschaft unterstellt werde. Eine innerstaatliche Fluchtalternative habe sich zum damaligen Zeitpunkt aufgrund der feindseligen Haltung der Behörden und Bevölkerung in anderen Landesteilen gegenüber Personen aus dem Nordkaukasus und den damit zusammenhängenden Schwierigkeiten beim Zugang zu Wohnraum und Sozialleistungen als nicht zumutbar erwiesen.

1.2. Der Beschwerdeführer verfügt über einen im Juli 2015 ausgestellten russischen Auslandsreisepass, ist nach Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, zuletzt im Jahr 2018, zweimal legal in den Herkunftsstaat gereist und hat sich jeweils rund eine Woche lang bei seinen Angehörigen in der tschetschenischen Teilrepublik aufgehalten. Während seiner freiwilligen Aufenthalte zwecks Besuchs von Angehörigen war er, auch im Zuge der Ein- und Ausreisen, von keinen Problemen betroffen.

1.3. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer spricht Tschetschenisch auf muttersprachlichem Niveau, zudem spricht er Russisch und verfügt über zahlreiche Angehörige sowie eine Wohnmöglichkeit im Herkunftsstaat. In Tschetschenien halten sich zum Entscheidungszeitpunkt unverändert die Mutter, zwei Brüder und drei Schwestern des Beschwerdeführers auf. Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen, hat in der Russischen Föderation eine Ausbildung absolviert und Berufserfahrung gesammelt.

1.4. Der Beschwerdeführer weist die folgenden rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen auf:

1. Landesgericht XXXX vom XXXX , Zl. XXXX

§ 83 Abs. 1 StGB

§ 15 StGB § 269 Abs. 1 1. Fall StGB

§§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 Z 4 StGB

...

Freiheitsstrafe 12 Monate, davon Freiheitsstrafe neun Monate bedingt, Probezeit drei Jahre

2. Bezirksgericht XXXX vom XXXX , Zl. XXXX

§ 83 Abs. 1 StGB

§ 125 StGB

...

Freiheitsstrafe drei Monate, bedingt, Probezeit drei Jahre

...

3. Bezirksgericht XXXX vom XXXX , Zl. XXXX

§ 125 StGB

...

Freiheitsstrafe drei Monate, bedingt, Probezeit drei Jahre

4. Landesgericht XXXX vom XXXX , Zl. XXXX

§ 83 Abs. 1 StGB

...

Freiheitstrafe fünf Monate

Ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet stellt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar, zumal anhand seines bisherigen Verhaltens die Gefahr der neuerlichen Begehung von Gewaltdelikten zu prognostizieren ist.

1.5. Der Beschwerdeführer ist Vater einer im September 2018 im Bundesgebiet geborenen ungarischen Staatsangehörigen, welche eine Anmeldebescheinigung (Familienangehörige) nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) innehat. Die Kindesmutter besitzt ebenfalls die ungarische Staatsangehörigkeit und ist im Besitz einer Anmeldebescheinigung (Arbeitnehmerin). Zwischen dem Beschwerdeführer und der Genannten besteht keine Ehe oder eingetragene Partnerschaft. Dem Beschwerdeführer wird kein Unterhalt durch seine minderjährige Tochter geleistet. Am 09.10.2019 wurde gegen seine Person infolge des Verdachts der Körperverletzung und fortgesetzten Gewaltausübung zum Nachteil seiner (damaligen) Lebensgefährtin ein Betretungsverbot ausgesprochen. Seit dem 23.10.2019 lebt der Beschwerdeführer mit seiner Tochter und der Kindesmutter nicht mehr im gemeinsamen Haushalt. Mit den oben angeführten Urteilen vom XXXX sowie vom XXXX war der Beschwerdeführer wegen der Begehung von Körperverletzungsdelikten zum Nachteil seiner früheren Partnerin rechtskräftig verurteilt worden. Die minderjährige Tochter des Beschwerdeführers wäre im Falle eines Verlusts des Aufenthaltsrechts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet, ebenso wie die Kindesmutter, de facto nicht gezwungen, das Gebiet der Mitgliedstaaten zu verlassen. Diese befindet sich in Obhut der Kindesmutter, welche für ihre Betreuung aufkommen kann. Zudem hat der Beschwerdeführer vier gemeinsame Kinder mit einer früheren Partnerin, welchen in Österreich der Status von Asylberechtigten zukommt. Der Beschwerdeführer wohnt mit diesen in keinem gemeinsamen Haushalt und leistet seinen Kindern keine regelmäßigen Unterhaltszahlungen. Der Beschwerdeführer selbst war zuletzt als Umzugshelfer beschäftigt und befand ich zuvor in unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen, durch welche er weitgehend zur eigenständigen Bestreitung seines Lebensunterhalts in der Lage gewesen ist. Der Beschwerdeführer hat sich grundlegende Deutschkenntnisse angeeignet.

1.6. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern in der Russischen Föderation wird Folgendes festgestellt:

...

Bewegungsfreiheit bzw. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens.

Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

-

ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

Rechtsschutz / Justizwesen

Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

-

ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

...

1. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-

BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-

EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

1. 1.1. Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

-

Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

-

DW - Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt",

https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den "Islamischen Staat" (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

1.2. Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

-

Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

-

Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

2. Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

-

EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-

FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

2. 2.1. Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013):

Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art "alternativer Justiz". Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).

Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen und daher auch zu einem generellen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. In Tschetschenien

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten