TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/4 W111 2218268-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.12.2019
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

04.12.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55

Spruch

W111 2218268-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch den XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.03.2019, Zl. 1128589904-161214157, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005 idgF iVm § 9 BFA-VG sowie §§ 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 46, 53 Abs. 1 und Abs. 3 Z 1, 55 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein volljähriger Staatsbürger der Russischen Föderation, stellte am 05.09.2016 den vorliegenden Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes, nachdem er zuvor illegal ins Bundesgebiet eingereist war. Anlässlich seiner am gleichen Tag abgehaltenen niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer an, er gehöre der tschetschenischen Volksgruppe sowie dem islamischen Glauben sunnitischer Ausrichtung an und habe Tschetschenien Anfang Juli 2016 verlassen; folglich habe er sich zwei Monate lang in der Russischen Föderation aufgehalten und sei anschließend schlepperunterstützt über ihm unbekannte Länder nach Österreich gelangt. Im Jahr 2009 habe er bereits in Polen erfolglos um Asyl angesucht, im Jahr 2010 sei er in den Herkunftsstaat abgeschoben worden. Zum Grund seiner Flucht führte er aus, er habe in der Heimat politische Probleme, derentwegen er Tschetschenien im Jahr 2009 verlassen hätte. Der Beschwerdeführer sei kein Anhänger des amtierenden Präsidenten Tschetscheniens. Am 15.06.2016 sei er von Russland wieder nach Tschetschenien zurückgereist. Am 20.06.2016 sei er nachts angehalten und von Kadyrow-Anhängern geschlagen worden, sodass er im Spital habe behandelt werden müssen. Diese Leute hätten ihn für den Fall, dass er das Land nicht verlasse, mit dem Umbringen bedroht.

Der Beschwerdeführer legte seinen im Jahr 2014 abgelaufenen russischen Reisepass vor. Ein Auszug aus dem Visainformationssystem des Bundesministeriums für Inneres ergab, dass dem Beschwerdeführer im August 2016 durch die lettische Botschaft in Kasachstan ein bis 14.09.2016 gültiges Schengenvisum der Kategorie C ausgestellt worden war und dieser sich im Besitz eines im Februar 2016 ausgestellten, bis Februar 2026 gültigen, russischen Reisepasses befunden hat.

Am 17.01.2019 wurde der Beschwerdeführer im zugelassenen Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Der Beschwerdeführer gab auf entsprechende Befragung hin zusammengefasst zu Protokoll (zum detaillierten Verlauf seiner Befragung vgl. Verwaltungsakt, Seiten 155 bis 175), er sei gesund, benötige keine Medikamente und könne sich auf die durchzuführende Einvernahme konzentrieren. Anlässlich seiner Erstbefragung habe er nicht die Wahrheit gesagt; ihm sei gesagt worden, dass die Erstbefragung nicht so wichtig wäre, ein Bekannter hätte ihm empfohlen, nicht die ganze Wahrheit preiszugeben, um eine baldige Abschiebung zu vermeiden. Von im Bundesgebiet aufhältigen Tschetschenen sei ihm geraten worden, seine Einreise mit dem Flugzeug zu verheimlichen. Seinen Reisepass und Inlandspass habe er nach Ankunft in Österreich nach Hause geschickt. Die Erlangung des Visums und die Organisation seiner Ausreise seien durch seine Verwandten unterstützt worden. In Tschetschenien habe der Beschwerdeführer elf Jahre lang die Schule besucht, den Beruf des Fahrers erlernt sowie eine Fachschule im Bereich des Bauwesens besucht. Da es ihm nicht gelungen wäre, eine legale Arbeit zu finden, habe er bis zu seiner Ausreise "schwarz" als Traktorfahrer gearbeitet. Im Jahr 2009 habe er aufgrund der gleichen Probleme wie nunmehr einen Asylantrag in Polen gestellt. Nach seiner Abschiebung aus Polen habe er vier Jahre lang die besagte Fachhochschule in der XXXX -Region in Russland besucht und nebenbei gearbeitet. Seine in Tschetschenien lebende Familie habe er in diesem Zeitraum ein- bis zweimal monatlich besucht. Der Beschwerdeführer sei in Tschetschenien nie aufgrund seiner Religion, Volksgruppenzugehörigkeit oder Nationalität verfolgt worden.

Zum Grund seiner Flucht führte er aus, sein Vater sei dreimal entführt worden, dies sei der Grund, weshalb der Beschwerdeführer die derzeitige Regierung hasse. Im Jahr 2009 seien der Beschwerdeführer und sein Vater zwecks einer Fahrzeugkontrolle von Polizeibeamten angehalten worden. Sein Vater sei befragt und beschuldigt worden, sich als Freiheitskämpfer beteiligt zu haben. Der Beschwerdeführer habe versucht, seinem Vater zu helfen, sei jedoch ebenfalls angeschrien worden. Sie seien geschlagen und zu einer Polizeistation gebracht worden. Am nächsten Tag seien sie freigelassen worden. Die Polizei habe einige Tage später die Meldeadresse des Beschwerdeführers aufgesucht um diesen abzuholen, habe ihn jedoch nicht angetroffen, da er in diesem Zeitraum bei seiner Großmutter gelebt hätte. Dreimal sei durch die Polizei nach dem Beschwerdeführer gefragt worden, dann habe sein Vater einen Weg gefunden, ihn nach Polen zu schicken, wo er einen Asylantrag gestellt hätte. Von den polnischen Behörden sei er einfach in XXXX abgesetzt worden. In der Folge habe er sich bei einer Tante in Moskau niedergelassen. Mitte August 2010 sei er zur erforderlichen Erneuerung seines Inlandspasses nach Hause gereist und im gleichen Monat entführt worden. Er habe eine Woche im Krankenhaus verbracht und sei dann in eine Stadt außerhalb Tschetscheniens gebracht worden, wo er zwei Monate lang im Bett gepflegt worden sei. Illegal sei er immer wieder nach Tschetschenien gefahren, um sein Elternhaus zu besuchen. Er hätte dann in einer näher bezeichneten russischen Stadt gelebt, sein Hochschulstudium absolviert und sein Leben als Traktorfahrer und auf Baustellen finanziert. In der Nacht von 19. auf 20. August 2016 sei er heimlich zu seinem Elternhaus gereist und sei in der Nähe von maskierten Männern überfallen und geschlagen worden. Der Beschwerdeführer habe sich verteidigt und die Nachbarn seien zur Hilfe gekommen, woraufhin die maskierten Männer geflüchtet wären. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus sei er sogleich in die zuvor erwähnte russische Stadt gegangen, um seine Ausreise aus Russland vorzubereiten. Von einem Schulfreund wisse er, dass auch in der erwähnten russischen Stadt nach ihm gefragt worden sei. Nachgefragt, habe die Polizei ihn im Jahr 2009 an seiner Meldeadresse aufgesucht, da ihm vorgeworfen worden wäre, ein Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung zu sein, nachdem er sich bei der Verkehrskontrolle abfällig gegenüber den Beamten geäußert hätte. Sein Vater und seine Geschwister seien keinen Entführungen ausgesetzt gewesen. Der Beschwerdeführer sei innerlich ein Freiheitskämpfer. Der Beschwerdeführer gehöre keiner politischen Partei an und könnte rechtlich betrachtet in der gesamten russischen Föderation leben. Der Beschwerdeführer bestätigte, in der rund 250 bis 300 Kilometer entfernten russischen Stadt, in welcher er sich teils aufgehalten hätte, nie von offizieller Seite belangt worden zu sein. Sein aktueller Reisepass sei ihm am Passamt in XXXX ausgestellt worden, bei der Ausstellung sei es zu keinen Problemen gekommen. Weitere Fluchtgründe habe er nicht.

In Österreich bestreite er seinen Lebensunterhalt im Rahmen der Grundversorgung, er habe keine Kontakte zur österreichischen Gesellschaft und besuche ein Sprachcafé. Er besitze einen österreichischen Führerschein und könnte für eine Transportfirma tätig werden.

Der Beschwerdeführer legte diverse Diplome aus der Russischen Föderation, eine Kopie seines Arbeitsvisums für Kasachstan, diverse Fotos, die u.a. den Vater des Beschwerdeführers u.a. bei einem Meeting mit dem ehemaligen Präsidenten Tschetscheniens Maschadov sowie den Beschwerdeführer in verwundetem Zustand nach seiner Abschiebung aus Polen im Jahr 2009 zeigen würden, eine tschetschenische Krankenhausbestätigung aus dem Jahr 2016, diverse österreichische ärztliche Befunde, welchen sich insbesondere die (Verdachts-)Diagnosen eines essentiellen Tremors sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung entnehmen lassen, Bestätigungen über den Besuch von Deutschkursen sowie eines Erste-Hilfe-Kurses, eine Einstellungszusage einer Transportfirma, ein Empfehlungsschreiben seines Unterkunftgebers sowie eine Kopie des Reisepasses eines in England lebenden ehemaligen Kommandanten, welcher in einem E-Mail bestätige, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien Probleme gehabt hätte, vor.

Aus einem durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in Auftrag gegebenen neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 30.01.2019 ergibt sich im Wesentlichen, dass der Beschwerdeführer aktuell an essentiellem Tremor, chronischer Lumbalgie mit pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung in die linke untere Extremität sowie einer Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion leide, eine posttraumatische Belastungsstörung sich jedoch nicht feststellen ließe.

Mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Monaten verurteilt, welche ihm unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 23.03.2019 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der beschwerdeführenden Partei auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und den Antrag gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.) sowie dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein Einreiseverbot in der Dauer von vier Jahren erlassen (Spruchpunkt VII.).

Die Behörde stellte die Staatsbürgerschaft, Identität und Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers fest und legte ihrer Entscheidung ausführliche Feststellungen zur aktuellen Situation in dessen Herkunftsstaat zu Grunde. Das Bundesamt habe nicht feststellen können, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland einer staatlichen Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Im Rahmen der Beweiswürdigung wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer versucht habe, die Behörde über seinen tatsächlichen Reiseweg sowie den Besitz eines gültigen russischen Reisepasses und eines Schengenvisums zu täuschen und dadurch seine persönliche Glaubwürdigkeit beeinträchtigt hätte. Der Beschwerdeführer habe bereits bei der Erstbefragung wissentlich die Unwahrheit angegeben, um eine bessere Ausgangsposition für sein Asylverfahren zu erlangen. Im Vorfeld hätte dieser bereits im Jahr 2009 in Polen um Asyl angesucht, wobei im dortigen Verfahren ebenfalls keine Gründe für eine Asylgewährung zu Tage getreten wären. Es sei nicht nachvollziehbar, wie der Beschwerdeführer zur Feststellung gelangen habe können, dass es sich bei den Personen, welche ihn angegriffen hätten, um Anhänger von Kadyrow gehandelt hätte, zumal diese seinen Angaben zufolge maskiert gewesen wären. Soweit in einem vorgelegten Arztbrief festgehalten werde, dass der Beschwerdeführer tatsächlich von unbekannten Männern verletzt worden wäre, so würden damit lediglich die Schilderungen des Beschwerdeführers gegenüber dem Krankenhauspersonal wiedergegeben. Die Behörde halte es für glaubwürdig, dass der Beschwerdeführer im Juni 2016 tatsächlich in eine tätliche Auseinandersetzung verwickelt gewesen und dabei verletzt worden sei. Es sei jedoch nicht zu erkennen, dass der Beschwerdeführer eine besondere Stellung innerhalb der tschetschenischen Gesellschaft oder bei einer Organisation innegehabt hätte, welche ihn als Einzelperson für die tschetschenische Regierung dermaßen interessant erscheinen ließe, als dass eine Verfolgung seiner Person nachvollziehbar erschiene. Gegen eine solche spreche auch der Umstand, dass es dem Beschwerdeführer möglich gewesen wäre, eine stationäre Behandlung in einem Krankenhaus in XXXX in Anspruch zu nehmen. Es wäre denkbar, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien in eine gewöhnliche Schlägerei verwickelt gewesen wäre, zumal er auch in Österreich bereits wegen Gewaltdelikten in Erscheinung getreten sei. Soweit der Beschwerdeführer als den Grund der Verfolgung eine Tätigkeit seines Vaters als Freiheitskämpfer genannt hätte, sei nicht nachvollziehbar, dass sein Vater und sonstige Familienmitglieder weiterhin unbehelligt in Tschetschenien leben könnten, der Beschwerdeführer jedoch von den dortigen Behörden verfolgt werden würde. Darüber hinaus sei es ihm möglich gewesen, sich unmittelbar vor Ausreise in XXXX einen Reisepass ausstellen zu lassen, was im Falle einer tatsächlichen Verfolgung nicht möglich gewesen wäre. Der Beschwerdeführer habe keine Belege für sein Vorbringen in Vorlage gebracht; dass sein Vater als Freiheitskämpfer aktiv gewesen wäre, sei nachvollziehbar, begründe jedoch keine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers.

Eine Rückkehr in die Russische Föderation sei dem Beschwerdeführer zumutbar und möglich. Dieser habe im Heimatland noch genügend familiäre Anknüpfungspunkte und es habe nicht festgestellt werden können, dass ihm in seinem Heimatland die Lebensgrundlage gänzlich entzogen wäre. Der Beschwerdeführer sei ein junger und arbeitsfähiger Mann, welcher den Großteil seines Lebens im Heimatland verbracht hätte und in die dortige Gesellschaft integriert sei. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer von allfälligen negativen Lebensumständen in der Russischen Föderation in höherem Maße betroffen wäre, als jeder andere Staatsbürger in einer vergleichbaren Lage. Dieser leide an keinen schwerwiegenden Erkrankungen und habe im Bundesgebiet zuletzt keine (medikamentöse) Behandlung in Anspruch genommen. Dem Beschwerdeführer wäre es möglich, in Tschetschenien oder in einem anderen Landesteil selbständig für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Der Beschwerdeführer habe in der Vergangenheit in Moskau und in XXXX gelebt, sodass sich auch diese beiden Städte für eine Neuansiedelung anbieten würden.

Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte oder schützenswerte private Bindungen, dieser sei mittellos, lebe von der Grundversorgung und habe keine Deutschkursbestätigungen in Vorlage gebracht. Ein schützenswertes Familien- und Privatleben in Österreich sei nicht begründet worden, zudem sei der Beschwerdeführer strafrechtlich in Erscheinung getreten und aufgrund schwerer Körperverletzung zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Aufgrund der Schwere und der Verwerflichkeit seiner Straftat in Verbindung mit dessen mangelnder Integration in die österreichische Gesellschaft sei ein Einreiseverbot in der ausgesprochenen Dauer zu verhängen gewesen.

3. Mit Eingabe vom 23.04.2019 wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde erhoben, in welcher der dargestellte Bescheid vollumfänglich angefochten wurde. Begründend wurde zusammenfassend ausgeführt, dem Argument der erkennenden Behörde, demzufolge der Beschwerdeführer bei der Erstbefragung nicht die wahre Reiseroute genannt hätte, sei entgegenzuhalten, dass dem Beschwerdeführer das Verschweigen der Reiseroute von Bekannten angeraten worden wäre. Aus den Länderberichten ergebe sich, dass die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte in der Regel maskiert wären, weshalb das Vorbringen des Beschwerdeführers insofern nicht widersprüchlich wäre. Für die Aufmerksamkeit der tschetschenischen Behörden reiche es bereits, dass man kein Kadyrow-Anhänger wäre. Bei der Annahme der Behörde, es sei aufgrund des Umstandes, dass der Beschwerdeführer in Österreich wegen eines Gewaltdelikts verurteilt worden wäre, möglich, dass er auch in Tschetschenien in eine gewöhnliche Schlägerei geraten wäre, handle es sich um reine Spekulation. Zur Entführung im Jahr 2010 habe die Behörde keine näheren Nachfragen gestellt. Eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Russischen Föderation sei dem Beschwerdeführer aufgrund des Einflusses von Kadyrow im gesamten Staatsgebiet nicht zur Verfügung gestanden. Den Länderberichten ließe sich desweiteren entnehmen, dass nach wie vor zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane, insbesondere in Tschetschenien, begangen würden. Der Beschwerdeführer befürchte, dass sich seine psychischen Probleme nach einer Rückkehr nach Tschetschenien verschlimmern und einer fachgerechten Behandlung nicht zugänglich sein würden. Der Beschwerdeführer bereue sein bisheriges Verhalten sehr und ersuche daher, das Einreiseverbot aufzuheben oder in seiner Dauer herabzusetzen.

4. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 02.05.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein. In einer zugleich eingebrachten Stellungnahme führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, dass der Einfluss Kadyrows außerhalb Tschetscheniens nicht besonders ausgeprägt wäre und sich aus den Angaben des Beschwerdeführers sowie den vorgelegten Beweismitteln nicht habe ableiten lassen, dass der Beschwerdeführer eine dermaßen wichtige Persönlichkeit wäre, dass Anhänger Kadyrows ihn bis in andere Teile der Russischen Föderation verfolgen würden. Entgegenstehendes sei auch in der Beschwerde nicht konkret dargelegt worden. Das allgemeine Sicherheitsrisiko in der Russischen Föderation sei keinesfalls derart ausgeprägt, als dass die Russische Föderation als IFA gänzlich nicht in Betracht zu ziehen wäre.

5. Einem am 07.08.2019 übermitteltem Schreiben der Finanzpolizei lässt sich entnehmen, dass der Beschwerdeführer am 15.05.2019 ohne die erforderliche arbeitsmarktrechtliche Bewilligung beim Arbeiten auf einer Baustelle angetroffen worden sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher die im Spruch ersichtlichen Personalien führt, der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum islamischen Glauben bekennt. Seine Identität steht fest. Der Beschwerdeführer reiste im September 2016 in das österreichische Bundesgebiet ein und hält sich seit diesem Zeitpunkt ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Der Beschwerdeführer stammt aus Tschetschenien, wo er die Schule besuchte und bis zum Jahr 2009 im Familienverband lebte. Im Jahr 2009 verließ er den Herkunftsstaat und stellte am 20.10.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz in Polen, welcher seinen Angaben zufolge abgewiesen wurde. Infolge seiner Abschiebung in den Herkunftsstaat lebte er zunächst bei einer Tante in Moskau, in weiterer Folge lebte der Beschwerdeführer in der Region XXXX , wo er eine Fachschule im Bauwesen absolvierte und seinen Lebensunterhalt durch inoffizielle Arbeit auf Baustellen und als Traktorfahrer bestritt. Seine nach wie vor in Tschetschenien aufhältige Familie besuchte er in diesem Zeitraum regelmäßig. Im Februar 2016 ließ sich der Beschwerdeführer am Passamt in XXXX einen russischen Auslandsreisepass ausstellen, reiste in der Folge nach Kasachstan, beantragte bei der dortigen lettischen Botschaft die Ausstellung eines Schengen-Visums zu touristischen Zwecken und reiste in der Folge auf dem Luftweg legal in das Gebiet der Mitgliedstaaten ein.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation respektive Tschetschenien festgestellt werden.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation respektive Tschetschenien in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Dem Beschwerdeführer ist es möglich und zumutbar, sich alternativ zu einer Rückkehr in seine Herkunftsregion Tschetschenien in einem anderen Teil der Russischen Föderation, etwa neuerlich in Moskau oder in der Region Stawropol, niederzulassen, wo er bereits im Vorfeld seiner Ausreise gelebt hat.

Der Beschwerdeführer, bei welchem ein essentieller Tremor, eine chronische Lumbalgie mit pseudoradikulärer Schmerzausstrahlung in die linke untere Extremität sowie eine Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion diagnostiziert worden sind, leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, welche einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat entgegenstehen würden. In der Russischen Föderation respektive Tschetschenien besteht eine ausreichende medizinische Grundversorgung, weswegen der Beschwerdeführer hinsichtlich allfälliger psychischer und physischer Leiden ausreichend behandelt werden könnte.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zahl XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß § 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Monaten, welche unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde, verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer im Februar 2018 eine Person am Körper verletzt hat, indem er dieser mehrere Faustschläge ins Gesicht versetzte und dadurch, wenn auch nur fahrlässig, eine schwere Körperverletzung, nämlich eine mediale Orbitwandfraktur und eine Nasenbeinfraktur samt Monokelhämatom, herbeigeführt hat.

Ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet würde eine schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen, zumal anhand seines bisherigen Verhaltens zu prognostizieren ist, dass dieser neuerlich Gewaltverbrechen begehen wird. Zudem ist aufgrund seiner Mittellosigkeit und seiner fehlenden Möglichkeiten zur Aufnahme einer legalen Erwerbstätigkeit anzunehmen, dass ein weiterer Aufenthalt mit einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft einhergehen wird.

Der Beschwerdeführer ging in Österreich keiner legalen Erwerbstätigkeit nach, bestritt seinen Lebensunterhalt durch den Bezug staatlicher Unterstützungsleistungen und war zu keinem Zeitpunkt selbsterhaltungsfähig. Der Beschwerdeführer hat Deutschkurse besucht und sich grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache angeeignet, welche er jedoch nicht durch Ablegung einer Prüfung formell nachgewiesen hat. Dieser hat sich in keinen Vereinen engagiert, war nicht ehrenamtlich tätig und hat keine Familienangehörigen oder sonst engen sozialen Bezugspersonen im Bundesgebiet. Eine den Beschwerdeführer betreffende aufenthaltsbeendende Maßnahme würde keinen ungerechtfertigten Eingriff in dessen gemäß Art. 8 EMRK geschützte Rechte auf Privat- und Familienleben darstellen.

1.3. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern in der Russischen Föderation wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

-

ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

-

ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

...

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-

BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-

EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

...

Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

-

Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

-

Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

-

EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-

FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013):

Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art "alternativer Justiz". Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017).

Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen und daher auch zu einem generellen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. In Tschetschenien werden Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitsbehörden mit Straffreiheit begangen (US DOS 20.4.2018, vgl. HRW 7.2018, AI 22.2.2018).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

-

EASO - European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf,

S. 9, Zugriff 2.8.2018

-

EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-

DIS - Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation - residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service's fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 2.8.2018

-

HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten