TE Vfgh Erkenntnis 2019/12/13 E3687/2019 ua

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Veröffentlicht am 13.12.2019
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Index

L8500 Straßen

Norm

B-VG Art83 Abs2
StraßenG Nö 1999 §11
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter betreffend die Inanspruchnahme der Zuständigkeit zur Überprüfung der Höhe einer Enteignungsentschädigung durch das Landesverwaltungsgericht anstelle eines ordentlichen Gerichts auf Grund verfassungskonformer Auslegung einer Bestimmung des NÖ StraßenG

Spruch

 1. Die Beschwerdeführer sind jeweils durch Spruchpunkt 1., erster Satz, der angefochtenen Erkenntnisse im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) verletzt worden.

Die Erkenntnisse werden insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerden abgelehnt.

II. Das Land Niederösterreich ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.357,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerden und Vorverfahren

1.       Die Beschwerdeführer sind jeweils Eigentümer eines bestimmten Grundstückes, das von der rechtskräftigen straßenrechtlichen Baubewilligung für die Errichtung der Umfahrung Harmannsdorf-Rückersdorf im Zuge der B6 (Laaer Straße) betroffen ist.

2.       Mit Bescheiden vom 29. Mai 2019 verfügte die Niederösterreichische Landesregierung die Enteignung dieser Grundstücke und setzte nach Einholung entsprechender Gutachten die jeweilige Entschädigungssumme mit € 180.500,– (E 3687/2019) bzw € 164.000,– (E4044/2019) fest. Den gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden gab das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich dahingehend Folge, dass der jeweilige Entschädigungsbetrag mit € 196.745,– (E3687/2019) bzw € 178.760,– (E4044/2019) festgesetzt wurde (jeweils Spruchpunkt 1., erster Satz); im Übrigen wies es die Beschwerden als unbegründet ab (jeweils Spruchpunkt 1., zweiter Satz).

3.       Gegen diese Entscheidungen richten sich die vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Erkenntnisse beantragt wird.

4.       Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hat in dem zu E3687/2019 protokollierten Fall die Verwaltungs- und Gerichtsakten sowie in dem zu E4044/2019 protokollierten Fall die Gerichtsakten vorgelegt und jeweils von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen.

5.       Die Niederösterreichische Landesregierung hat in dem zu E4044/2019 protokollierten Fall die Verwaltungsakten vorgelegt und keine Äußerung erstattet.

6.       Das Land Niederösterreich hat als beteiligte Partei jeweils eine Äußerung erstattet, in der es den Beschwerdevorwürfen entgegentritt.

II. Rechtslage

Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

§11 Niederösterreichisches Straßengesetz 1999 (in der Folge: NÖ StraßenG), LGBl 8500-3, lautet (ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"§11

Enteignung

(1) Das Eigentum an Grundstücken und Bauwerken darf vom Straßenerhalter durch Enteignung in Anspruch genommen werden

- für den Bau, die Umgestaltung und Erhaltung einer Straße oder

- zur Umwandlung einer für den allgemeinen Verkehr notwendigen Privatstraße nach §7 in eine öffentliche Straße.

(2) Abs1 gilt auch für die dauernde Einräumung, Abtretung, Einschränkung oder Aufhebung von dinglichen Rechten. Werden Eisenbahngrundstücke für Zwecke nach Abs1 beansprucht, gelten hiefür die eisenbahnrechtlichen Vorschriften.

(3) Über die Notwendigkeit, den Gegenstand und Umfang einer Enteignung nach Abs1 und 2 hat die Landesregierung zu entscheiden. In dem Bescheid ist auch die Höhe der Entschädigung festzusetzen.

(4) Der Enteignete ist für alle durch die Enteignung verursachten vermögensrechtlichen Nachteile schadlos zu halten. Der Wert der besonderen Vorliebe ist nicht zu ersetzen. Bei der Entschädigung einer Fläche oder eines Bauwerks ist der Verkehrswert heranzuziehen. Werterhöhungen des Grundstücks durch straßenbauliche Maßnahmen und Investitionen nach der ersten nachweislichen Information der Öffentlichkeit über ein konkretes Straßenbauvorhaben (§4 Z3) sind nicht zu berücksichtigen. Die Verminderung des Wertes eines etwa verbleibenden Grundstücksrestes ist zu berücksichtigen. Ist dieser Grundstücksrest unter Berücksichtigung seiner bisherigen Verwendung nicht mehr zweckmäßig nutzbar, so ist auf Antrag des Eigentümers das ganze Grundstück einzulösen.

(5) Binnen 3 Monaten ab Rechtskraft des Bescheides nach Abs3 darf sowohl der Enteignete als auch der Straßenerhalter beim Landesgericht, das aufgrund der Lage des betroffenen Grundstücks zuständig ist, die Neufestsetzung der Entschädigung begehren. Langt ein solcher Antrag bei Gericht ein, tritt die diesbezügliche Entscheidung der Landesregierung außer Kraft.

Für das gerichtliche Verfahren sind die Bestimmungen des Eisenbahn-Enteignungsentschädigungsgesetzes – EisbEG, BGBl.Nr 71/1954 in der Fassung BGBl I Nr 111/2010, sinngemäß anzuwenden. Der Antrag auf gerichtliche Neufestsetzung darf ohne Zustimmung des Antragsgegners zurückgezogen werden. Wenn der Antrag zurückgezogen wird, gilt der im Bescheid bestimmte Betrag als vereinbart.

(6) Die Einleitung des Verfahrens ist dem Grundbuchsgericht zur Anmerkung im Grundbuch mitzuteilen. Die Anmerkung hat zur Folge, dass der Bescheid über die Enteignung gegen jeden wirksam wird, für den im Range nach der Anmerkung eine Eintragung erfolgt.

Wenn seit der Rechtskraft der Entscheidung über die Enteignung mindestens 3 Monate vergangen sind und die Entschädigung bezahlt oder bei Gericht hinterlegt worden ist, darf das Eigentumsrecht einverleibt werden. Mit der Einverleibung ist gleichzeitig die Anmerkung der Einleitung des Verfahrens zu löschen."

III. Erwägungen

Die Beschwerden sind zulässig.

A. Soweit sie sich jeweils gegen Spruchpunkt 1., erster Satz, der angefochtenen Entscheidungen richten, sind sie auch begründet.

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn es in gesetzwidriger Weise seine Zuständigkeit ablehnt, etwa indem es zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).

2. Ein solcher Fehler ist dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich unterlaufen:

2.1. Seine Zuständigkeit zur Entscheidung über die Beschwerden der Einschreiter auch hinsichtlich der Höhe des Entschädigungsbetrages begründet das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich mit dem klaren Wortlaut des §11 Abs5 NÖ StraßenG, der auf die Rechtskraft des Enteignungsbescheides (und nicht – wie §116 Abs2 Niederösterreichisches Jagdgesetz 1974 [in der Folge: NÖ JG] – auf die Zustellung des Bescheides) abstelle.

2.2. Die Ansicht des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich hätte zur Folge, dass eine von einer Enteignung gemäß §11 NÖ StraßenG betroffene Person nur dann beim örtlich zuständigen Landesgericht die Neufestsetzung der Entschädigung begehren kann, wenn sie den Enteignungsbescheid nicht mittels Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht bekämpft, weil die Erhebung dieses ordentlichen Rechtsmittels (dem idR gemäß §13 VwGVG aufschiebende Wirkung zukommt) den Eintritt der Rechtskraft hindert. Konsequenz dieser Rechtsansicht wäre auch, dass je nachdem, ob der Enteignungsbescheid mittels Beschwerde beim Landesverwaltungsgericht bekämpft wird oder nicht, dieses oder andernfalls das örtlich zuständige Landesgericht zur Überprüfung der Höhe der Enteignungsentschädigung berufen ist, wobei lediglich letzteres zur sinngemäßen Anwendung der Bestimmungen des Eisenbahn-Enteignungsentschädigungsgesetzes gehalten ist (vgl §11 Abs5 zweiter Satz NÖ StraßenG), was zB für die Frage der Kostentragung einen erheblichen Unterschied machen kann.

2.3. Es deutet nichts darauf hin, dass der Niederösterreichische Landesgesetzgeber diese Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte bewusst getroffen hat; es erscheint vielmehr naheliegend, dass im Zuge der Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit 1. Jänner 2014 schlicht verabsäumt wurde, die Regelung des §11 Abs5 NÖ StraßenG entsprechend anzupassen. Dieses Ergebnis wird auch durch einen Blick auf die vom Landesverwaltungsgericht Niederösterreich zum Vergleich herangezogene Bestimmung des §116 Abs2 NÖ JG gestützt, der bereits seit dem Jahr 2012 eine sukzessive Zuständigkeit des örtlich zuständigen Landesgerichtes vorsieht. Auch in den vergleichbaren Regelungen des §23 Abs5 Z4 Niederösterreichisches Elektrizitätswesengesetz 2005, des §11 Abs6 Niederösterreichisches Forstausführungsgesetz und des §20 litc Niederösterreichisches Starkstromwegegesetz wird – wie in §116 Abs2 NÖ JG – auf die Zustellung bzw Erlassung eines die Entschädigung bestimmenden Bescheides abgestellt, sodass die Zuständigkeit zur Überprüfung der Höhe der Entschädigung immer beim ordentlichen Gericht liegt, unabhängig davon, ob der jeweilige Bescheid dem Grunde nach bekämpft wird bzw werden kann. §11 Abs5 NÖ StraßenG ist daher verfassungskonform so zu verstehen, dass nicht das Landesverwaltungsgericht, sondern ausschließlich das örtlich zuständige Landesgericht zur Überprüfung der Höhe der Entschädigung berufen ist.

2.4. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hat die Beschwerdeführer dadurch im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) verletzt, dass es eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit auf Überprüfung der Höhe der Enteignungsentschädigung in Anspruch genommen hat.

B. Im Übrigen (also hinsichtlich des jeweiligen Spruchpunktes 1., zweiter Satz) wird die Behandlung der Beschwerden abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die vorliegenden Beschwerden rügen die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Fragen, ob sich das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hinreichend mit dem Vorbringen der Beschwerdeführer zur behaupteten UVP-Pflicht des in Rede stehenden Projektes auseinandergesetzt hat sowie ob vom Landesverwaltungsgericht Niederösterreich innerstaatliche einfachgesetzliche Normen oder unionsrechtliche Normen (vgl VfSlg 14.886/1997) anzuwenden waren, sind spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht anzustellen.

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit jeweils durch Spruchpunkt 1., erster Satz, der angefochtenen Entscheidungen im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) verletzt worden.

2. Die Erkenntnisse sind daher in diesem Umfang aufzuheben.

3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerden abgesehen.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Den Beschwerdeführern ist der insgesamt einfache Pauschalsatz – erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag – zuzusprechen, weil sie durch ein und denselben Rechtsanwalt vertreten waren und es ihnen sowohl in zeitlicher als auch in sachverhaltsmäßiger und rechtlicher Hinsicht möglich gewesen wäre, gegen die – vom Sachverhalt und der rechtlichen Beurteilung her – gleichgelagerten Erkenntnisse eine gemeinsame Beschwerde einzubringen (vgl VfSlg 19.404/2011). In den zugesprochenen Kosten sind Umsatzsteuer in Höhe von € 479,60 sowie der Ersatz der für jede Beschwerde entrichteten Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in Höhe von insgesamt € 480,– enthalten.

Damit erübrigt sich ein Abspruch über die Anträge, den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Schlagworte

Enteignung, Auslegung verfassungskonforme, Bundesstraße, Gericht Zuständigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E3687.2019

Zuletzt aktualisiert am

18.02.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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