TE Vwgh Erkenntnis 2020/1/15 Ra 2017/22/0047

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Veröffentlicht am 15.01.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §10 Abs3
AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der O B, vertreten durch Mag. Michael-Thomas Reichenvater, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Herrengasse 13/II, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Februar 2017, W182 2140249-1/4E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005, Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Festsetzung einer Ausreisefrist und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1.1. Die belangte Behörde wies mit Bescheid vom 28. Oktober 2016 den Antrag der Revisionswerberin, einer mongolischen Staatsangehörigen, vom 29. Februar 2016 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab. Weiters erließ sie gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG die Zulässigkeit der Abschiebung nach § 46 FPG fest und setzte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen fest.

1.2. Die belangte Behörde führte begründend im Wesentlichen aus, der Antrag der (erstmals) am 21. Dezember 2005 illegal nach Österreich eingereisten Revisionswerberin auf internationalen Schutz sei im Instanzenzug mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 29. Dezember 2011, in Rechtskraft erwachsen am 2. Jänner 2012,- verbunden mit einer Ausweisung - abgewiesen worden. Die Revisionswerberin habe (nach Abschiebung in den Heimatstaat am 10. Juli 2012 und neuerlicher illegaler Einreise) am 17. Jänner 2013 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der mit Bescheid vom 20. Februar 2013, in Rechtskraft erwachsen am 5. März 2013, wegen entschiedener Sache - verbunden mit einer Ausweisung - zurückgewiesen worden sei. Die Revisionswerberin halte sich seitdem rechtswidrig im Bundesgebiet auf, wobei sie sich am 1. Februar 2013 "nach unbekannt entfernt" habe und "in die Anonymität in Österreich abgetaucht" sei. Am 29. Februar 2016 habe sie schließlich den hier gegenständlichen Antrag gestellt; sie habe dazu diverse Beweismittel vorgelegt und sei am 10. Mai 2016 von der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen worden.

1.3. Die belangte Behörde ging (ergänzend zum Vorgesagten) von folgenden Feststellungen aus:

Die Revisionswerberin sei strafrechtlich unbescholten. Sie habe den überwiegenden Teil ihres Lebens im Herkunftsstaat verbracht, sei dort sozialisiert worden, mit den dortigen Sitten und Gebräuchen vertraut, spreche die Landessprache, habe dort eine Schulausbildung abgeschlossen und sei als Verkäuferin berufstätig gewesen; sie habe auch regelmäßig Kontakt mit ihrem dort lebenden Vater. Zum Herkunftsstaat bestehe somit eine soziale und familiäre Vernetzung. Im Fall der Abschiebung sei von keiner (völligen) sozialen Isolation im Heimatstaat auszugehen, die Revisionswerberin könne vielmehr wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen und sich eine Lebensgrundlage schaffen. Es bestünden auch keine Gründe für die Annahme einer Gefahr im Sinn des § 50 FPG.

Die Revisionswerberin habe zwei in Österreich lebende volljährige Kinder, die ebenso mongolische Staatsangehörige seien. Die in Wien lebende Tochter sei im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigt, der in Graz lebende Sohn befinde sich im internationalen Schutzverfahren. Die Kinder führten ein eigenständiges Leben, es bestehe kein gemeinsamer Haushalt mit der Revisionswerberin, es liege auch kein sonstiges Abhängigkeitsverhältnis vor. Anderweitige familiäre Bindungen seien in Österreich nicht vorhanden.

Die Revisionswerberin sei gesund und arbeitsfähig. Sie habe bisher keine Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt, sie verfüge jedoch über einen Arbeitsvorvertrag als Reinigungskraft vom 27. Jänner 2016 und eine weitere Absichtserklärung einer Reinigungsfirma (vom 29. September 2015) betreffend eine stundenweise Beschäftigung.

Die Revisionswerberin habe sich während ihres Aufenthalts in Österreich Kenntnisse der deutschen Sprache auf A2-Niveau angeeignet und eine diesbezügliche Prüfung am 6. Juni 2015 abgelegt.

Die Revisionswerberin habe eine Taufbescheinigung (vom 28. Februar 2016) sowie Unterstützungs- bzw. Empfehlungsschreiben diverser Privatpersonen vorgelegt, wobei diese Unterlagen ebenso im gewissen Maß von einer gelungenen sozialen Integration in Österreich zeugten.

1.4. Rechtlich folgerte die belangte Behörde im Wesentlichen:

Eine Antragszurückweisung gemäß § 58 Abs. 10 AsylG 2005 komme - trotz rechtskräftiger Ausweisung zuletzt mit 5. März 2013 - nicht in Betracht, weil auf Grund des zwischenzeitig geänderten Sachverhalts eine neue Abwägung im Sinn des Art. 8 EMRK erforderlich sei.

Nach § 55 AsylG 2005 sei ein Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn dies (bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen) gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten sei. Vorliegend ergebe die diesbezügliche Beurteilung, dass der beantragte Aufenthaltstitel zu versagen sei.

Der Revisionswerberin sei zwar eine gewisse Integration zuzugestehen, deren Gewicht sei aber erheblich dadurch gemindert, dass ihr Aufenthalt nur auf Grund der Asylanträge vorübergehend berechtigt und daher unsicher gewesen sei. Sie habe nicht damit rechnen dürfen, nach Abweisung der Asylanträge in Österreich bleiben zu können, woran die lange Verfahrensdauer nichts ändere. Der Revisionswerberin sei weiters schwer anzulasten, dass sie nach der rechtskräftigen Abweisung der Asylanträge illegal in Österreich verblieben und insbesondere mit 1. Februar 2013 "in die Anonymität abgetaucht" sei, um sich der Abschiebung zu entziehen. Sie habe dadurch gravierend gegen die fremdenpolizeilichen Vorschriften verstoßen und die öffentliche Ordnung schwer beeinträchtigt, sie habe zudem erkennen lassen, dass sie die österreichische Rechtsordnung nicht einhalten wolle. Was die einzelnen Kriterien der Abwägung gemäß Art. 8 EMRK betreffe, so sei von einem Familienleben in Österreich nicht auszugehen, weil zwischen der Revisionswerberin und den erwachsenen Kindern kein gemeinsamer Haushalt bzw. kein sonstiges Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Es seien auch keine anderweitigen familiären Anknüpfungspunkte in Österreich gegeben. Was das Privatleben betreffe, so komme zwar das Bemühen der Revisionswerberin um eine Beschäftigung in dem vorliegenden Arbeitsvorvertrag und der weiteren Einstellungszusage zum Ausdruck. Daraus könne aber nicht auf eine "eventuelle fixe Anstellung nach Abschluss des Probemonats" geschlossen werden. Die Revisionswerberin sei auch nie einer sozialversicherungspflichtigen

Beschäftigung in Österreich nachgegangen und habe keine Ambitionen zur Erlangung einer beruflichen Integration gezeigt. Das nunmehrige Bemühen sei daher als relativiert zu erachten und nur mit der Absicht zu erklären, den Aufenthalt (doch noch) zu legalisieren.

Soweit sich die Revisionswerberin während ihres langjährigen Aufenthalts Sprachkenntnisse angeeignet und eine Prüfung auf A2- Niveau abgelegt habe, werde dadurch allein die Integration nicht entscheidend gestärkt.

Die Taufurkunde sowie die Unterstützungs- und Empfehlungsschreiben diverser Privatpersonen zeugten zwar ebenso im gewissen Maß von einer sozialen Integration. Der Umstand relativiere sich aber dadurch, dass die Kontakte in einem Zeitraum geschaffen worden seien, als der Aufenthalt an das Abwarten der Entscheidung im Asylverfahren geknüpft bzw. bereits illegal gewesen sei. Was die strafrechtliche Unbescholtenheit anbelange, so habe diese weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung der die Ausweisung gebietenden öffentlichen Interessen zur Folge.

Da die Revisionswerberin den überwiegenden Teil ihres Lebens im Herkunftsstaat verbracht habe, dort aufgewachsen sei, eine Schulausbildung abgeschlossen und einen Beruf ausgeübt habe, und dort auch ihr Vater lebe, mit dem sie Kontakt pflege, sei vom Fortbestehen eines sozialen Netzwerks bzw. einer Bindung zum Heimatstaat und damit von der Zumutbarkeit einer Reintegration (mit Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und Schaffung einer Existenzgrundlage) auszugehen.

Insgesamt ergebe sich daher bei einer Gesamtabwägung, dass das der Revisionswerberin vorzuwerfende Fehlverhalten und die dadurch beeinträchtigten öffentlichen Interessen die durch das Privatleben begründeten persönlichen Interessen an einem weiteren Verbleib in Österreich deutlich überwögen. Folglich sei die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zu versagen, eine Rückkehrentscheidung zu fällen und die Zulässigkeit der Abschiebung auszusprechen (gewesen).

2.1. Die Revisionswerberin erhob Beschwerde gegen den Bescheid. Sie wandte sich darin vor allem gegen die Interessenabwägung der belangten Behörde, indem sie bemängelte, ihre weitgehende Integration in Österreich bzw. ihre nicht mögliche Reintegration im Herkunftsstaat seien nicht entsprechend gewürdigt worden. Weiters behauptete sie diverse der Entscheidung anhaftende Fehler, unter anderem eine unzureichende Berücksichtigung der vorgelegten Urkunden. Ferner beantragte sie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

2.2. Mit Eingabe vom 26. Jänner 2017 legte die Revisionswerberin weitere Urkunden vor, und zwar einen Arbeitsvorvertrag vom 14. Dezember 2016 (der inhaltlich im Wesentlichen jenem vom 27. Jänner 2016 entsprach) sowie ein Schreiben der Baptistengemeinde Linz vom 7. Jänner 2017 mit einer (von 35 Personen gefertigten) Unterschriftenliste. In dem zuletzt genannten Schreiben wurde um ein "Bleiberecht" für die Revisionswerberin ersucht und deren Tätigkeit seit dem Jahr 2013 - etwa durch regelmäßige Teilnahme an Veranstaltungen, durch Mithilfe bei Aktivitäten und durch Betreuung hilfsbedürftiger Menschen - hervorgehoben.

3.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab.

3.2. Das Verwaltungsgericht ging im Wesentlichen von dem bereits durch die belangte Behörde festgestellten Sachverhalt aus, wobei es ergänzend (unter anderem) festhielt:

Die Revisionswerberin habe sich nach ihrem Untertauchen (am 1. Februar 2013) erst wieder ab dem 7. September 2015 im Bundesgebiet amtlich gemeldet.

Gegen den Sohn der Revisionswerberin bestehe seit September 2012 eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung samt einem auf zehn Jahre befristeten Einreiseverbot. Von der Tochter werde die Revisionswerberin mit monatlich EUR 500,-- finanziell unterstützt. Die Revisionswerberin habe sich als ein im Februar 2016 getauftes Mitglied der Baptistengemeinde sozial integriert und verfüge über einen entsprechenden Freundes- und Bekanntenkreis.

3.3. Das Verwaltungsgericht schloss sich im Wesentlichen auch der rechtlichen Würdigung der belangten Behörde an, wobei es ergänzend (unter anderem) ausführte:

Die Dauer des unrechtmäßigen Aufenthalts resultiere nicht aus den Behörden zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen. Die Revisionswerberin sei vielmehr zuletzt im Jänner 2013 illegal eingereist und trotz rechtskräftiger Abweisung des weiteren Asylantrags und Ausweisung illegal im Bundesgebiet verblieben und dabei zeitweise (von Februar 2013 bis zur neuerlichen Meldung im September 2015) auch untergetaucht.

Was die familiären Bindungen betreffe, so bestehe gegenüber dem Sohn eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot. Eine allfällige Abhängigkeit von der finanziellen Unterstützung durch die Tochter sei insofern relativiert, als die Unterstützung auch durch Überweisungen in den Herkunftsstaat bewirkt werden könne. Im Übrigen sei die Revisionswerberin gesund und arbeitsfähig und somit grundsätzlich selbsterhaltungsfähig. Die Revisionswerberin sei (neben ihrer losen Beziehung zu den erwachsenen Kindern) auch als getauftes Mitglied der Baptistengemeinde in Österreich sozial integriert.

Was die zeitliche Komponente des Aufenthalts betreffe, so sei zwar bei einer mehr als zehnjährigen Aufenthaltsdauer regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen, außer der Fremde hätte die im Bundesgebiet verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Vorliegend sei jedoch - selbst wenn man den Aufenthalt während des ersten Asylverfahrens hinzurechnete und damit zu einer mehr als zehnjährigen Gesamtdauer gelangte - zu berücksichtigen, dass die Revisionswerberin seit der Wiedereinreise im Jänner 2013 bloß eine soziale - nicht auch eine berufliche - Integration erlangt habe und ihr ein erhebliches fremdenrechtliches Fehlverhalten (infolge der wiederholten unbegründeten Asylanträge, der illegalen Einreise und des illegalen Verbleibs in Österreich) anzulasten sei.

Insgesamt stellten sich daher die von der Revisionswerberin geltend gemachten Umstände in Summe nicht als derart außergewöhnlich und gewichtig dar, dass die privaten Interessen an einem Verbleib in Österreich die öffentlichen Interessen im Sinn des Art. 8 EMRK überwögen.

3.4. Eine mündliche Verhandlung habe - so das Verwaltungsgericht weiter - gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt als geklärt anzusehen sei. Die Integrationskriterien seien bereits durch die belangte Behörde festgestellt worden, darüber hinausgehende neue klärungsbedürftige Sachverhaltselemente seien im Beschwerdeverfahren nicht aufgezeigt worden, das Verwaltungsgericht habe bloß eine andere Gewichtung der schon festgestellten Umstände vorgenommen. Auch sonst habe sich kein Anlass ergeben, den Sachverhalt im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu erörtern.

3.5. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, in der unter anderem bemängelt wird, das Verwaltungsgericht habe keine mündliche Verhandlung durchgeführt. Bei Abhaltung einer Verhandlung hätte sich das Verwaltungsgericht einen persönlichen Eindruck von der Revisionswerberin verschaffen können und hätte diese ihre weitgehende soziale Integration nachweisen können.

4.2. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Die Revision ist - entgegen dem den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Verwaltungsgerichts (§ 34 Abs. 1a VwGG) - aus dem von der Revisionswerberin geltend gemachten Grund (Punkt 4.1.) zulässig und im Sinn der nachstehenden Erwägungen auch berechtigt.

6.1. Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG - die Bestimmung geht der bloß subsidiär anwendbaren Norm des § 24 Abs. 4 VwGVG vor - kann selbst bei Vorliegen eines ausdrücklichen Antrags eine mündliche Verhandlung dann unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.

6.2. Vorliegend stützte sich das Verwaltungsgericht beim Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf den erstgenannten Tatbestand des § 21 Abs. 7 BFA-VG. Mit diesem hat sich der Verwaltungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, eingehend befasst. Demnach muss der wesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts noch immer die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Behörde muss die die maßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Verwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der behördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstanziiertes Bestreiten des von der Behörde festgestellten Sachverhalts außer Betracht bleiben kann (vgl. VwGH 23.6.2015, Ra 2014/22/0181; 18.2.2019, Ra 2016/22/0115).

Wie der Verwaltungsgerichtshof ferner in ständiger Rechtsprechung (im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung) vertritt, kann die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden. Vielmehr kommt der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zu (vgl. VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101; neuerlich Ra 2016/22/0115).

7.1. Nach dem Vorgesagten kann somit das Verwaltungsgericht von einer mündlichen Verhandlung - trotz ausdrücklichem Antrag - absehen, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Dies ist freilich dann nicht der Fall, wenn (unter anderem) der wesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde nicht vollständig erhoben bzw. im Beschwerdeverfahren ein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender relevanter Sachverhalt behauptet wird. Von einer solchen Konstellation, in der der wesentliche Sachverhalt nicht als (gänzlich) geklärt erscheint, ist auch hier auszugehen.

7.2. Die Revisionswerberin beantragte im Beschwerdeverfahren ausdrücklich die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung, wobei sie unter anderem eine unzureichende Berücksichtigung der vorgelegten Urkunden bemängelte und (mit Eingabe vom 26. Jänner 2017) weitere Urkunden in Vorlage brachte, darunter insbesondere ein von 35 Personen unterstütztes Schreiben der Baptistengemeinde Linz vom 7. Jänner 2017, in dem der Revisionswerberin die jahrelange Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeiten (unter anderem auch durch Betreuung hilfsbedürftiger Personen) bescheinigt wurde. Zu dieser - erstmals im Beschwerdeverfahren behaupteten - ehrenamtlichen Betätigung wurden aber im verwaltungsbehördlichen Verfahren keine Erhebungen durchgeführt, sodass der Sachverhalt insofern ungeklärt erscheint.

Bei den betreffenden Tätigkeiten handelt es sich um einen mit Blick auf die vorzunehmenden Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK durchaus wesentlichen Umstand, ist doch in einer jahrelangen ehrenamtlichen Betätigung (unter anderem mit Betreuung hilfsbedürftiger Menschen) ein deutlicher Hinweis auf das Bestehen einer weitgehenden sozialen Integration in Österreich zu erblicken. Eine derartige ehrenamtliche Betätigung stellt zudem ein starkes Indiz für das - von der belangten Behörde und vom Verwaltungsgericht in Zweifel gezogene - (grundsätzliche) Vorliegen einer Arbeitsbereitschaft auf Seiten der Revisionswerberin dar.

Nach der schon aufgezeigten Rechtsprechung kommt bei den durchzuführenden Erhebungen - zumal es um die Intensität der sozialen Bindungen in Österreich geht - der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu.

7.3. Im Hinblick darauf hat jedoch das Verwaltungsgericht zu Unrecht von der beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung Abstand genommen. Das Verwaltungsgericht wird im fortgesetzten Verfahren die Abhaltung einer Verhandlung zur Vornahme der erforderlichen Erhebungen nachzuholen haben.

8.1. Dabei wird das Verwaltungsgericht auch zu beachten haben, dass bei der Beurteilung, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob eine Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die persönlichen Interessen eines Fremden an seinem Verbleib in Österreich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zunehmen, dies selbst wenn die Aufenthaltsdauer nicht allein maßgeblich ist, sondern anhand der Umstände des Einzelfalls zu prüfen ist, inwieweit der Fremde die Zeit genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt ist freilich regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen; nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sind Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach einem so langen Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig anzusehen (vgl. etwa VwGH 8.11.2018, Ra 2016/22/0120; 17.3.2016, Ro 2015/22/0016).

Die Maßgeblichkeit der soeben aufgezeigten Judikatur (zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Aufenthalt) wird vom Verwaltungsgerichtshof der Sache nach auch für jene Fälle anerkannt, in denen ein Inlandsaufenthalt von insgesamt mehr als zehnjähriger Dauer einmalig für wenige Monate unterbrochen wurde (vgl. abermals VwGH Ro 2015/22/0016).

8.2. Vorliegend hielt sich die Revisionswerberin von ihrer erstmaligen Einreise im Dezember 2005 bis zum Ergehen der (angefochtenen) Entscheidung des Verwaltungsgerichts - unterbrochen lediglich durch einen einmaligen ungefähr sechsmonatigen Auslandsaufenthalt (von ihrer Abschiebung im Juli 2012 bis zur neuerlichen Einreise im Jänner 2013) - in Österreich auf. Davon ausgehend war sie jedoch im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bereits ungefähr zehneinhalb Jahre im Inland aufhältig.

Bei einem derart langen inländischen Aufenthalt ist freilich nach der oben aufgezeigten Rechtsprechung regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen. Dass die Revisionswerberin die im Inland verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hätte, um sich sozial und beruflich zu integrieren, kann vorliegend - vorbehaltlich allfälliger gegenteiliger Tatsachenfeststellungen im fortgesetzten Verfahren - auf dem Boden des Beschwerdevorbringens nicht von vornherein angenommen werden.

9. Insgesamt ergibt sich daher, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen und dadurch seine Entscheidung mit Rechtswidrigkeit belastet hat.

Das angefochtene Erkenntnis war deshalb zur Gänze - die weiteren Aussprüche allein können keinen Bestand haben - nach § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

10. Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20

14.

Wien, am 15. Jänner 2020

Schlagworte

Begründung BegründungsmangelBesondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2017220047.L00

Im RIS seit

18.02.2020

Zuletzt aktualisiert am

18.02.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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