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82 GesundheitsrechtNorm
B-VG Art7 Abs1 / VerwaltungsaktLeitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht durch denkunmögliche Rechtsanwendung bei Abweisung eines Antrags auf Rückerstattung zu viel bezahlter Kammerumlagen; keine Präjudizialität einer denkunmöglich angewendeten Vorschrift; denkunmögliche Anwendung von Umlagenordnungen bei Fällung einer Sachentscheidung über das mangels vorheriger bescheidmäßiger Festsetzung der zu zahlenden Kammerumlage unzulässige RückforderungsbegehrenSpruch
Die beschwerdeführende Partei ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Die Ärztekammer für Wien ist schuldig, der beschwerdeführenden Partei zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit S 18.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1. Mit Bescheid des Präsidenten der Ärztekammer für Wien vom 16.7.1993 wurde der Antrag des Facharztes für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Dr. B M auf Rückerstattung der in seinem Berufsleben an die Ärztekammer für Wien zu viel gezahlten Kammerumlagen abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, daß der Antragsteller seit dem 1.10.1975 Kammerangehöriger der Ärztekammer für Wien und daher gemäß den §§41 und 56 ÄrzteG dazu verpflichtet sei, die nach der jeweils geltenden Umlagenordnung vorgeschriebenen Kammerumlagen zu entrichten. Dem Antrag auf teilweise Rückerstattung fehle jede Rechtsgrundlage, da die entrichteten Kammerumlagen der jeweils geltenden Umlagenordnung der Ärztekammer für Wien entsprochen haben.
Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Bescheid des Vorstandes der Ärztekammer für Wien vom 18.1.1994 abgewiesen. Diese Entscheidung wurde damit begründet, daß dahingestellt bleiben könne, ob die gegen die Umlagenordnung vorgebrachten Bedenken des Antragstellers zutreffen oder nicht, da die Verwaltungsbehörde an bestehende Normen gebunden sei. Dies sei auch vom bekämpften erstinstanzlichen Bescheid zutreffend erkannt worden.
2. In der dagegen erhobenen, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird die Anwendung einer verfassungswidrigen Verordnung sowie die Verletzung nicht näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides begehrt.
3.1. Anstelle einer Äußerung der belangten Behörde, d.h. des Vorstandes der Ärztekammer für Wien, ist eine vom Präsidenten gefertigte "Stellungnahme der Ärztekammer für Wien" beim Verfassungsgerichtshof eingelangt.
3.2. Auf die Stellungnahme der Ärztekammer hat der Beschwerdeführer repliziert. Die Ärztekammer für Wien, vertreten durch den geschäftsführenden Vizepräsidenten, hat daraufhin eine weitere Stellungnahme abgegeben, auf welche der Beschwerdeführer wiederum repliziert hat. In Erwiderung darauf hat die Ärztekammer für Wien, vertreten durch den Präsidenten, eine weitere Stellungnahme erstattet, auf die der Beschwerdeführer erneut repliziert hat.
3.2.1. In weiterer Folge hat der Verfassungsgerichtshof die Österreichische Ärztekammer eingeladen, aus ihrer Sicht zu einer Reihe von Fragen Stellung zu nehmen. Die Fragen gingen dahin, ob die Ärztekammern für ihre Mitglieder in Abhängigkeit von der Art der Berufsausübung unterschiedliche (Service)Leistungen, und wenn ja, in welchem Umfang, erbringen. Der Gerichtshof interessierte sich dafür, ob der Aufwand für die den einzelnen Berufsgruppen der Ärzte erbrachten Kammerleistungen gleichartig ist, oder ob er in Abhängigkeit von der Art der einzelnen Berufsgruppen variiert. Der Gerichtshof ersuchte des weiteren um die Übermittlung allenfalls vorhandener statistischer Daten über das durchschnittliche Einkommen in freier Praxis niedergelassener Ärzte ohne Kassenverträge und solcher mit Kassenverträgen und ersuchte um Beantwortung der Frage, ob Verhandlungen betreffend den Abschluß von Kassenverträgen mit den Sozialversicherungsträgern von der Österreichischen Ärztekammer oder von den einzelnen Landesärztekammern geführt werden, in welchen Zeitabständen solche Vertragsverhandlungen stattfinden und welche Kosten dabei der Österreichischen Ärztekammer bzw. den einzelnen Landesärztekammern entstehen.
3.2.2. Die Österreichische Ärztekammer hat zu diesen Fragen Stellung genommen.
Auch die Ärztekammer für Wien hat zu den Fragen des Verfassungsgerichtshofes, die ihr von der Österreichischen Ärztekammer zur Kenntnis gebracht wurden, Stellung genommen.
In weiterer Folge teilte die Österreichische Ärztekammer im Wege eines kurzen Schriftsatzes mit, daß ihr bei der Abgabe ihrer Stellungnahme ein Fehler unterlaufen sei und korrigierte diesen.
3.2.3. Der Beschwerdeführer hat auf die Schriftsätze der beiden Ärztekammern repliziert und in einem weiteren Schriftsatz auch noch ergänzende Unterlagen vorgelegt.
3.2.4. In Beantwortung eines Ersuchens des Verfassungsgerichtshofes um Vorlage sämtlicher, die Zahlung oder Einhebung der Kammerumlage vom Beschwerdeführer betreffender Akten bzw. Unterlagen gab die Ärztekammer für Wien schließlich detailliert bekannt, welche Beträge ab dem 1. Quartal 1984 bis zum 1. Quartal 1996 aus der Abrechnung der Krankenscheine von der Abrechnungsstelle der Kammer (ab dem 1. Quartal 1990 von den Kassen direkt) einbehalten und an die Ärztekammer weitergeleitet wurden. Daß Bescheide über die Kammerumlage in der Zeit ab 1. Oktober 1975 erlassen oder - vor dem nunmehrigen Rechtsstreit - auch nur begehrt worden wären, ist im Verfahren weder behauptet noch erwiesen worden.
4. Die einschlägigen Vorschriften des ÄrzteG 1984, BGBl. Nr. 373/1984 idF BGBl. Nr. 100/1994, lauten wie folgt:
"§41. Alle Kammerangehörigen sind verpflichtet, die von der Ärztekammer im Rahmen ihres gesetzlichen Wirkungskreises gefaßten Beschlüsse zu befolgen sowie die in der Umlagenordnung und in der Beitragsordnung festgesetzten Umlagen und Beiträge zu leisten."
"§56. (1) ...
(2) Zur Bestreitung der finanziellen Erfordernisse für die Durchführung der im §38 dieses Bundesgesetzes angeführten, den Ärztekammern übertragenen Aufgaben, ausgenommen jedoch für den im §38 Abs2 Z6 genannten Wohlfahrtsfonds, sowie zur Erfüllung der gegenüber der Österreichischen Ärztekammer bestehenden Umlageverpflichtung heben die Ärztekammern von sämtlichen Kammerangehörigen die Kammerumlage ein.
(3) Die gesetzlichen Sozialversicherungsträger und Krankenfürsorgeanstalten haben die Kammerumlagen, die in der jeweiligen Umlagenordnung als Schillingbeträge oder Prozentsätze ausgewiesen sind, bei den Honorarabrechnungen einzubehalten und sie längstens bis zum 15. Tag nach Fälligkeit der Honorarzahlung an die zuständige Ärztekammer abzuführen, sofern dies in der Umlagenordnung vorgesehen ist. Die Umlagenordnung hat nähere Bestimmungen, insbesondere über die Festsetzung und Entrichtung der Kammerumlage und der monatlichen oder vierteljährlichen Vorauszahlungen sowie über die Einbehalte der Kammerumlage und Vorauszahlungen vom Kassenhonorar durch die gesetzlichen Sozialversicherungsträger und Krankenfürsorgeanstalten bei Vertragsärzten, vorzusehen. Die gesetzlichen Sozialversicherungsträger und Krankenfürsorgeanstalten haben den Ärztekammern über deren Verlangen zur Überprüfung der Berechnung der Kammerumlagen im Einzelfall das arztbezogene Kassenhonorar, die arztbezogenen Fallzahlen sowie eine Aufschlüsselung des Bruttoumsatzes eines Arztes nach den jeweiligen Einzelleistungen zu übermitteln. Eine Übermittlung dieser Daten durch die Ärztekammern ist unzulässig.
(4) Die Kammerumlage ist unter Bedachtnahme auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und unter Berücksichtigung der Art der Berufsausübung der Kammerangehörigen festzusetzen. Die Umlagenordnung kann nähere Bestimmungen vorsehen, daß Kammerangehörige, die den ärztlichen Beruf nicht ausschließlich in einem Dienstverhältnis ausüben, verpflichtet sind, alljährlich bis zu einem in der Umlagenordnung zu bestimmenden Zeitpunkt schriftlich alle für die Errechnung der Kammerumlage erforderlichen Angaben zu machen und auf Verlangen die geforderten Nachweise über die Richtigkeit dieser Erklärung vorzulegen; wenn dieser Verpflichtung nicht zeitgerecht und vollständig entsprochen wird, erfolgt die Vorschreibung auf Grund einer Schätzung; diese ist unter Berücksichtigung aller für die Errechnung der Kammerumlage bedeutsamen Umstände vorzunehmen.
(5) ...
(6) Erste Instanz für das Kammerumlageverfahren ist der Präsident. Gegen Beschlüsse des Präsidenten steht den Betroffenen das Recht der Beschwerde an den Vorstand zu. Im übrigen ist für das Verfahren das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG 1950) in der jeweils gültigen Fassung anzuwenden.
(7) Die mit dem Betrieb des Wohlfahrtsfonds und der wirtschaftlichen Einrichtungen verbundenen Verwaltungskosten sind aus den Mitteln dieser Einrichtungen aufzubringen."
5. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
5.1.1. In der Beschwerde wird die Verletzung in Rechten infolge der Anwendung einer verfassungswidrigen Verordnung, nämlich der Umlagenordnung der Ärztekammer für Wien für das Jahr 1993, mit näherer Begründung behauptet.
5.1.2. Die behauptete Verletzung in Rechten wegen Anwendung gesetzwidriger Verordnungen liegt nicht vor, da weder die genannte Umlagenordnung noch die ihr seit dem Jahr 1975 vorangegangenen Umlagenordnungen im vorliegenden Beschwerdeverfahren präjudiziell sind. Die belangte Behörde hat ihre Entscheidung zwar damit begründet, "daß die vom Beschwerdeführer entrichteten Kammerumlagen der jeweils geltenden Umlagenordnung der Ärztekammer für Wien entsprachen und daher für den Antrag auf teilweise Rückerstattung keine Rechtsgrundlage besteht." Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ist nun Präjudizialität zwar dann gegeben, wenn eine Rechtsnorm von der Behörde angewendet wurde oder auch nur anzuwenden war (vgl. zB VfSlg. 5373/1966 und die dort zitierte Vorjudikatur). Die faktische Anwendung einer Vorschrift begründet Präjudizialität jedoch nur dann, wenn die Anwendung denkmöglich erfolgt (VfSlg. 5373/1966, 8999/1980; vgl. auch VfSlg. 9906/1983).
Die Anwendung der seit dem Jahr 1975 jeweils in Geltung gestandenen Umlagenordnungen der Ärztekammer für Wien im Bescheid der belangten Behörde und der Behörde erster Instanz erfolgte jedoch auf denkunmögliche Weise, wie die folgenden Erwägungen zeigen:
Gemäß §56 Abs3 ÄrzteG hat die Umlagenordnung einer Ärztekammer "nähere Bestimmungen, insbesondere über die Festsetzung und Entrichtung der Kammerumlage" vorzusehen. Schon aus dieser Verwendung der Wörter "Festsetzung" und "Entrichtung" nebeneinander erhellt, daß das Gesetz zwischen der Bestimmung der Kammerumlage und ihrer Abfuhr unterscheidet. Diese Wortwahl bestätigt, daß - zumindest in bestimmten Fällen - die Festsetzung der Kammerumlage durch Bescheid zu erfolgen hat. Verstärkt wird dieses Interpretationsergebnis noch durch die Vorschrift des §56 Abs4 ÄrzteG. Danach kann die Umlagenordnung nähere Bestimmungen vorsehen, daß ihren ärztlichen Beruf nicht ausschließlich in einem Dienstverhältnis ausübende Kammerangehörige verpflichtet sind, alljährlich alle für die Errechnung der Kammerumlage erforderlichen Angaben zu machen und auf Verlangen die geforderten Nachweise über die Richtigkeit dieser Erklärung vorzulegen; wenn dieser Verpflichtung nicht zeitgerecht und vollständig entsprochen wird, erfolgt die Vorschreibung aufgrund einer Schätzung. Daß es sich bei dieser Vorschreibung um einen Bescheid handeln muß, ergibt sich eindeutig aus §56 Abs6 ÄrtzeG: Diese Vorschrift legt nämlich fest, daß der Präsident der Ärztekammer erste Instanz für das Kammerumlageverfahren ist, daß Betroffenen das Recht der Beschwerde gegen Beschlüsse des Präsidenten an den Vorstand der Ärztekammer zusteht und daß im übrigen für das Kammerumlageverfahren das AVG in der jeweils gültigen Fassung anzuwenden ist.
Das ÄrzteG sieht somit - auch wenn es die Entrichtung der Kammerumlagen im Weg von Einbehalt und Abführung durch die gesetzlichen Sozialversicherungsträger und Krankenfürsorgeanstalten bzw. die Dienstgeber ermöglicht - zur Vorschreibung der Kammerumlage prinzipiell ein Verwaltungsverfahren vor, das durch Bescheid abgeschlossen wird. Damit aber ist jedem Kammerangehörigen - und damit auch denjenigen, denen, weil sie in einem Vertragsverhältnis zu einem Sozialversicherungsträger stehen, die Kammerumlage als (in der Umlagenordnung festgesetzter) Prozentsatz vom Bruttohonorar abgezogen, einbehalten und abgeführt wird - die Möglichkeit eröffnet, die bescheidmäßige Festsetzung der von ihm zu entrichtenden Kammerumlage zu verlangen. Im Wege einer Beschwerde an den Vorstand der Ärztekammer als Behörde zweiter Instanz ist es dem Kammerangehörigen dann möglich, Einwendungen gegen die Höhe der Umlagenvorschreibung vorzubringen und gegebenenfalls - nach Durchlaufen des Instanzenzuges - im Wege einer Beschwerde gemäß Art144 B-VG im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof seine Bedenken gegen die angewendete Umlagenordnung vorzubringen.
Ist dem einzelnen Kammerangehörigen aber durch das Gesetz ein solcher Weg eröffnet, dann ist eine behauptete Unrichtigkeit bei der Einbehaltung der Kammerumlage durch Beschreiten des Festsetzungsverfahrens zu relevieren. Das bescheidmäßige Ergebnis dieses Verfahrens ist die Voraussetzung für ein allfälliges Rückforderungsbegehren. Wenn, wie hier, die Möglichkeit der Stellung eines Rückforderungsantrages von Gesetzes wegen nicht ausdrücklich eingeräumt ist, ist die Stellung eines solchen solange unzulässig, als nicht die zu zahlende Kammerumlage durch Bescheid festgesetzt ist und sich daraus ergibt, daß von der Abrechnungsstelle oder den Kassen vom Konto des Kammerangehörigen zuviel einbehalten und an die Ärztekammer abgeführt wurde.
Die belangte Behörde hat dies verkannt und mit dem bekämpften Bescheid eine Sachentscheidung getroffen, in der sie nach dem Gesagten in denkunmöglicher Weise die zwischen 1975 und 1993 in Geltung gestandenen Umlagenordnungen angewendet hat. Der Beschwerdeführer wurde deshalb - die denkunmögliche Anwendung eines Gesetzes stellt nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ein Indiz für Willkür dar (vgl. zB VfSlg. 8006/1977 und 13372/1993) - durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt. Der Bescheid ist daher aufzuheben.
Welche Beitragsverpflichtungen den Beschwerdeführer für die Vergangenheit treffen und ob er eine Überzahlung geleistet hat, muß einem allfälligen künftigen Festsetzungsverfahren vorbehalten bleiben. Erst nachfolgend wird über die Berechtigung eines allfälligen Rückforderungsbegehrens zu befinden sein.
6. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §88 VerfGG. Zuzusprechen waren nur die Kosten für die Beschwerde, nicht aber für die weiteren, nicht abverlangten Schriftsätze. In den zugeprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von S 3.000,-- enthalten.
Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
VfGH / Präjudizialität, Ärztekammer, Beiträge (Ärztekammer)European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1996:B732.1994Dokumentnummer
JFT_10039074_94B00732_00