TE Vwgh Erkenntnis 2019/8/22 Ra 2019/21/0149

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Veröffentlicht am 22.08.2019
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §9
MRK Art8 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17. April 2019, W158 2192321-1/12E, betreffend insbesondere Feststellung der dauernden Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: G R H in P, vertreten durch Mag. Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Ringstraße 9), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im bekämpften Umfang (Spruchpunkt A.II., ausgenommen die Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 9. März 2018) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte ist ein im Februar 1993 in Kabul geborener afghanischer Staatsangehöriger, der in seinem Heimatland zwölf Jahre die Schule besuchte und danach einen Universitätsabschluss erlangte. In Afghanistan leben noch seine Eltern und Geschwister. 2 Er stellte nach seiner Einreise am 1. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen Antrag wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 9. März 2018 zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Unter einem sprach es aus, dass dem Mitbeteiligten ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (von Amts wegen) nicht erteilt werde (Spruchpunkt III.) und es erließ gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.). Des Weiteren stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Schließlich setzte es gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

3 Die dagegen erhobene Beschwerde zog der Mitbeteiligte am Ende der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (B VwG) am 20. März 2019 in Bezug auf die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides des BFA vom 9. März 2018 wieder zurück. Hinsichtlich des übrigen, aufrechterhaltenen Teils der Beschwerde erkannte das BVwG sodann mit Spruchpunkt A.II. des nunmehr angefochtenen Erkenntnisses vom 17. April 2019, dass die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen BFA-Bescheides als unbegründet abgewiesen werde. Hingegen gab das BVwG der Beschwerde gegen die übrigen Spruchpunkte IV. bis VI. des BFA-Bescheides statt und erklärte gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig. Demzufolge erteilte es dem Mitbeteiligten gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 den Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten. Im Übrigen behob das BVwG die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen BFA-Bescheides ersatzlos. Unter einem wurde noch das Beschwerdeverfahren zu den Spruchpunkten I. und II. des genannten BFA-Bescheides beschlussmäßig eingestellt (Spruchpunkt A. I.) und ausgesprochen, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).

4 Zur Integration des unbescholtenen Mitbeteiligten stellte das BVwG fest, er habe einen Erste-Hilfe-Grundkurs absolviert und sei seit Juli 2016 freiwilliger Mitarbeiter beim Roten Kreuz. In diesem Jahr habe er auch insgesamt fast 35 Stunden Remunerationstätigkeiten für den örtlichen Tourismusverband und freiwillige Leistungen im Rahmen eines zweiwöchigen Kinderspielefestes erbracht. Am 11. Juli 2017 habe er letztlich die Deutschprüfung auf dem Niveau B1 erfolgreich abgelegt. Seit 12. Juli 2017 absolviere der Mitbeteiligte bei einem Metallbauunternehmen in Oberösterreich eine Lehre als Metalltechniker; dabei zeige er Verlässlichkeit, Engagement und große Genauigkeit. Seit Februar 2018 beziehe er keine Leistungen mehr aus der Grundversorgung und lebe aktuell mit einem afghanischen Freund in einer gemieteten Wohnung. Der Mitbeteiligte habe - belegt durch entsprechende Empfehlungsschreiben - zahlreiche intensive soziale Kontakte zu Österreichern aufgebaut. In der Beweiswürdigung hielt das BVwG dazu noch fest, seine Angaben in der mündlichen Verhandlung ließen keinen Zweifel, dass der Mitbeteiligte mittlerweile zu einem Teil der "hiesigen Kultur und Gesellschaft" geworden sei. Die freundschaftlichen Beziehungen gingen "weit über ein ‚typisches Privatleben' hinaus". Es habe sich somit ergeben, dass mittlerweile "eine besonders gelungene und nachhaltige Integrationsverfestigung" vorliege. 5 Daraus folgerte das BVwG in der rechtlichen Beurteilung, der Mitbeteiligte habe die in Österreich bisher verbrachte Zeit äußerst erfolgreich genutzt, um sich in vielerlei Hinsicht über das übliche Maß hinausgehend in die Gesellschaft zu integrieren. Er habe dem entsprechend einen hohen Grad der Integration in sprachlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht erreicht, der sich im nachhaltigen Erwerb von Deutschkenntnissen, im gelungenen Miteinander im sozialen Umfeld, im erfolgreichen Ausüben einer Berufstätigkeit und in der dadurch erlangten Selbsterhaltungsfähigkeit manifestiere. Zwar sei der Mitbeteiligte in Afghanistan geboren, habe dort den Großteil seines bisherigen Lebens verbracht und verfüge nach wie vor im Heimatland über Familienangehörige. Dennoch begründe die mit der fortgeschrittenen Aufenthaltsdauer in Österreich korrelierende abnehmende Bindung zu seinem Herkunftsstaat vor dem Hintergrund der nachhaltigen sozialen und wirtschaftlichen Integration ein überwiegendes Interesse des Mitbeteiligten am Verbleib in Österreich. Das BVwG verkenne nicht, dass grundsätzlich ein hohes öffentliches Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt regelnden Bestimmungen bestehe und dass sich der Mitbeteiligte seines unsicheren Aufenthaltsstatus hätte bewusst sein müssen, doch sei im gegenständlichen Fall aus den dargelegten Gründen in einer Gesamtschau und bei Abwägung aller Umstände das Interesse des Mitbeteiligten an einer Fortführung des Privatlebens in Österreich höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung. Es sei daher festzustellen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei. Sodann führte das BVwG noch mit näherer Begründung aus, dass dem Mitbeteiligten gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG 2005 eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen sei.

6 Gegen Spruchpunkt A.II. dieses Erkenntnisses - allerdings nicht, soweit damit die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des BFA-Bescheides betreffend die amtswegige Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 abgewiesen wurde - richtet sich die vorliegende Revision des BFA. Darüber hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete, erwogen:

7 Die Amtsrevision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat im Fall einer Aufenthaltsdauer von zwei Jahren und acht Monaten dem Vorbringen in der dort erhobenen Amtsrevision des BFA erwidert, es könne nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen "kann" (VwGH 30.7.2015, Ra 2014/22/0055 bis 0058). Bei einer Aufenthaltsdauer im Bereich von drei Jahren muss es sich daher jedenfalls um eine "außergewöhnliche Konstellation" handeln, um die Voraussetzungen für die Erteilung eines "Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK" zur Aufrechterhaltung eines Privat- und Familienlebens gemäß § 55 AsylG 2005 (siehe zum diesbezüglichen inhaltlichen Gleichklang mit der Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung Punkt 3.3. und 3.4. in VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101) zu erfüllen (vgl. jeweils betreffend Fälle mit einer Aufenthaltsdauer von dreieinhalb Jahren VwGH 10.4.2019, Ra 2019/18/0049, und VwGH 10.4.2019, Ra 2019/18/0058). 9 Nun wird vom Verwaltungsgerichtshof nicht verkannt, dass der Mitbeteiligte - wie das BVwG ins Treffen führte - besondere Anstrengungen gezeigt hat, sich in Österreich sprachlich, beruflich und sozial zu integrieren. Allerdings besteht insgesamt trotzdem noch keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen, dass von einer "außergewöhnlichen Konstellation" gesprochen werden kann und dem Mitbeteiligten allein wegen seiner Integrationsbemühungen - ungeachtet des relativ kurzen Inlandsaufenthalts und des Umstands, dass bei ihm nur ein Eingriff in das Privatleben und nicht auch in ein Familienleben zur Debatte steht - unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste (siehe zu ähnlichen Fällen die schon in Rn. 9 zitierten Erkenntnisse sowie VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003; vgl. auch VwGH 16.5.2019, Ra 2019/21/0050, wo in einem vergleichbaren Fall die Unverhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte nur bei Vorliegen einer entsprechend intensiven Beziehung des dort Mitbeteiligten zu seiner asylberechtigten Lebensgefährtin und deren Kind in Betracht gezogen wurde; siehe schließlich auch noch zuletzt VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0020). Dass der Gesetzgeber für derartige Fälle kein humanitäres Aufenthaltsrecht - die Voraussetzungen für einen "Aufenthaltstitel in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen" nach § 56 AsylG 2005 werden schon in zeitlicher Hinsicht nicht erfüllt (siehe dazu zuletzt VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0032, 0033, Rn. 23) - vorgesehen hat, mag rechtspolitisch als Manko empfunden werden, kann aber nicht dazu führen, dass die strengeren Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 unterlaufen werden.

10 Insgesamt bewegte sich das BVwG somit bei der nach § 9 BFA-VG vorgenommenen Interessenabwägung nicht innerhalb der vom Verwaltungsgerichtshof entwickelten Grundsätze. Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich der Beschwerdestattgebung in Bezug auf Spruchpunkt IV. und die darauf aufbauenden Spruchpunkte V. und VI. des Bescheides des BFA vom 7. März 2018, sowie hinsichtlich der daraus folgenden Aussprüche betreffend die dauernde Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 22. August 2019

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210149.L00

Im RIS seit

06.02.2020

Zuletzt aktualisiert am

06.02.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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