TE Vwgh Erkenntnis 2020/1/9 Ra 2019/18/0195

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Veröffentlicht am 09.01.2020
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 1997 §7
AsylG 1997 §8
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
FlKonv Art1 AbschnA Z2

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2019/18/0196Ra 2019/18/0197

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der revisionswerbenden Parteien 1. M R, 2. M H und 3. H H, alle vertreten durch Mag. Heribert Donnerbauer, Rechtsanwalt in 2070 Retz, Hauptplatz 21, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. März 2019, 1. W216 2169760-1/9E,

2. W216 2169761-1/8E und 3. W216 2169762-1/9E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von 1.106,40 EUR binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind alle Staatsangehörige Afghanistans und Teil einer Familie, wobei die Erstrevisionswerberin die (verwitwete) Mutter der minderjährigen Zweitrevisionswerberin und des mittlerweile volljährigen Drittrevisionswerbers ist. Der Ehemann bzw. Vater der revisionswerbenden Parteien ist vor Jahren verstorben. Am 18. Juli 2015 stellten die revisionswerbenden Parteien Anträge auf internationalen Schutz. Als Fluchtvorbringen brachte die Erstrevisionswerberin zusammengefasst vor, es gebe in Afghanistan keine Sicherheit für sie und ihre Familie. Vor ihrer Antragstellung habe sie daher im Iran gelebt, wo auch die Zweitrevisionswerberin und der Drittrevisionswerber geboren seien. 2 Mit Bescheiden vom 28. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien in Bezug auf den Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihnen den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen.

3 Mit den in Revision gezogenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen die Abweisung des Status der Asylberechtigten gerichteten Beschwerden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig. 4 Begründend führte es aus, die Erstrevisionswerberin habe eine westliche Orientierung noch nicht derart verinnerlicht, dass allein daraus eine asylrelevante Verfolgung festgestellt werden könne. Die Zweitrevisionswerberin könne schon aufgrund ihres jungen Alters keine Verinnerlichung eines "westlichen Verhaltens" oder eine "westliche Lebensführung" aufweisen, die als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden könne. Beim Drittrevisionswerber sei nichts hervorgekommen, das zu einer Asylgewährung führen hätte können.

5 In der vorliegenden Revision wird zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend gemacht, das BVwG hätte sich näher damit auseinandersetzen müssen, wie es der Erstrevisionswerberin erginge, wenn sie den im Entscheidungszeitpunkt gelebten Lebensstil in der relevanten Herkunftsregion führen würde. Zudem verneine das BVwG, dass die Erstrevisionswerberin einen im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes "westlichen Lebensstil" so verinnerlicht habe, dass dieser Teil ihrer Identität geworden sei, ohne dies genauer zu begründen.

6 Hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin habe das BVwG erst gar nicht festgestellt, dass sie keinen "westlichen Lebensstil" führe, sondern seine Ablehnung einer möglichen relevanten "westlichen Orientierung" lediglich pauschal auf das Alter der Zweitrevisionswerberin gestützt, ohne zu beachten, dass sich diese bereits an der oberen Altersgrenze der Anpassungsfähigkeit befinde. Demgegenüber hätte das BVwG Feststellungen treffen müssen, wie es der Zweitrevisionswerberin erginge, wenn sie ihren im Entscheidungszeitpunkt gelebten Lebensstil in Afghanistan führen würde. In Afghanistan wäre es ihr nicht möglich, die Schule zu besuchen. Zudem sei sie dort sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt und drohe ihr Zwangsverheiratung.

7 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet. 10 Unter Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein ungerechtfertigter Eingriff in erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (vgl. zB VwGH 24.3.2011, 2008/23/1443).

11 Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie)). Ob dies der Fall ist, haben die Asylbehörde bzw. das BVwG im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen.

12 Im gegenständlichen Fall geht das BVwG davon aus, dass den revisionswerbenden Parteien bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat keine Verfolgung drohen würde und begründet dies hinsichtlich der Erst- und Zweitrevisionswerberin insbesondere folgendermaßen:

"Der einzige gegenständlich mögliche Asylgrund wäre eine gelebte und verinnerlichte westliche Orientierung der Erstbeschwerdeführerin. Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich zwar um eine intelligente, lernbereite 11-jährige Schülerin, mit bereits ausgezeichneten Deutschkenntnissen und sie unterscheidet sich nicht von österreichischen gleichaltrigen Mädchen, aufgrund ihres jungen und anpassungsfähigen Alters ist jedoch - der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs folgenden -

davon auszugehen, dass Kinder zumindest bis zu einem Alter von elf Jahren noch derart anpassungsfähig sind, dass aus deren Lebensweise noch keine westliche Orientierung abgeleitet werden kann, welche eine Asylgewährung rechtfertigen würde (vgl. VwGH 03.10.2017, Ra 2017/01/0288).

Zur Erstbeschwerdeführerin ist zu einer möglichen westlichen Orientierung Folgendes auszuführen: Nach der einschlägigen Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts führt, im Besonderen bezogen auf Afghanistan, nicht die Eigenschaft des Frau-Seins an sich in der Judikatur zur Gewährung von Asyl. Lediglich die Glaubhaftmachung einer persönlichen Wertehaltung, die sich an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als 'westlich' bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert, wird als asylrelevant erachtet. Eine solche vermochte die Erstbeschwerdeführerin aber gerade nicht glaubhaft darzutun, vielmehr hat das Ermittlungsverfahren ergeben, dass sie die westliche Orientierung zwar in Teilen zu leben versucht, diese aber noch nicht verinnerlicht hat."

13 Diese Begründung reicht aus folgenden Gründen nicht aus, um das Vorliegen einer möglichen drohenden Verfolgung der revisionswerbenden Parteien zu verneinen:

14 Wie die Revision zutreffend geltend macht, übersieht das BVwG mit seiner ausschließlichen Prüfung einer gelebten und verinnerlichten "westlichen Orientierung" der alleinstehenden Erstrevisionswerberin nämlich bereits, dass diese im Verfahren nicht nur eine "westliche Orientierung" behauptet hat, sondern auch geltend gemacht hat, dass ihr bei Rückkehr nach Afghanistan die Zwangsverheiratung drohe. Dabei hat sie in ihrer Stellungnahme vom 14. Juli 2018 vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte ausführlich diese Gefahr und die befürchteten Auswirkungen auf sich und ihre beiden Kinder geschildert. Sie wolle daher keinesfalls neuerlich heiraten. Bei Rückkehr nach Afghanistan könne sie als verwitwete alleinerziehende Mutter auch ihre Tochter, die Zweitrevisionswerberin, nicht vor Zwangsverheiratung schützen.

15 Dass eine "Zwangsverheiratung" unter dem Gesichtspunkt einer geschlechtsspezifischen Verfolgung als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention asylrelevant sein kann, entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. zB VwGH 15.10.2015, Ra 2015/20/0181, mwN).

16 Darüber hinaus hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits darauf hingewiesen, dass zwar verschiedene Formen der geschlechtsspezifischen Verfolgung auch unter dem Aspekt der Zugehörigkeit der Verfolgten zu einer bestimmten sozialen Gruppe beurteilt werden können, damit aber nicht das Auslangen gefunden werden darf. Der UNHCR hat in seiner "Richtlinie zum internationalen Schutz: Geschlechtsspezifische Verfolgung" im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (7. Mai 2002) zutreffend darauf hingewiesen, dass die befürchtete Verfolgung in vielen geschlechtsspezifischen Fällen auf einem oder mehreren Konventionsgründen beruhen kann. Der mögliche Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe darf dabei nicht den Blick auf andere anwendbare Gründe wie etwa Religion oder politische Überzeugung verstellen, welche die Zuerkennung von Asyl rechtfertigen können. Wäre davon auszugehen, dass der alleinstehenden Erstrevisionswerberin und ihrer Tochter aufgrund ihrer Lebenseinstellung bei Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung droht, so könnte ihren Asylanträgen die Berechtigung wegen eines fehlenden Konventionsgrundes nicht abgesprochen werden, wenn diese Lebenseinstellung glaubwürdiger Weise als Teil ihrer politischen und religiösen Überzeugung (im weiteren Sinne) verstanden werden kann, die von den Verfolgern abgelehnt wird (vgl. bereits VwGH 15.12.2015, Ra 2014/18/0118).

17 Zur Situation von alleinstehenden Frauen trifft das BVwG im angefochtenen Erkenntnis zunächst u.a. folgende Feststellung:

"Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (...)"

18 Unter der Überschrift "Gewalt gegen Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung" stellt das BVwG zur Situation von Frauen in Afghanistan sodann auszugsweise wörtlich festgestellt:

"Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (...). Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden, Anm.) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden, Anm.) (...). Dem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt. (...). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (...). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (...)."

19 Ungeachtet dieser eigenen Länderfeststellungen zur Lage von (alleinstehenden) Frauen in Afghanistan hat das BVwG keinerlei nähere Feststellungen zur Situation der revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr nach Afghanistan und zur vorgebrachten Gefahr einer drohenden Zwangsverheiratung der alleinstehenden Erstrevisionswerberin und der Zweitrevisionswerberin getroffen. 20 Im Übrigen hat sich das BVwG im Hinblick auf eine allfällige Asylrelevanz auch in keiner Weise mit dem in der Stellungnahme vom 14. Juli 2018 sowie in der mündlichen Verhandlung seitens der Zweitrevisionswerberin selbst erstatteten Vorbringen auseinander gesetzt, dass die im Alter von acht Jahren nach Österreich gekommene Zweitrevisionswerberin hier frei erzogen und sozialisiert worden sei und das Gymnasium mit ausgezeichnetem Erfolg besuche, während im Herkunftsstaat für sie zahlreiche religiös-gesellschaftliche Beschränkungen bestünden und eine Teilnahme am öffentlichen Leben und Schulbetrieb für sie als Mädchen/Frau stark eingeschränkt wäre (vgl. dazu ebenfalls bereits VwGH 15.12.2015, Ra 2014/18/0118).

21 Eine etwaige geschlechtsspezifische asylrelevante Verfolgung der Erst- und/oder Zweitrevisionswerberin würde im Familienverfahren auch auf die drittrevisionswerbende Partei durchschlagen (vgl. VwGH 16.1.2019, Ra 2018/18/0239, mwN). 22 Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze wegen prävalierender Rechtswidrigkeit des Inhaltes (Fehlen wesentlicher Feststellungen auf Grund unrichtiger Rechtsansicht) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

23 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

24 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 9. Jänner 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180195.L00

Im RIS seit

18.02.2020

Zuletzt aktualisiert am

18.02.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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