TE Vwgh Beschluss 2019/12/17 Ro 2019/01/0012

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Veröffentlicht am 17.12.2019
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Index

E1M
E6J
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Staatsbürgerschaft
59/04 EU - EWR

Norm

B-VG Art133 Abs4
StbG 1985 §29
VwGG §25a Abs1
VwGG §34 Abs1
12010M004 EUV Art4 Abs3
62017CJ0221 Tjebbes VORAB

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ro 2019/01/0013

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Fasching als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revisionen der Wiener Landesregierung gegen die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichts Wien jeweils vom 31. Juli 2019, Zlen. 1. VGW-152/065/16963/2018 und 2. VGW- 152/065/16962/2018-13, betreffend Staatsbürgerschaft (mitbeteiligte Parteien: 1. S Ü und 2. M Ü, beide in W und vertreten durch Mag.a Doris Einwallner, Rechtsanwältin in 1050 Wien, Schönbrunnerstraße 26/3), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revisionen werden zurückgewiesen.

Das Land Wien hat den Mitbeteiligten jeweils Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Vorgeschichte

1 Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Wien (im Folgenden: Verwaltungsgericht) wurden die Mitbeteiligten 1988 bzw. 1985 in der Türkei geboren und wanderten gemeinsam mit ihrer Mutter im Rahmen der Familienzusammenführung zu ihrem in Österreich seit 1972 rechtmäßig niedergelassenen Vater in das Bundesgebiet ein.

2 Mit Bescheid der Wiener Landesregierung (im Folgenden: Behörde) vom 24. September 1996 wurde dem Vater die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen und diese auf die Mitbeteiligten erstreckt.

3 Mit Bescheid der Behörde vom 1. Dezember 2017 wurde festgestellt, dass der Vater durch den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit am 18. Februar 1998 die österreichische Staatsbürgerschaft ex lege (gemäß § 27 Staatsbürgerschaftsgesetz 19

85 - StbG) verloren habe.

4 Die Beschwerde des Vaters gegen das diesen Bescheid

bestätigende Erkenntnis des Verwaltungsgerichts (vom 1. August 2018) an den Verfassungsgerichtshof (VfGH) wurde von diesem mit Beschluss vom 25. Februar 2019, E 3726/2018-18, abgelehnt.

5 Mit Bescheiden der Behörde jeweils vom 22. Oktober 2018 wurde sodann festgestellt, dass die Mitbeteiligten die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 29 Abs. 1 StbG durch den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit durch ihren Vater in Erstreckung am 18. Februar 1998 verloren haben. Angefochtene Erkenntnisse

6 Mit den angefochtenen Erkenntnissen wurde jeweils (nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung) der Beschwerde der Mitbeteiligten stattgegeben und die Bescheide der Behörde vom 22. Oktober 2018 gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG aufgehoben (I.)

7 Die ordentliche Revision wurde für zulässig erklärt (II.)

8 Begründend führte das Verwaltungsgericht nach Feststellungen

zum Verfahrensgang und zum Privat- und Familienleben der Mitbeteiligten im Wesentlichen gleichlautend aus, da der Vater der Mitbeteiligten mit Wirkung vom 18. Februar 1998 die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 27 StbG ex lege verloren habe, sei die von der Behörde festgestellte Erstreckung des Verlustes nach § 29 StbG grundsätzlich rechtsrichtig. 9 Jedoch sei vorliegend nach dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 12. März 2019, C-221/17, Tjebbes u.a., geboten, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, zumal die Mitbeteiligten nicht die Staatsbürgerschaft eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union besäßen.

10 Diese Verhältnismäßigkeitsprüfung führe - mit näherer Begründung - dazu, dass sich der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft (und damit verbunden der Status als Bürgerin bzw. Bürger der Europäischen Union) nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes als unverhältnismäßig erweise. Dabei sei zu Gunsten der Mitbeteiligten zu berücksichtigen, dass der Verlust nicht nach § 27 StbG, sondern nach § 29 StbG eingetreten sei und die Mitbeteiligten zu keiner Zeit selbstständig eine Willenserklärung abgegeben hätten.

11 Da nach dem Urteil Tjebbes, Rn. 42 und 48, im Falle der Unverhältnismäßigkeit des Verlustes der Unionsbürgerschaft die Staatsbürgerschaft rückwirkend "wiedereinzusetzen" sei, sei gemäß § 42 Abs. 3 StbG festzustellen gewesen, dass der ex lege Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht eingetreten sei. Die Mitbeteiligten seien somit österreichische Staatsbürger. 12 Die ordentliche Revision sei zulässig, da eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen gewesen sei, der über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung zukomme. 13 Gegen diese Erkenntnisse richten sich die vorliegenden ordentlichen Revisionen der Behörde, die vom Verwaltungsgericht gemäß § 30a Abs. 6 VwGG jeweils mit den Revisionsbeantwortungen der Mitbeteiligten unter Anschluss der Akten des Verfahrens vorgelegt wurden.

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat beschlossen, die beiden Revisionen wegen ihres sachlichen und rechtlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung zu verbinden. Zulässigkeit

Allgemein

15 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

16 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in

nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. 17 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden.

18 Der Revisionswerber hat auch in der ordentlichen Revision von sich aus die im Lichte des Art. 133 Abs. 4 B-VG maßgeblichen Gründe der Zulässigkeit der Revision (gesondert) darzulegen, sofern er der Auffassung ist, dass die Begründung des Verwaltungsgerichts für die Zulässigkeit der Revision nicht ausreicht oder er andere Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung für relevant erachtet (vgl. für viele VwGH 2.9.2019, Ro 2019/01/0009, mwN).

Zulässigkeitsvorbringen des Verwaltungsgerichts 19 Zweck der Begründungspflicht nach § 25a Abs. 1 zweiter Satz VwGG ist bei einer ordentlichen Revision die vom Verwaltungsgericht vorzunehmende Fokussierung auf die vom Verwaltungsgerichtshof zu lösende grundsätzliche Rechtsfrage (vgl. etwa VwGH 19.6.2019, Ro 2019/01/0004, mwN).

20 Mit dem bloßen Hinweis in der Zulassungsbegründung, es sei eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen gewesen, der über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung zukomme, wird keine konkrete Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG formuliert.

Zulässigkeitsvorbringen der Behörde

21 Die Behörde begründet ihre Amtsrevisionen zunächst damit, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, nach der in einem Feststellungsverfahren betreffend den ex lege Verlust gemäß § 27 iVm § 42 StbG als auch in einem Feststellungsverfahren zur Abstammung gemäß § 7 iVm § 42 StbG für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung kein Raum bleibe (Verweis auf VwGH 2.8.2018, Ra 2018/01/0337, VwGH 13.10.2015, Ra 2015/01/0192, VwGH 19.9.2012, 2009/01/0003).

22 Weiters liege eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vor, weil Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshof zur Frage fehle, ob eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Feststellung des Verlustes gemäß § 29 StbG zu erfolgen habe und weiter, ob eine solche auf Grund des Urteils des EuGH vom 12. März 2019, C-221/17, Tjebbes u.a., unionsrechtlich geboten sei.

23 Falls eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich sein sollte, fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofes, wie eine solche durchzuführen sei.

Zur behaupteten Abweichung von Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes

24 Die von den Amtsrevisionen angeführte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zur Rechtsprechung des EuGH im Urteil vom 2. März 2010, C-135/08, Rottmann, ergangen. 25 Sie betraf zunächst einen Fall, in dem nicht die österreichische Staatsangehörigkeit entzogen, sondern mit Bescheid festgestellt worden war, dass diese nicht (gemäß § 7 StbG durch Abstammung) erworben worden war (VwGH 19.9.2012, 2009/01/0003). Diese Rechtsprechung ist daher für die vorliegende Problematik ohne Belang.

26 Darüber hinaus betraf sie den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG (VwGH 2.8.2018, Ra 2018/01/0337, und VwGH 13.10.2015, Ra 2015/01/0192). Diese Rechtsprechung datiert aber zeitlich vor dem Urteil des EuGH vom 12. März 2019, C-221/17, Tjebbes u.a., und ist aus nachstehenden Gründen nicht mehr maßgeblich.

27 Die unmittelbare Anwendung und den Vorrang von unionsrechtlichen Bestimmungen haben sowohl die Gerichte als auch die Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten zu beachten. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaates verpflichtet, in Anwendung des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der Zusammenarbeit das unmittelbar geltende Unionsrecht anzuwenden und die Rechte, die es dem Einzelnen verleiht, zu schützen (vgl. jüngst VwGH 15.10.2019, Ra 2019/11/0033-0034, mwN, zur Implementierung eines über ein Vorabentscheidungsersuchen ergangenes Urteil des EuGH in das nationale Recht).

28 Nach diesen Grundsätzen war der Verwaltungsgerichtshof verpflichtet, die Rechtsprechung des EuGH im Urteil vom 12. März 2019, C-221/17, Tjebbes u.a., entsprechend in die innerstaatliche Rechtslage des StbG zu implementieren. 29 Daher hat der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 30. September 2019, Ra 2018/01/0477, Rn. 14 und 15,wie folgt festgehalten:

"Ausgehend vom festgestellten Vorliegen der Voraussetzungen für den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG und dem für die Revisionswerberin damit verbundenen gleichzeitigen Verlust des Unionsbürgerstatus ist nach der jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 12. März 2019 in der Rechtssache C-221/17, Tjebbes ua., von der zuständigen nationalen Behörde und gegebenenfalls dem nationalen Gericht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen.

Da für die Revisionswerberin der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft mit dem Verlust des Unionsbürgerstatus verbunden ist, ist im konkreten Revisionsfall neben dem Vorliegen der Voraussetzungen für den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 StbG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung der Folgen dieses Verlusts der Staatsbürgerschaft vorzunehmen (vgl. EuGH 12.3.2019, C-221/17, Tjebbes ua., Rn. 48; sowie VfGH 17.6.2019, E 1832/2019, zur Prüfung der Folgen eines allfälligen Verlustes der Staatsbürgerschaft auf ihre Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf Art. 8 EMRK)."

30 Im Übrigen hat auch der VfGH das Urteil des EuGH Tjebbes u. a. in seiner Rechtsprechung beachtet (vgl. VfGH 17.6.2019, E 1832/2019, und VfGH 17.6.2019, E 1302/2019).

31 Somit ist das Verwaltungsgericht in den vorliegenden Revisionssachen nicht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, sondern hat (im Ergebnis) die jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes beachtet. Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des § 29 StbG 32 Soweit die Amtsrevisionen, was die Verhältnismäßigkeitsprüfu ng betrifft, fehlende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 29 StbG vorbringen und in Frage stellen, ob eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung auf Grund des Urteils des EuGH vom 12. März 2019, C-221/17, Tjebbes u.a., unionsrechtlich geboten sei, ist auf Folgendes hinzuweisen:

33 Es liegt keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vor, wenn die grundsätzliche Rechtsfrage bereits durch Rechtsprechung des EuGH beantwortet wurde (vgl. etwa VwGH 20.12.2016, Ro 2014/03/0049, VwGH 10.12.2018, Ra 2017/02/0122- 0124, VwGH 28.3.2018, Ra 2018/07/0331, jeweils mwN). 34 Vorliegend hat der EuGH in seinem Urteil vom 12. März 2019, C-221/17, Tjebbes u.a., ECLI:EU:C:2019:189, wie folgt erkannt:

"Art. 20 AEUV ist im Licht der Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, der bei Personen, die nicht auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust ihres Status als Bürger der Europäischen Union und der damit verbundenen Rechte führt, nicht entgegensteht, sofern die zuständigen nationalen Behörden einschließlich gegebenenfalls der nationalen Gerichte in der Lage sind, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. Im Rahmen dieser Prüfung müssen diese Behörden und Gerichte feststellen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, der den des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der betroffenen Personen und gegebenenfalls für die ihrer Familienangehörigen aus unionsrechtlicher Sicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist."

35 Dieses Urteil bezieht sich auf jede "Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht". Somit ist bereits vom EuGH klargestellt, dass auch die Regelung des § 29 StbG, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, von dieser seiner Rechtsprechung erfasst wird. 36 Dass in diesem Bereich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung unionsrechtlich geboten ist, ist ebenfalls durch die oben angeführte Rechtsprechung des EuGH geklärt.

Zur Durchführung der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a.:

37 Soweit die Amtsrevisionen vorbringen, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wie eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen sei, ist auf folgende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen:

38 Im Erkenntnis vom 30. September 2019, Ra 2019/01/0281, hat der Verwaltungsgerichtshof (im Zusammenhang mit der Rücknahme der Staatsbürgerschaft wegen Erschleichens gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 iVm Abs. 3 AVG) zu dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung Folgendes festgehalten:

"11 In der Rechtssache C-221/17, Tjebbes u. a., legt der EuGH im Urteil vom 12. März 2019 im Zusammenhang mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes unter Hinweis auf seine Rechtsprechung in der Rechtssache C-135/08, Rottmann, dar, dass die zuständige nationale Behörde und das nationale Gericht zu prüfen haben, ob mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er zum Verlust des Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte führt, hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen und gegebenenfalls seiner Familienangehörigen, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird (Rn. 40). Eine solche Prüfung erfordert eine Beurteilung der individuellen Situation der betroffenen Person sowie der ihrer Familie, um zu bestimmen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er den Verlust des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, Folgen hat, die die normale Entwicklung ihres Familien- und Berufslebens - gemessen an dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Ziel - aus unionsrechtlicher Sicht unverhältnismäßig beeinträchtigen würden. Dabei darf es sich nicht um nur hypothetische oder potenzielle Folgen handeln (Rn. 44).

12 (...) Die Staatsbürgerschaftsbehörde hat in derartigen Fällen jedoch zu prüfen, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist; bei dieser Prüfung ist der Behörde ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, wobei es Sache des Verleihungswerbers ist, konkret darzulegen, dass die Behörde diesen Beurteilungsspielraum überschritten hat (vgl. zuletzt etwa VwGH 28.2.2019, Ra 2019/01/0045, Rn. 11, mwN).

(...)

14 Der VfGH hat in Zusammenhang mit der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 28 StbG auf diese unionsrechtlich gebotene Abwägung hingewiesen und ausgesprochen, dass die Behörde (in diesem Zusammenhang) aus grundrechtlichen Erwägungen die Folgen eines allfälligen Verlustes der Staatsbürgerschaft auf ihre Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf Art. 8 EMRK prüfen kann und muss (VfGH 17.6.2019, E 1832/2019, mit Verweis auf EGMR 21.6.2016, Ramadan, Appl. 76.136/12, Z. 90ff).

15 Diese grundrechtlichen Erwägungen des VfGH sind (im Rahmen der gebotenen verfassungskonformen Auslegung) auch auf § 27 StbG zu übertragen, sodass auch die in diesem Bereich unionsrechtlich gebotene Abwägung vor dem Hintergrund von Art. 8 EMRK zu betrachten ist.

16 Daher ist die nach den dargelegten Grundsätzen des EuGH vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu sehen, wonach der Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nicht dazu berufen ist, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern - diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten. Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze und Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof ist nur dann unausweichlich, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten hat oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalls vorgenommen hat bzw. die Entscheidung auf einer verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Grundlage erfolgte (vgl. zuletzt VwGH 5.7.2019, Ra 2019/01/0227, Rn. 21, mwN). Unter diesen Umständen ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. für viele VwGH 19.6.2019, Ra 2019/01/0051, Rn. 12, mwN)."

39 In diesem Zusammenhang ist auch auf die Rechtsprechung des VfGH hinzuweisen, der im Beschluss vom 17. Juni 2019, E 1302/2019, Folgendes festgehalten hat:

"Soweit die Beschwerde aber insofern verfassungsrechtliche Fragen berührt, als im Hinblick auf Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH 12.3.2019, Rs. C- 221/17, Tjebbes ua.) zu einer gebotenen Einzelfallprüfung der Folgen eines mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit einhergehenden Verlusts der Unionsbürgerschaft ein Verstoß der die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtsvorschrift des § 27 Abs. 1 StbG gegen Art. 8 EMRK behauptet wird, lässt ihr Vorbringen angesichts dessen, dass § 27 Abs. 1 StbG den Verlust der Staatsbürgerschaft nur dann an den Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit knüpft, wenn diese auf Initiative des Betroffenen erworben wird, und § 28 StbG die Möglichkeit eröffnet, die Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft trotz Annahme einer fremden Staatsangehörigkeit aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen des Privat- und Familienlebens zu beantragen (vgl. VfGH 17.6.2019, E 1832/2019), vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 11.12.2018, E 3717/2018; siehe auch bereits VfSlg. 19.765/2013 und 19.766/2013 zu der inhaltlich deckungsgleichen Regelung des § 27 Abs. 1 StbG 1965) die behauptete Rechtsverletzung, die Verletzung in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder die Verletzung in einem sonstigen Recht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Es ist daher im Lichte des Art. 8 EMRK und des Gleichheitsgrundsatzes nicht zu beanstanden, wenn § 27 Abs. 1 StbG bei (Wieder-)Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit für den Fall, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wahrnimmt, davon ausgeht, dass die öffentlichen Interessen an der Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeiten überwiegen."

40 Die Bedeutung des Rechts auf Achtung des Familienlebens (nach Art. 7 GRC) bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird auch vom EuGH in Rn. 45 des Urteils Tjebbes u.a., hervorgehoben, wo der EuGH ausführt:

"Im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung ist es Sache insbesondere der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der nationalen Gerichte, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass ein solcher Verlust der Staatsangehörigkeit mit den Grundrechten der Charta, deren Wahrung der Gerichtshof sichert, im Einklang steht, und insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, das in Art. 7 der Charta niedergelegt ist, wobei dieser Artikel in Zusammenschau mit der Verpflichtung auszulegen ist, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C-133/15, EU:C:2017:354, Rn. 70)."

41 Die Amtsrevisionen machen - wie die Mitbeteiligten in ihren Revisionsbeantwortungen ausdrücklich aufzeigen - in ihrem Zulässigkeitsvorbringen nicht geltend, dass die einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung des Verwaltungsgerichts im Sinne der obigen Rechtsprechung krass bzw. unvertretbar gewesen wäre. 42 Auch die Rechtsprechung des VfGH, nach der für den Fall, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wahrnimmt, davon auszugehen ist, dass die öffentlichen Interessen an der Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeiten überwiegen, wurde in den vorliegenden Revisionssachen beachtet. Das Verwaltungsgericht hat nämlich entscheidend darauf abgestellt, dass vorliegend die Mitbeteiligten zu keiner Zeit selbstständig eine Willenserklärung im Sinne des § 27 StbG abgegeben hätten (und demgemäß auch keinen Antrag auf Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft stellten).

Ergebnis

43 In den Revisionen werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revisionen waren daher zurückzuweisen.

44 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 17. Dezember 2019

Gerichtsentscheidung

EuGH 62017CJ0221 Tjebbes VORAB

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RO2019010012.J00

Im RIS seit

22.05.2020

Zuletzt aktualisiert am

22.05.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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