Index
10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
ABGB §138 Z9Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des N P K, in W, vertreten durch Dr. Clemens Lintschinger, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Fleischmarkt 1/6. Stock, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29. September 2019, W124 1314827- 2/20E, betreffend Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein im Juni 1982 geborener Staatsangehöriger von Nepal, stellte nach seiner Einreise am 16. Juli 2006 einen Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesasylamt mit Bescheid vom 10. September 2007 in Verbindung mit einer Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nepal zur Gänze abwies. Das gegen diesen Bescheid erhobene Rechtsmittel wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 11. August 2010 als unbegründet ab.
2 Der Revisionswerber verblieb in Österreich und stellte am 16. August 2012 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot-Karte plus" nach § 41a Abs. 9 NAG (in der damals geltenden Fassung), der von der Niederlassungsbehörde mit Bescheid vom 11. November 2013 rechtskräftig zurückgewiesen wurde. 3 Am 10. Dezember 2014 heiratete der Revisionswerber am Standesamt Wien-Favoriten eine im Oktober 1990 geborene nepalesische Staatsangehörige, die er Anfang 2012 in Österreich kennengelernt hatte. Der Ehefrau des Revisionswerbers wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 29. September 2017 - unter gleichzeitiger Abweisung ihres Antrags auf internationalen Schutz, jedoch verbunden mit der auf § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG gegründeten Feststellung, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei - eine "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 erteilt. Der Ehe entstammt ein am 6. Juli 2019 geborener Sohn. 4 Der Revisionswerber hatte, insbesondere unter Berufung auf die erwähnte Ehe, bereits am 26. März 2015 den gegenständlichen Antrag gestellt, ihm einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens zu erteilen.
5 Diesen Antrag wies das BFA mit Bescheid vom 21. Oktober 2016 ab. Unter einem erließ es gegen den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG und es stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Nepal zulässig sei. Schließlich wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
6 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23. Juli 2019 mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 29. September 2019 als unbegründet ab. Es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortungen erstattet wurden, erwogen hat:
8 Die Revision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - aus den nachstehend angeführten Gründen unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig und auch als berechtigt. 9 Der Revisionswerber beantragte die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005. Diese Bestimmung lautet samt Überschrift wie folgt:
"Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK
§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine 'Aufenthaltsberechtigung plus' zu erteilen, wenn
1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und
2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.
(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine 'Aufenthaltsberechtigung' zu erteilen."
10 Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Dasselbe gilt für die Beurteilung, ob der durch eine Rückkehrentscheidung bewirkte Eingriff in das Privat- und Familienleben verhältnismäßig ist (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0114, Rn. 12, mwN).
11 Der (vor allem) angesprochene § 9 Abs. 2 BFA-VG hat folgenden Wortlaut:
"(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2.
das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3.
die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4.
der Grad der Integration,
5.
die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6.
die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7.
Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist."
12 Zu dieser Bestimmung ist es ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, der in der Z 8 zum Ausdruck kommende Aspekt habe schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen könne. Daran knüpft die ebenfalls ständige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes an, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (siehe neuerlich VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0114, nunmehr Rn. 14, mwN). 13 Letzteres trifft auf den Revisionswerber, der sich (bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses) bereits mehr als dreizehn Jahre durchgehend in Österreich aufhält, schon deshalb nicht zu, weil er Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 aufweist, familiäre Bindungen zu Ehefrau und Kind hat und mit ihnen gemeinsam in einer Mietwohnung lebt.
14 Es ist zwar auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (siehe noch einmal VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0114, nunmehr Rn. 16, mit dem Hinweis auf die diesbezügliche beispielshafte Aufzählung unter Rn. 13 in VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005). Dazu zählen unter anderem das Vorliegen von strafgerichtlichen Verurteilungen oder Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften, wie etwa das Ausländerbeschäftigungsgesetz.
15 Darauf rekurriert das BVwG und meint, in diesem Zusammenhang seien die rechtskräftigen Verurteilungen des Revisionswerbers einerseits durch das Landesgericht für Strafsachen Wien vom 5. November 2009 wegen der Vergehen der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs. 3 StGB und des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall und Abs. 3 SMG zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten und andererseits durch das Landesgericht Salzburg vom 24. Juli 2012 (in Verbindung mit dem Urteil des Oberlandesgerichtes Linz vom 18. Oktober 2012) wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs. 1 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von fünf Monaten zu berücksichtigen. Abgesehen davon, dass das BVwG zu den diesen Verurteilungen zugrunde liegenden Straftaten keine näheren Feststellungen traf, um eine deshalb offenbar unterstellte maßgebliche und aktuelle Gefährdung öffentlicher Interessen nachvollziehen zu können, sprechen die relativ geringen und zur Gänze bedingt nachgesehenen Strafen, womit nicht einmal der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG verwirklicht wäre, und der lange Zeitraum von mehr als sieben Jahren, der seither vergangen ist, dagegen, ihnen noch eine entscheidende Bedeutung im Sinne einer wesentlichen Relativierung des persönlichen Interesses des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich und - wie das BVwG auch noch meint - im Sinne einer Verstärkung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung beizumessen. Daran ändert im Ergebnis die einmalige Verhängung einer Verwaltungsstrafe über den Revisionswerber im Juli 2014 wegen Lenkens eines Fahrzeuges in einem durch Suchtgift beeinträchtigten Zustand noch nichts, weil auch diese Tat bereits mehr als fünf Jahre zurückliegt und jedenfalls seit damals insoweit von einem gänzlichen Wohlverhalten des Revisionswerbers auszugehen ist. Dem hat das BVwG keine ausreichende Bedeutung zugemessen, wie die Revision zutreffend geltend macht.
16 Zwar wirft das BVwG dem Revisionswerber (zu Recht) noch vor, er sei bis zuletzt einer unrechtmäßigen Erwerbstätigkeit nachgegangen. Deshalb lässt sich aber insgesamt noch nicht sagen, das Verhalten des Revisionswerbers lasse eine "gröbliche Missachtung der österreichischen Werte und der österreichischen Rechtsordnung erkennen, wodurch seine Integrationsfortschritte in den Hintergrund treten". Die Ehefrau des Revisionswerbers betreibt nämlich auf Basis der ihr erteilten Gewerbeberechtigung "Güterbeförderung mit Kraftfahrzeugen" ein Unternehmen, das (als Subauftragnehmer) Medikamente zu Apotheken befördert und in dem der Revisionswerber als geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer zur Sozialversicherung angemeldet ist, jedoch - wie er in der mündlichen Verhandlung zugestand - eine Vollzeitbeschäftigung ausübt. Das BVwG habe nicht feststellen können, dass der Revisionswerber für die Ausübung dieser Tätigkeit über eine arbeitsmarktbehördliche Berechtigung verfüge. Nun darf dieses Fehlverhalten nicht bagatellisiert werden und es kann deshalb auch nicht gesagt werden, der Revisionswerber weise bereits eine nachhaltige Integration in den österreichischen Arbeitsmarkt auf (vgl. VwGH 22.8.2019, Ra 2018/21/0134, 0135, Rn. 30). Jedoch wäre vom BVwG auch die Frage einer zukünftig erwartbaren Selbsterhaltungsfähigkeit durch eine erlaubte Beschäftigung einzubeziehen und dabei auf den hypothetischen Fall der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels, der die Ausübung einer unselbständigen Tätigkeit grundsätzlich gestattet (siehe zu den diesbezüglichen Voraussetzungen § 54 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG 2005), abzustellen gewesen (vgl. VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0100, Rn. 18, mit dem Hinweis auf VwGH 22.8.2019, Ra 2018/21/0134, 0135, Rn. 30; vgl. in diesem Sinn auch VwGH 17.9.2019, Ra 2019/22/0106, Rn. 8, mwN).
17 Schließlich lässt sich - entgegen der Meinung des BVwG - die Dauer des Aufenthalts nicht dadurch maßgeblich relativieren, dass der Revisionswerber trotz Besitzes eines Reisepasses seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen ist, steht dem doch entgegen, dass sich den vorgelegten Akten - außer das Ersuchen (samt Urgenzen) um Ausstellung eines Ersatzreisedokumentes im Jahr 2011 und eine weitere diesbezügliche Urgenz im Jahr 2014 - auch keine nachhaltigen behördlichen Versuche entnehmen lassen, diese Ausreiseverpflichtung durchzusetzen. Im Übrigen hätte das BVwG in diesem Zusammenhang auch auf den Tatbestand der Z 9 des § 9 Abs. 2 BFA-VG Bedacht nehmen und dem Revisionswerber zu Gute halten müssen, dass das Verfahren betreffend den gegenständlichen Antrag, nachdem schon das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz mehr als vier Jahre gedauert hatte, ohne sein Verschulden viereinhalb Jahre, somit unverhältnismäßig lange Zeit in Anspruch genommen hat.
18 Darüber hinaus ist der vorliegende Fall aber vor allem dadurch gekennzeichnet, dass das BVwG seiner Entscheidung zugrunde legte, der in Österreich aufenthaltsberechtigten Ehefrau des Revisionswerbers (samt dem soeben geborenen Kleinkind) sei eine "Wiederansiedlung" im Heimatstaat Nepal zur Fortführung des gemeinsamen Familienlebens mit dem Revisionswerber nicht zumutbar (siehe Seite 55 des angefochtenen Erkenntnisses). Davon ausgehend käme es bei Umsetzung der erlassenen Rückkehrentscheidung zu einer dauerhaften Trennung des Revisionswerbers von seinen Familienangehörigen, weil die vom BVwG angesprochene Möglichkeit, von Nepal aus "eine Familienzusammenführung nach § 47 NAG zu beantragen", im Hinblick auf die aktuelle Karenz seiner Ehefrau und die Notwendigkeit, sich um ein Kleinkind zu kümmern, unter dem finanziellen Aspekt (§ 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG) keine realistische Alternative darstellt. Jedenfalls wurde das vom BVwG nicht konkret dargetan. Von daher ist die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes einschlägig, dass eine solche Trennung im Ergebnis nicht schon wegen des - vom BVwG im angefochtenen Erkenntnis wiederholt betonten - Eingehens der Beziehung während unsicheren Aufenthalts, sondern nur dann gerechtfertigt wäre, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie etwa bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung und den "Familiennachzug" (vgl. etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271, Rn. 14 und 15, mwN; vgl. etwa auch VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0235, Rn. 10, mwN, und darauf Bezug nehmend VwGH 24.9.2019, Ra 2019/20/0446, Rn. 14). 19 Dass die vom Revisionswerber begangenen Straftaten auf Basis der dazu getroffenen (unzulänglichen) Feststellungen eine derartige Trennung der Familienangehörigen nicht zu rechtfertigen vermögen, wurde bereits zum Ausdruck gebracht (siehe oben Rn. 15). Von einer gegenteiligen Ansicht ging erkennbar auch das BVwG nicht aus. Es beurteilte das Verhalten des Revisionswerbers jedoch als "beabsichtigte Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung". Für eine - von der Rechtsprechung in diesen Konstellationen geforderte - "von Anfang an" beabsichtigte Umgehung der Regelungen über den Familiennachzug, somit für ein diesbezügliches "missbräuchliches" Vorgehen (so ausdrücklich etwa VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0207, Rn. 11, VwGH 5.10.2017, Ra 2017/21/0119, Rn. 14, und neuerlich VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0235, Rn. 10), bestehen allerdings im vorliegenden Fall keine sachverhaltsmäßigen Grundlagen (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation noch einmal VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271, Rn. 14 und 15).
20 Außerdem hätte das BVwG die konkreten Auswirkungen einer Trennung auf das Wohl des Kindes eingehender in Betracht ziehen müssen (zur Relevanz des Kindeswohls bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG siehe etwa VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0034, Rn. 14, mit dem Hinweis auf VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0141, Rn. 16, sowie darauf Bezug nehmend und ergänzend VwGH 24.9.2019, Ra 2019/20/0274, Rn. 29 ff; siehe dazu noch die Nachweise unter Rn. 11 in VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0235). Auch das wird in der Revision zutreffend geltend gemacht. Das in diesem Zusammenhang vom BVwG ins Treffen geführte Argument, dass die Mutter für das bei Erlassung des Erkenntnisses etwa zwölf Wochen alte Kind die "Hauptbezugsperson" sei und es "hauptsächlich" von ihr betreut werde, greift nämlich zu kurz. Das BVwG hätte vielmehr auch die weitere Entwicklung einbeziehen und dabei darauf Bedacht nehmen müssen, dass ein Kind grundsätzlich Anspruch auf "verlässliche Kontakte" zu beiden Elternteilen hat (vgl. § 138 Z 9 ABGB), während es im gegenständlichen Fall ohne Vater aufwachsen müsste (vgl. dazu VwGH 5.10.2017, Ra 2017/21/0119, Rn. 14, mit dem Hinweis auf VfGH 19.6.2015, E 426/2015; siehe darauf Bezug nehmend auch VwGH 25.9.2018, Ra 2018/21/0108, Rn. 11). Eine solche Konsequenz bedarf einer - hier nicht vorliegenden - besonderen Rechtfertigung. Darüber hinaus ist die (sich derzeit in Karenz befindende) Ehefrau des Revisionswerbers im Falle seiner Ausreise bei der Betreuung des Kindes auf sich allein gestellt und könnte somit keiner Beschäftigung nachgehen, während der Revisionswerber bei einem ihm ermöglichten legalen Verbleib in Österreich voraussichtlich ausreichende Einkünfte für die Familie erzielen könnte. Auf diese in der mündlichen Verhandlung ins Treffen geführten Umstände ist das BVwG im angefochtenen Erkenntnis nicht ausreichend eingegangen, indem es auch insoweit bloß auf die (bisherige) Unrechtmäßigkeit der Erwerbstätigkeit des Revisionswerbers verwies.
21 Aus all diesen Gründen ist das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die vom BFA vorgenommene Abweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 und die erlassene Rückkehrentscheidung bestätigt wurden, insgesamt mit (vorrangiger) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, wobei die Aufhebung auch die auf die Erlassung der Rückkehrentscheidung aufbauenden Absprüche nach § 52 Abs. 9 FPG und nach § 55 FPG zu erfassen hat. 22 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. Dezember 2019
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210282.L00Im RIS seit
11.02.2020Zuletzt aktualisiert am
11.02.2020