TE Vwgh Erkenntnis 2019/12/19 Ra 2019/21/0273

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Veröffentlicht am 19.12.2019
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Pfiel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des S S in H, vertreten durch die Weh Rechtsanwalt GmbH, Dr. Wilfried Ludwig Weh und Mag. Stefan Harg Rechtsanwälte in 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichte s vom 19. Februar 2019, W226 1425962-2/3E, betreffend insbesondere Abweisung eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005, Erlassung einer Rückkehrentscheidung, Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat und Erlassung eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein 1995 geborener, aus Tschetschenien stammender Staatsangehöriger der Russischen Föderation, hält sich seit April 2004 gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern (nunmehr österreichische Staatsbürger) im Bundesgebiet auf. Ihm war mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 18. November 2004 durch Erstreckung Asyl gewährt und festgestellt worden, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

2 Mit in Rechtskraft erwachsenem Bescheid des Bundesasylamtes vom 26. März 2012 wurde dem Revisionswerber aufgrund rechtskräftiger strafgerichtlicher Verurteilungen der Status eines Asylberechtigten aberkannt und festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme. Ebenso wurde ihm der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Allerdings wurde seine Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet, weil diese eine Verletzung des Art. 8 EMRK darstellen würde, auf Dauer für unzulässig erklärt.

3 Am 19. September 2017 stellte der Revisionswerber gemäß § 55 AsylG 2005 den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK. Am 29. Dezember 2017 brachte er in diesem Verfahren einen Antrag nach § 4 AsylG-DV 2005 auf Heilung des Mangels der unterlassenen Vorlage eines gültigen Reisedokuments im Original ein.

4 Mit Bescheid vom 28. Dezember 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den eben genannten Antrag auf Mängelheilung gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 iVm § 8 AsylG-DV 2005 ab. Ebenso wies es den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 ab. Es erließ eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 3 FPG, stellte nach § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei, gewährte ihm gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise, erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab und erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf acht Jahre befristetes Einreiseverbot.

5 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der vor allem auf die familiären Kontakte zu seinen österreichischen Angehörigen sowie die Nachholung des Hauptschulabschlusses während des Strafvollzuges und seine gute Führung verwies, die zu einer bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug "im Januar 2019" geführt habe, wobei er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte.

6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 19. Februar 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diese Beschwerde - ohne Durchführung der beantragten Verhandlung - als unbegründet ab. Es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7 Begründend stellte das BVwG (wörtlich) fest, der im Oktober 1995 geborene Revisionswerber weise in Österreich folgende rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen auf:

"BG Bregenz, GZ 44 U 31/2011, vom 09.06.2011 wegen § 125 StGB, Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe (Jugendstraftat);

Landesgericht Feldkirch, GZ. 51 Hv 70/2011, vom 15.11.2011 wegen § 146 StGB, § 229 StGB, § 241 e (3) StGB, § 142 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 9 Monaten, davon 6 Monate bedingt unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren und unter Anordnung der Bewährungshilfe (Jugendstrafhaft);

LG Feldkirch, 39 HV 89/2012 vom 07.11.2012 wegen § 50 WaffG, § 15, §§ 127, 129 Z 2 StGB, §§ 146, 148 1. Fall StGB, §§ 15, 105 StGB, § 144 (1) StGB § 15 StGB; Freiheitsstrafe 10 Monate (Jugendstraftat);

BG Feldkirch, GZ 18 U 143/2013, vom 28.05.2013, wegen § 125 StGB (Jugendstraftat);

Landesgericht Feldkirch, GZ. 39 Hv 29/2014, vom 16.04.2014 wegen § 142 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 15 Monaten, (Junger Erwachsener);

Landesgericht Feldkirch, GZ. 17 Hv 17/2017, vom 20.11.2017 § 50 (1) Z 3 WaffG, § 84 (4) StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 16 Monaten."

Angesichts der vom Revisionswerber ausgehenden Gefährlichkeit sei die Entscheidung des BFA nicht zu beanstanden. Aus fremdenrechtlicher Sicht könne nämlich keine positive Zukunftsprognose erfolgen, zumal weder der Strafvollzug, noch die Aberkennung des Asylstatus oder die Beziehungen zu seiner Familie den Revisionswerber von neuer, durch gesteigerte Aggression und Gewaltbereitschaft gekennzeichnete, Straffälligkeit abgehalten hätten. Auch die Dauer des Einreiseverbotes sei nicht zu hoch angesetzt worden.

Der Revisionswerber spreche - so das BVwG weiter - Tschetschenisch, etwas Russisch und Deutsch. Er sei ledig (zwischenzeitig nur nach muslimischem Ritus angeblich verheiratet gewesen), kinderlos und habe keine Obsorgepflichten. Jedenfalls könne nicht festgestellt werden, dass er eine Lebensgemeinschaft oder eheähnliche Beziehung führe. Im Bundesgebiet "verfüge" er nur über seine Geschwister und Eltern, bei denen er mangels eigener Mittel und um eine Obdachlosigkeit nach seiner Haftentlassung zu vermeiden, wohne, sowie über Freunde und Bekannte. Er habe die Volks- und Hauptschule besucht sowie eine Lehre als Koch begonnen, diese jedoch - auch wegen der Straftaten - nicht abgeschlossen; insgesamt fehle eine nennenswerte Berufstätigkeit. Soziales Engagement oder ehrenamtliche Tätigkeiten seien nicht ersichtlich. Aufgrund der Vielzahl an Strafen und wiederholter Rückfälle trotz verspürten Haftübels überwögen die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung seine (ungeachtet der Aufenthaltsdauer von rund 14 Jahren und des Erwerbs von Sozialkontakten nicht allzu ausgeprägten) privaten Interessen an einem Verbleib in Österreich.

Die Möglichkeit einer Reintegration im Herkunftsstaat, wo eine Gefährdung oder Bedrohungssituation gegenüber dem Revisionswerber nicht ersichtlich und eine existenzbedrohende Lage nicht zu erwarten sei, sei zu bejahen. Schwierigkeiten beim Wiederaufbau einer Existenz in diesem Staat müssten im öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen hingenommen werden.

Die beantragte Heilung eines Mangels nach § 4 iVm § 8 AsylG-DV 2005 sei nicht in Betracht gekommen, weil der Revisionswerber bis zuletzt jeglichen Nachweis einer zumindest versuchten Kontaktaufnahme mit der russischen Vertretungsbehörde schuldig geblieben sei.

Die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine.

8 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 11. Juni 2019, E 1196/2019, ablehnte und die Beschwerde mit weiterem Beschluss vom 17. Juli 2019 dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

9 Über die in der Folge ausgeführte Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - wie sich aus den weiteren Ausführungen ergibt - aufgrund Abweichens des BVwG von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes als zulässig; sie ist auch berechtigt.

11 Zunächst ist festzuhalten, dass die fallbezogen gebotene Gefährdungsprognose nach den Umständen des Einzelfalles vorzunehmen ist. Dabei ist nicht auf die bloße (vom BVwG allerdings ausschließlich festgestellte) Tatsache einer Verurteilung oder Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289, Rn. 8 und 10, mwN).

Demnach hätte es einer näheren Befassung mit den Straftaten des Revisionswerbers und seinem daraus ableitbaren Persönlichkeitsbild bedurft. Die wiedergegebenen - im Wesentlichen der Strafregisterauskunft folgenden - Feststellungen des BVwG reichen für eine nachvollziehbare Gefährdungsprognose nicht aus (vgl. etwa VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0060, Rn. 9, und VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0034, Rn. 13, mwN).

Dies gilt umso mehr, weil es sich bei den Straftaten bereits nach den Feststellungen des BVwG großteils um solche handelte, die der Revisionswerber als Jugendlicher oder als junger Erwachsener begangen hatte.

12 Unter weiterer Berücksichtigung insbesondere des seit April 2004 andauernden Aufenthalts des Revisionswerbers im Bundesgebiet, seiner Deutschkenntnisse, der österreichischen Angehörigen (Eltern und Geschwister) sowie der teilweise ausgeübten Berufstätigkeit durfte das BVwG auch - wie die Revision in ihrer Zulässigkeitsbegründung zutreffend geltend macht - nicht vom Vorliegen eines eindeutigen Falles ausgehen, der es ihm ausnahmsweise erlaubte, von der Durchführung der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung abzusehen (vgl. dazu etwa VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0101, Rn. 9, mwN).

13 Das angefochtene Erkenntnis war daher (zur Gänze) gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

14 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH -Aufwandersatzverordnung 2014.

15 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 19. Dezember 2019

Schlagworte

Begründung BegründungsmangelBesondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210273.L00

Im RIS seit

11.02.2020

Zuletzt aktualisiert am

11.02.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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