TE OGH 2019/12/16 8Ob42/19p

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Veröffentlicht am 16.12.2019
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner, die Hofrätin Mag. Korn, den Hofrat Dr. Stefula und die Hofrätin Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A***** M*****, vertreten durch Mag. Martin Wakolbinger, Rechtsanwalt in Enns, gegen die beklagte Partei O***** L*****, vertreten durch Mag. Stefan Weidinger, Rechsanwalt in Scharnstein, wegen 24.378,69 EUR und Feststellung (Wert des Interesses 2.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei (Revisionsinteresse 11.189,35 EUR sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 15. Februar 2019, GZ 6 R 7/19w-51, mit dem das Teil- und Zwischenurteil des Landesgerichts Wels vom 4. Dezember 2018, GZ 26 Cg 116/17p-44, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

 

I. Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Teil- und Zwischenurteil lautet:

„1. Das Klagebegehren, der Beklagte sei schuldig, der Klägerin 24.378,69 EUR samt Anhang zu bezahlen, besteht dem Grunde nach zu Recht.

2. Der Beklagte ist schuldig, der Klägerin binnen 14 Tagen 11.000 EUR an Schmerzengeld samt 4 % Zinsen seit 24. März 2017 zu bezahlen.

3. Es wird festgestellt, dass der Beklagte der Klägerin für sämtliche zukünftigen unfallkausalen Spät- und Folgeschäden aus dem Vorfall vom 17. Dezember 2016 auf der Piste 2 des Schigebiets Kasberg in 4645 Grünau im Almtal, Ochsenboden-Umfahrung, Berg/Gebirge, haftet.

4. Das Mehrbegehren, der Beklagte sei schuldig, der Klägerin weitere 4.000 EUR samt Zinsen an Schmerzengeld zu bezahlen, wird abgewiesen.“

II. Die Entscheidung über die Verfahrenskosten aller Instanzen bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin begehrt Schadenersatz für die Folgen eines Schiunfalls.

Am Unfallstag fuhr die Klägerin, eine sehr gute Schifahrerin, in gemütlichem Tempo und in kleinen Bögen einen ca 16 bis 18 Grad geneigten Hang talwärts.

Der Beklagte, ebenfalls ein sehr guter Schifahrer, näherte sich auf Freestyleschiern von hinten mit mindestens 40 km/h an und wollte links an der gerade zu einem Rechtsschwung ansetzenden Klägerin vorbeifahren. Er war rund 1 m von ihr entfernt, als sie ein plötzliches Geräusch („Knallen“) der Schispitzen des Beklagten hörte. Sie drehte den Kopf in seine Richtung und sah, dass der Beklagte plötzlich neben ihr war. Sie erschrak und stürzte nach wenigen Sekunden, wobei sie sich verletzte.

Höchstwahrscheinlich war es bei dem Versuch der Klägerin, sich vom Beklagten wegzudrehen, zu einem Verkanten oder Überkreuzen ihrer Schier gekommen. Eine Berührung oder Kollision gab es aber nicht, dazu wäre es auch nicht gekommen. Der Sturz der Klägerin war jedenfalls darauf zurückzuführen, dass sie durch den „Knall“ erschrak.

Der vom Beklagten beim Vorbeifahren eingehaltene Seitenabstand von 1 m war unter den gegebenen Umständen für ein sicher kontrolliertes Vorbeifahren zu gering, er hätte dazu mindestens rund 5 m betragen müssen. Wegen der geringen Distanz war es aus „schitechnischer Sicht“ nachvollziehbar, dass die Klägerin erschrak.

Das Erstgericht sprach mit Teil- und Zwischenurteil aus, dass das Zahlungs- und Feststellungsbegehren dem Grunde nach zu 50 % zu Recht, im Übrigen aber nicht zu Recht bestehen. Darüber hinaus sprach es der Klägerin unter Abweisung des Mehrbegehrens 5.500 EUR samt Zinsen an Schmerzengeld zu.

Der Beklagte sei mit zu geringem Seitenabstand an der Klägerin vorbeigefahren, sodass er für die dadurch ausgelösten Folgen hafte. Die Klägerin treffe aber ein gleichteilig zu gewichtendes Mitverschulden, weil sie überreagiert habe. Da es auf keinen Fall zu einer Kollision gekommen wäre und sie ihre Fahrt auch „risikolos“ einfach fortsetzen hätte können, sei ihr die Drehung des Kopfes in Richtung des Beklagten als eigener Sorgfaltsverstoß anzurechnen.

Für die erlittenen Verletzungen sei ein Schmerzengeld von 11.000 EUR, gekürzt um die Mitverschuldensquote, angemessen.

Das nur von der Klägerin angerufene Berufungsgericht gab ihrem gegen die Verschuldensteilung sowie gegen die Bemessung des Schmerzengeldes mit insgesamt weniger als 13.000 EUR gerichteten Rechtsmittel keine Folge.

Das Erstgericht sei zu Recht von einem Mitverschulden der Klägerin ausgegangen, weil sie bei gehöriger Sorgfalt die von einem Abwenden des Blicks ausgehende Gefahr des Verkreuzens oder Verkantens ihrer Schier erkennen hätte können. Es wäre ihr als sehr guter Schifahrerin zumutbar gewesen, die Fahrt in der konkreten Situation ohne Umdrehen fortzusetzen.

Die Bemessung des Schmerzengeldes durch das Erstgericht sei nicht korrekturbedürftig.

Das Berufungsgericht erklärte gemäß § 508 Abs 3 ZPO die Revision nachträglich für zulässig, weil zur Frage, ob das „Knallen“ der Schier eines mit zu geringem Abstand vorbeifahrenden Schifahrers eine nachvollziehbare und entschuldbare Schreckreaktion begründen kann, keine höchstgerichtliche Rechtsprechung aufgefunden werden könne.

Die Revision der Klägerin wendet sich in ihrer Rechtsrüge gegen die von den Vorinstanzen vorgenommene Anrechnung eines Mitverschuldens. Die bestätigte Bemessung des Schmerzengeldes lässt sie im Revisionsverfahren unbekämpft.

Der Beklagte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet und beantragt, dem Rechtsmittel keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht in seiner Entscheidung von der höchtsgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen ist.

Die Revision ist auch berechtigt.

I. Jeden Schifahrer trifft das allgemeine Gebot des kontrollierten Fahrens, das bedeutet, dass er seine Geschwindigkeit und Fahrweise den subjektiv und objektiv gegebenen Umständen anpassen muss (1 Ob 308/71 = SZ 44/178 = ZVR 1973/66; 1 Ob 715/86; RIS-Justiz RS0023429). Beim Schilauf muss sich jeder so verhalten, dass er keinen anderen gefährdet. Diese Forderung darf aber auch nicht überspitzt werden, soll das Schifahren nicht unmöglich gemacht werden (RS0023381).

2. Wird ein Verkehrsteilnehmer bei einer plötzlich auftretenden Gefahr zu schnellem Handeln gezwungen und trifft er unter dem Eindruck dieser Gefahr eine – rückschauend betrachtet – unrichtige Maßnahme, dann kann ihm dies nach ständiger Rechtsprechung noch nicht als Mitverschulden angerechnet werden (2 Ob 160/16t; RS0023292).

Dieser für den Straßenverkehr mit seinen (gegenüber den Regeln der Sportausübung) wesentlich höheren Anforderungen an die Sorgfalt entwickelte Rechtssatz gilt, wovon die Vorinstanzen auch ausgegangen sind, sinngemäß für die Ausübung des Schilaufs im Gelände.

Eine Schreckreaktion ist insbesondere dann entschuldbar, wenn das ihr zugrunde liegende Ereignis plötzlich und völlig überraschend in einer derartig bedrohlichen Nähe eintritt, dass ein überstürztes Handeln erforderlich ist (2 Ob 138/09x 2 Ob 117/16v; RS0022393, RS0027217, RS0029878, RS0065732).

3. Anders als im Straßenverkehr (RS0058339, RS0065966) besteht im Schisport keine im Allgemeinen vergleichbare Rechtspflicht, auch in gefährlichen Situationen jederzeit die Kontrolle über das Gerät zu behalten, um einen Sturz zu vermeiden. Die in der Revisionsbeantwortung zitierte Rechtsprechung ist insoweit nicht einschlägig.

Der Umstand, dass ein Schifahrer gestürzt ist, bedeutet für sich allein noch nicht, dass er ein Fehlverhalten zu verantworten hat. Aus dem Sturz allein kann auch nicht abgeleitet werden, dass der Geschädigte sich gegenüber eigenen Rechtsgütern sorglos verhalten hat (RS0109663, RS0111453).

Maßgeblich für den Schuldvorwurf des gestürzten Schifahrers ist vielmehr das dem Sturz vorangehende Verhalten. Erst dieses vermag einen Sorgfaltsverstoß zu verwirklichen (vgl RS0114141 = 6 Ob 220/00x).

4. Ein solches Fehlverhalten ist der Klägerin im vorliegenden Fall nicht anzulasten.

Es wurde ihr weder vorgeworfen, eine nicht ihrem Können und den Pistenverhältnissen angepasste Fahrweise gewählt zu haben, noch hat sie gegen irgendeine anerkannte Pistenregel verstoßen. Von einem fahrlässigen Zuwiderhandeln der Klägerin gegen die allgemein von einem Schifahrer zu erwartende Sorgfalt kann daher nicht gesprochen werden.

Fest steht vielmehr, dass der Sturz der Klägerin auf ihr „aus schitechnischer Sicht“ nachvollziehbares Erschrecken vor dem gehörten „Knall“ zurückzuführen war.

Es entspricht allerdings einem allgemein notorischen, nicht willentlich gesteuerten Reflex, bei einem plötzlichen sehr nahen und auch bedrohlichen (mögliche Kollision) Geräusch in die Richtung seiner Quelle zu blicken. Damit, dass die Klägerin auf das nur einen Meter entfernte „Knallen“ der Schier des Beklagten mit einer Kopfdrehung in seine Richtung reagiert hat, lässt sich ein Sorgfaltsverstoß nicht begründen. Bei Bemerken einer möglichen Gefahrensituation unverzüglich die Aufmerksamkeit darauf zu richten, um allenfalls Abwehrmaßnahmen ergreifen zu können, ist vielmehr ein durchaus rationales Verhalten, das für sich allein nicht vorwerfbar ist.

Solange die Klägerin noch keinen Sichtkontakt zum Beklagten hatte, musste sie sein lediglich akustisch in unmittelbarer Nähe wahrgenommenes Auftauchen objektiv betrachtet als potentielle Gefahr deuten. Das Argument der Vorinstanzen, es habe keinen ausreichenden Anlass für eine Reaktion der Klägerin gegeben, weil der Beklagte ja ohne Berührung an ihr vorbeifahren konnte, geht von einer unzulässigen ex-post-Betrachtung aus. In dem Moment, als sie durch das Knallgeräusch erschrak, konnte die Klägerin naturgemäß mangels Sicht auf die Ursache noch nicht erkennen, welche Fahrlinie der Beklagte einhalten würde und ob es zur Kollision kommen könnte.

Es kommt nicht, wie das Berufungsgericht in seiner Begründung ausgeführt hat, darauf an, ob ein „Knallen“ von Schispitzen ein Geräusch ist, das erfahrenen Schiläufern an sich vertraut sein muss, sondern darauf, dass damit in einem objektiv viel zu geringen Abstand nicht gerechnet werden muss und es für die Klägerin eine potentiell gefährliche Situation ankündigte.

Selbst wenn man die Schreckreaktion der Klägerin als technischen Fahrfehler ansehen wollte, weil sie dadurch in der Folge die Kontrolle über ihre Schier verloren hat, wäre ein damit allenfalls anzulastender geringer Sorgfaltsverstoß gegenüber dem weitaus überwiegenden Verschulden des Erstbeklagten, der die Klägerin durch massives Unterschreiten des angemessenen Mindestabstands gefährdet hat, zu vernachlässigen.

6. Der Revision war daher Folge zu geben.

Nachdem die Klägerin die Bemessung ihres Schmerzengeldes mit 11.000 EUR im Revisionsverfahren nicht mehr bekämpft, hat es hier bei einer Teilabweisung der Differenz zu bleiben.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf §§ 393 Abs 4 und 52 ZPO.

Textnummer

E127224

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2019:0080OB00042.19P.1216.000

Im RIS seit

05.02.2020

Zuletzt aktualisiert am

17.02.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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