TE Bvwg Beschluss 2019/11/21 W217 2225017-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.11.2019
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Entscheidungsdatum

21.11.2019

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz 2

Spruch

W217 2225017-1/ 3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Julia STIEFELMEYER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Ulrike LECHNER, LL.M. sowie die fachkundige Laienrichterin Verena KNOGLER BA, MA als Beisitzerinnen über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Wien, vom 19.09.2019, OB: XXXX , betreffend die Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses, beschlossen:

I.

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.

II.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

1. Frau XXXX (in der Folge: BF) beantragte am 16.05.2019 einlangend die Ausstellung eines Behindertenpasses. Diesem Antrag wurde ein Konvolut an medizinischen Beweismitteln beigelegt. So legte sie u.a. auch Befunde eines FA für Neurologie und Psychiatrie, eines FA für Orthopädie, des sozialpsychologischen Ambulatoriums XXXX , des psychosozialen Dienstes der Stadt XXXX sowie einer klinischen Psychologin und Gesundheitspsychologin vor.

2. In weiterer Folge wurde ein medizinisches Sachverständigengutachten auf Grundlage der durch die BF vorgelegten Befunde sowie einer am 08.08.2019 durchgeführten Begutachtung durch eine Ärztin für Allgemeinmedizin erstellt. Darin wurde Folgendes ausgeführt:

"Anamnese:

Antragsleiden: Bipolare affektive Störung, rezidivierende depressive

Störungen, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome, Angst- und Panikstörung, posttraumatische Belastungsstörung, Morbus Sudeck, CRPS li UE (Complex regional pain Syndrom/komplexes regionales Schmerzsyndrom) 2015-2018

Siehe auch VGA vom 15.05.2017: Zustand nach Calcaneusfraktur links 11/2014

30%, Bipolare affektive Störung 20%, Periarthritis humeroscapularis rechte Schulter 30%, Gesamt-GdB 30%

Derzeitige Beschwerden:

‚Ich komme wegen einem Behindertenpass, meine psychischen Beschwerden haben sich verschlechtert. Da war ich im Jänner 2018 in der Rehab Klinik XXXX , wo ich eine ambulante Rehabilitation der Phase 2 durchgeführt habe. Letztes Jahr hatte ich auch eine von Juni bis November 2018 im Zentrum für seelische Gesundheit XXXX . Vor der Therapie hatte ich Panikattacken und Flashbacks. Nachdem die Therapien nichts geholfen haben, habe ich den Antrag gestellt nach XXXX und hoffe, dass ich dort einen Therapieplatz bekomme. Bei mir geht es darum einmal, alle meine Traumata aufzuarbeiten. Derzeit bin ich regelmäßig beim BSD, bin auch bei XXXX , wo ich auch regelmäßige Motivationsgespräche erhalte. Bin auch regelmäßig bei meinem Neurologen zur Kontrolle, alle zwei Monate. Im März ist bei mir auch eine psychologische Austestung gemacht worden. 2014 bin ich gestürzt und hab einen Fersenbeinbruch gehabt. Ich habe dann dreieinhalb Monate einen Gips bekommen, war anschließend auf Reha, allerdings hat sich nichts geändert, außer, dass ich wieder in meinen Schuh hineingekommen bin. Ich habe auch festgestellt, dass die Schmerzen immer schlimmer werden. Ich war dann bei meinem Orthopäden, der die Diagnose eines Morbus Sudeck gestellt hat. Dann war ich im XXXX , welche mich dann weiter in die Schmerzambulanz überwiesen haben. Mit dem Dronabinol geht es mir schmerzmäßig gut, ich kann allerdings den Fuß nicht lange belasten und somit verwende ich Unterarmstützkrücken bzw. auch einen Rollstuhl. Die Unterarmstützkrücken verwende ich seit meinem Unfall.'

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:

Duloxetin, Dronabinol gtt

Sozialanamnese:

geschieden, 3 Kinder, AMS

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

MAG. XXXX

Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin von 03/2019

rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische

Symptome

Panikstörung

posttraumatische Belastungsstörung

PSD vom 14.02.2019

seit Jahren in unregelmäßiger Behandlung und Betreuung des hierorts

Ambulatoriums wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung, rezidivierenden Depressionen und Morbus Sudeck

Trotz intensiver therapeutischer Anstrengungen (die Patientin hat unter anderem im letzten Jahr bereits BBRZ XXXX samt Anschlussphase absolviert und besucht eine ambulante Psychotherapie) hat sich die Symptomatik in letzter Zeit nicht wesentlich gebessert, im Gegenteil sind in dieser Aufarbeitungsphase Flashbacks gehäuft aufgetreten und haben fallweise zum Wiederauftreten von Suizidgedanken geführt, von denen die Patientin jedoch deutlich distanziert ist.

Dennoch ist sie weiterhin extrem belastet, außerordentlich antriebsarm und leidet unter chronifizierten Einschlafstörungen und depressiver Stimmungslage.

Es darf als bekannt voraus gesetzt werden, dass einerseits chronifizierte Schmerzen sich negativ auf depressive Zustandsbilder auswirken und andererseits Morbus Sudeck sich durch psychische Belastungen aggravieren kann.

Trotz des komplizierten Verlaufes meistert die Patientin ihren Alltag einigermaßen, sie strebt nunmehr auch zur Aufarbeitung vor allem der Flashbacks und frühkindlicher Liveevents einen stationären Aufenthalt in XXXX an

Zentrum für Seelische Gesundheit vom 10.11.2018

Bipolare affektive Störung

Posttraumatische Belastungsstörung

Neurodystrophie [Algodystrophie]

WSP vom 22.06.2018

Status:

Atrophie der Wadenmuskulatur links, Hyposensibilität li Fuß, unterschiedliches Nagelwachstum links langsamer, Hyperhidrose links > rechts, Temp Unterschied li kälter als re

Die Patientin hat vor ca. 1 Jahr mit Dronabinol gtt begonnen, welche einen sehr positiven Effekt hatten. Es konnte die sehr schlecht vertragene hochdosierte Opiodtherapie ausgeschlichen werden, Neurontin musste ebenso wegen Unverträglichkeit beendet werden.

Die Schmerzintensität kann durch Dronabinol von NRS 10 auf NRS 5 reduziert werden!

Wir empfehlen die weiterführende Gabe von Dronabinol Tropfen in der Dosierung 3gtt-3gtt-4gtt.

Untersuchungsbefund:

Allgemeinzustand:

gut

Ernährungszustand:

gut

Größe: 170,00 cm Gewicht: 59,00 kg Blutdruck: 110/60

Klinischer Status - Fachstatus:

54 Jahre

Haut/farbe: rosig sichtbare Schleimhäute gut durchblutet

Caput:, Visus: mit Brille korrigiert, Hörvermögen nicht eingeschränkt

keine Lippenzyanose, Sensorium: altersentsprechend, HNA frei

Collum: SD: schluckverschieblich, keine Einflusstauung, Lymphknoten:

nicht palpabel

Thorax. Symmetrisch, elastisch,

Cor: Rhythmisch, rein, normfrequent

Pulmo: Vesikuläratmung, keine Atemnebengeräusche, keine Dyspnoe

Abdomen: Bauchdecke: weich, kein Druckschmerz, keine Resistenzen tastbar,

Hepar am Ribo, Lien nicht palp. Nierenlager: Frei.

Pulse: Allseits tastbar

Obere Extremität: Symmetrische Muskelverhältnisse. Nackengriff und Schürzengriff bds. durchführbar, rechts jedoch erschwert, rechte Schulter endlagig eingeschränkt, grobe Kraft bds. nicht vermindert, Faustschluß und Spitzgriff bds. durchführbar. Die übrigen Gelenke altersentsprechend frei beweglich. Sensibilität wird unauffällig angegeben,

Untere Extremität: Zehenspitzen und Fersenstand nicht prüfbar, Einbeinstand rechts durchführbar, beide Beine von der Unterlage abhebbar, grobe Kraft bds. nicht vermindert, freie Beweglichkeit in beiden Hüftgelenken und rechtes Kniegelenken, linkes Knie endlagig eingeschränkt, bandstabil, kein Erguss, Muskelverhältnisse im Bereich der linken Wade verschmächtigt, deutlich berürungsempfindlich, Beweglichkeit schmerzbedingt höbergradig eingeschränkt, Sensibilität wird unauffällig angegeben keine Varikositas, keine Ödeme bds.,

Wirbelsäule: Kein Klopfschmerz, Finger-Bodenabstand im Stehen: nicht prüfbar, im Sitzen 0cm

Rotation und Seitwärtsneigung in allen Ebenen nach rechts endlagig eingeschränkt

Gesamtmobilität - Gangbild:

kommt mit einem Rollstuhl

Gehen mit 2 UA-Stützkrücken mit fehlender Abrollbewegung des linkes Fußes, Freies Gehen nicht prüfbar

Status Psychicus:

bewußtseinsklar, orientiert, kein kognitives-mnestisches Defizit,

Gedankenstuktur: geordnet, kohärent, keine Denkstörung, Konzentration ungestört, Antrieb unauffällig, Stimmungslage ruhig, angepasst, gut affizierbar, Affekte angepasst, keine produktive Symptomatik

Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden: Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Pos. Nr.

GdB %

1

Bipolare affektive Störung oberer Rahmensatz, da trotz umfassender Therapie noch keine ausreichende Stabilisierung

03.06.01

40

2

Zustand nach Calcaneusfraktur links 11/2014 Heranziehung dieser Position mit 2 Stufen u¿ber dem unteren Rahmensatz, da Fraktur zwar knöchern geheilt, jedoch mittelgradige Funktionseinschränkung bei anhaltender Beschwerdesymptomatik bei Morbus Sudeck

02.05.35

30

3

Periarthritis humeroscapularis rechte Schulter

02.06.01

10

Gesamtgrad der Behinderung 40 v. H.

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:

weil der führende GdB unter der Position 1 durch Leiden 2+ 3 nicht erhöht wird, da keine ungünstige wechselseitige Leidensbeeinflussung vorliegt

Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:

-

Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:

Verschlimmerung von Leiden 2 des VGA. Gleichbleiben der übrigen Leiden

Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung:

Anhebung des GdB um 1 Stufe

X Dauerzustand"

3. Mit Schreiben vom 13.08.2019 wurde der BF das Ergebnis der Beweisaufnahme zur Kenntnisnahme und allfälliger Stellungnahme binnen 2 Wochen übermittelt.

4. Mit Bescheid vom 19.09.2019 wurde der Antrag der BF auf Ausstellung eines Behindertenpasses abgewiesen. Begründend wurde auf das eingeholte ärztliche Gutachten verwiesen.

5. Gegen diesen Bescheid wurde von der BF fristgerecht Beschwerde erhoben. Darin führte sie aus, im Jahr 2015 sei bei ihr erstmals Morbus Sudeck, Sudeck CRPS li UE (Complex regional pain Syndrom/komplexes regionales Schmerzsyndrom) diagnostiziert worden. Diese Erkrankung sei nach einer Fersenbeinfraktur links im November 2014 ausgelöst worden. Seitdem leide sie unter massiven Schmerzen und einer Geheinschränkung. Sie sei auf zwei Unterarmkrücken innerhalb ihres Wohnbereiches angewiesen, außer Haus benötige sie für längere Wege einen Rollstuhl. Seit ihrem Unfall im November 2015 habe sie täglich massive Nervenschmerzen in den unteren Extremitäten links von der Hüfte bis zu den Zehen sowie Sprunggelenksschmerzen links. Die enorme Einschränkung sei eine extreme psychische Belastung. Jeder Stress und jede psychische Belastung verstärkten ihre Nervenschmerzen und das verschlimmere wiederum ihre psychische Verfassung. Obwohl sie die Gutachterin auf die Befunde, in denen die Wechselwirkung ihrer Nervenschmerzen auf die Psyche angeführt sei, hingewiesen habe, seien diese nicht berücksichtigt worden. Weiters habe sie durch das Gehen mit Krücken seit 2014 und die damit verbundene einseitige Überbelastung deutliche Bewegungseinschränkungen verbunden mit Schmerzen, insbesondere im rechten Schulterbereich. Außerdem leide sie dadurch an Verspannungen im HWS-Bereich und im ganzen Rückenbereich.

6. Die Beschwerde wurde samt dem Bezug habenden Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht am 04.11.2019 zur Entscheidung vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Gesetzliche Bestimmungen:

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch einen Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

2. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt I.:

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,

wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 28 VwGVG, Anm. 11.).

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 2. Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des BBG, BGBl. Nr. 283/1990 idgF, ergänzt durch die VO BGBl. II Nr. 59/2014, lauten:

"§ 1. (2) Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

...

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt."

Maßgebend für die Entscheidung über den Antrag der BF auf Ausstellung eines Behindertenpasses ist die Feststellung der Art und des Ausmaßes der bei der BF vorliegenden Gesundheitsschädigungen sowie in der Folge die Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung.

Dazu hat die belangte Behörde im angefochtenen Verfahren nur ansatzweise Ermittlungen geführt.

In dem von der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin wurde nach Durchführung einer persönlichen Untersuchung der BF am 08.08.2019 der Gesamtgrad der Behinderung unter Anführung der Leiden "Bipolare affektive Störung", "Zustand nach Calcaneusfraktur links 11/2014" sowie "Periarthritis humeroscapularis rechte Schulter" mit 40 v.H. eingeschätzt.

Trotz vorgelegter Befunde u.a. aus den Fachbereichen Neurologie und Psychiatrie sowie Orthopädie wurde lediglich ein medizinisches Gutachten durch eine Ärztin für Allgemeinmedizin eingeholt.

Es besteht zwar kein Anspruch auf die Zuziehung von Sachverständigen eines bestimmten medizinischen Teilgebietes. Es kommt jedoch auf die Schlüssigkeit des eingeholten Gutachtens an. Gegenständlich ist die Begutachtung lediglich durch eine Ärztin für Allgemeinmedizin erfolgt. Die vorgelegten Beweismittel enthalten konkrete Anhaltspunkte, dass die Einholung von Sachverständigengutachten der Fachrichtungen Neurologie/Psychiatrie sowie Orthopädie erforderlich sind, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung zu gewährleisten.

Das eingeholte allgemeinmedizinische Sachverständigengutachten ist im Hinblick darauf, dass die BF bereits im Antrag neurologische/psychiatrische sowie orthopädische Leidenszustände durch Vorlage von medizinischen Beweismitteln vorgebracht hat, mangels Fachkenntnis nicht ausreichend zur qualifizierten Beurteilung des Gesamtleidenszustandes.

Die seitens des Entscheidungsorganes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen.

Ein Gutachten bzw. eine medizinische Stellungnahme, welche Ausführungen darüber vermissen lässt, aus welchen Gründen der ärztliche Sachverständige zu einer Beurteilung gelangt ist, stellt keine taugliche Grundlage für die von der belangten Behörde zu treffende Entscheidung dar (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321).

Es ist nicht nachvollziehbar, warum die belangte Behörde darauf verzichtet hat, das Ermittlungsverfahren dahingehend zu erweitern, Gutachten der Fachrichtungen Neurologie/Psychiatrie sowie Orthopädie einzuholen.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung des Grades der Behinderung als so mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer Zurückverweisung darzulegen, welche notwendigen Ermittlungen die Verwaltungsbehörde unterlassen hat. (Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015)

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde medizinische Sachverständigengutachten der Fachrichtungen Neurologie/Psychiatrie sowie Orthopädie - auf Basis fachärztlicher Untersuchungen - einzuholen und die Ergebnisse unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen haben.

Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die BF mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen.

Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des gegenständlichen gravierend mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist auch der mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren verbundene erhöhte Aufwand.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.

Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der BF noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rascher und kostengünstiger festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Zu Spruchpunkt II:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

In den rechtlichen Ausführungen zu Punkt I.) wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ausgeführt, dass im Verfahren vor der belangten Behörde gravierende Ermittlungslücken bestehen sowie die Judikatur zu den Anforderungen an ein Sachverständigengutachten für die behördliche Beurteilung der Frage der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel im Lichte von § 42 Abs. 1 BBG dargestellt. Zur Anwendung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG wurde auf die aktuelle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063) Bezug genommen.

Schlagworte

Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung,
Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W217.2225017.1.00

Zuletzt aktualisiert am

31.01.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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