TE Bvwg Erkenntnis 2019/9/11 W203 2199266-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.09.2019
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Entscheidungsdatum

11.09.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs4b
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W203 2199212-1/10E

W203 2199264-1/10E

W203 2199268-1/10E

W203 2199267-1/7E

W203 2199266-1/7E

Ausfertigung der am 13.08.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisse

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER als Einzelrichter über die Beschwerden (1.) der XXXX , geb. XXXX .1990, (2.) des XXXX , geb. am XXXX .1979, (3.) der mj. XXXX, geb. am XXXX .2005, (4.) des mj. XXXX , geb. am XXXX .2010 und

(5.) des mj. XXXX , geb. am XXXX .2017, alle StA. Afghanistan, alle vertreten durch RA Edward W. DAIGNEAULT, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.05.2018, Zlen. (1.) 16-1101183410/160000765, (2.) 16-1101603700/160020265, (3.) 16-1101183802/160001198, (4.) 16-1101184112/160001180 und (5.) 17-1142667302/170179121 zu Recht erkannt:

A)

I. Den Beschwerden wird stattgegeben und (1.) XXXX , (2.) XXXX ,

(3.) XXXX , (4.) XXXX und (5.) XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der bzw. des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass (1.)

XXXX , (2.) XXXX , (3.) XXXX , (4.) XXXX und (5.) XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF1) und der Zweitbeschwerdeführer (im Folgenden: BF2) stellten am 01.01.2016 für sich und die BF1 am selben Tag auch für ihre minderjährigen Kinder - die Drittbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF3) und den Viertbeschwerdeführer (im Folgenden: BF4) - sowie die BF1 am 09.02.2017 für ihren inzwischen neu geborenen Sohn, den Fünftbeschwerdeführer (im Folgenden: BF5), die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

2. Am 01.01.2016 wurde die BF1 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Erstbefragung unterzogen. Dabei gab sie im Wesentlichen an, dass sie Afghanistan deswegen verlassen habe, weil sie Zeugin eines sexuellen Übergriffs auf ein Mädchen aus der Nachbarschaft geworden und daraufhin von dem von ihr angezeigten Täter und dessen Familie dahingehend bedroht worden sei, dass man auch sie und die BF 3 vergewaltigen werde.

Bei der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung gab der BF2 an, dass er keine eigenen Fluchtgründe habe, sondern wegen der Probleme seiner Frau, die als Zeugin einer Vergewaltigung verfolgt werde, geflohen sei.

3. Am 30.04.2018 wurde die BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Im Rahmen dieser Befragung gab sie an, dass sie im Alter von 11 Jahren mit ihren Eltern in den Iran gezogen sei. Dort habe sie auch geheiratet und die beiden älteren ihrer Kinder bekommen. Als die Tochter 7 Jahre alt gewesen sei, sei sie mit ihrer Familie zurück nach Afghanistan (Kabul) gegangen. Sie habe in Afghanistan arbeiten wollen, habe aber dazu keine Möglichkeit gehabt. Außerdem sei die Familie ihres Mannes - nicht ihr Mann selbst - dagegen gewesen, dass sie arbeite. Sie habe ca. mit 18 Jahren einen Mann geheiratet, den ihre Eltern für sie ausgesucht hätten. In Afghanistan habe sie keine Verwandten, Freunde oder Bekannten mehr. Befragt nach dem Fluchtgrund führte die BF1 das bereits bei der Erstbefragung Vorgebrachte näher aus. Sie habe - nachdem Sie die Vergewaltigung der Nachbarstochter beobachtet und den Täter angezeigt habe - Drohbriefe erhalten. Eines Tages sei auch ein Mann vor der Tür gestanden, der sie am Hals gepackt und bedroht habe.

Befragt nach ihrem Privat- und Familienleben in Österreich gab die BF1 an, dass sie sich um Haushalt und Familie kümmere. Ihr Mann helfe ihr dabei. Sie lerne Deutsch über das Internet und gehe derzeit keiner Beschäftigung nach, würde aber gerne arbeiten. Sie gehe gerne auf Treffen und zu Partys. Sie sitze gerne mit afghanischen Frauen zusammen und würde gemeinsam mit diesen Kuchen backen, musizieren und tanzen. Sie habe aber auch Kontakte zu österreichischen Frauen und Männern. Meistens würde ihr Mann einkaufen gehen, weil sie nicht so schwer heben wolle. Sie verlasse auch oft alleine das Haus, um in den Park zu gehen. Sie würde gerne eine Schule besuchen und eine Ausbildung machen. Außerdem würde sie gerne Autofahren lernen und den Führerschein machen. In Afghanistan habe sie die Burka tragen müssen, in Österreich könne sie dagegen tragen, was sie wolle und dürfe sich auch schminken. Sie bevorzuge traditionelle Kleidung, Ihre Tochter dürfe natürlich tragen, was sie wolle. Die Tochter trage gerne Jeans, ein Oberteil und eine Kopfbedeckung aus freien Stücken, weil sie es so wolle. Die BF1 gab an, sie habe von Mai bis Juni 2016 beim Roten Kreuz gearbeitet und würde - falls sie in Österreich bleiben könne - jede Tätigkeit annehmen, egal, was sie bekomme. Sie gab weiters an, dass sie "Deutsch noch nicht so gut" könne, aber bereits den A1-Kurs absolviert habe und auf den A2-Kurs warte. Sie sei nicht Mitglied bei einem Verein oder in einer Organisation.

4. Ebenfalls am 30.04.2018 wurde auch der BF2 von der belangten Behörde einvernommen. Dabei gab er an, dass er mit seiner Familie vor der Ausreise in Kabul gewohnt und ein "gutes Leben" geführt habe. Er habe als Schneider gearbeitet und die Familie hätte in einer Mietwohnung gelebt. Die Familie hätte derzeit in Afghanistan niemanden mehr, der Großteil der Familie (Eltern, Bruder) lebe in der Türkei, zwei Schwestern, zu denen er keinen Kontakt habe, lebten "irgendwo", er wisse nicht, wo genau. Er kenne sich in Afghanistan nur in Kabul aus. Mit ca. 21 Jahren habe er Afghanistan verlassen und sei danach in den Iran gegangen, wo er 10 oder 11 Jahre gelebt und als Schneider gearbeitet habe. Nachdem die Familie im Iran keinen Aufenthaltstitel bekommen habe und die Tochter im Iran die Schule nicht besuchen habe dürfen, sei die Familie zurück nach Afghanistan gegangen. Den Entschluss zur Ausreise habe ca. 4 Tage davor die BF1 gefasst. Der BF2 könne die Fluchtgründe der BF1 bestätigen, er selber habe keine eigenen Fluchtgründe. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte der BF2 die Explosionen, die sich täglich in Kabul ereigneten und außerdem, dass seiner Tochter etwas zustoßen könnte. Zusätzlich habe er Angst vor den Feinden der BF1. Befragt nach seinem Tagesablauf in Österreich gab der BF2 an, dass er nach dem Frühstück die Kinder in die Schule schicke und anschließend mit seinem kleinen Sohn spiele. An Tagen, an denen er nicht arbeiten müsse, gehe er einkaufen und mache diverse Erledigungen zusammen mit der BF1. Er sei seit der Einreise in Österreich keiner legalen Beschäftigung nachgegangen, würde aber gerne als Schneider arbeiten und notfalls auch jede andere Tätigkeit annehmen. Er habe in Österreich keine Schule oder sonstige Ausbildung absolviert und sei nicht Mitglied in einem Verein. Aufgrund einer Sprachstörung (leichtes Stottern) habe er Probleme, die deutsche Sprache zu erlernen, verstehe aber schon ein bisschen davon.

5. Mit Bescheiden jeweils vom 25.05.2018 wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF (AsylG 2005), (Spruchpunkt I) als auch hinsichtlich des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführern nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, gegen die Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde hinsichtlich der BF1 aus, dass feststehe, dass diese auch in Österreich das traditionelle afghanische Rollenbild der Frau lebe, und dass sie in Afghanistan nicht aus einem asylrelevanten Grund verfolgt werde. Die Fluchtgründe der BF1 seien unglaubwürdig, da diese bei der Erstbefragung ihre Ausreisegründe ganz anders dargelegt habe als bei der Einvernahme durch das BFA. Bei der Ersteinvernahme habe die BF1 angegeben, dass der Täter aufgrund ihrer Anzeige überführt worden sei, beim BFA habe sie im Widerspruch dazu angegeben, dass nicht die BF1, sondern die Nachbarin den Täter angezeigt habe. Bei der Ersteinvernahme habe die BF1 angegeben, sie sei vom Täter selbst und von dessen Familie bedroht worden, während sie beim BFA vorgebracht habe, dass sie die Familie des Täters nicht einmal kenne. Es sei auch nicht glaubhaft, dass die BF1 - wie von dieser vorgebracht - den angeblichen Vergewaltiger der Nachbarstochter zur Rede gestellt habe, da es auch für relativ selbständige afghanische Frauen "nicht üblich" wäre, dass sie fremde Männer einfach ansprechen und mit diesen reden oder zu diskutieren beginnen würden. Glaubhaft sei dem gegenüber, dass der BF1 aufgrund ihrer getätigten Angaben, ihrem Erscheinungsbild und ihrem Verhalten während der Einvernahme am 30.04.2018 eine etwaige Verfolgung wegen einer der Tradition entgegenstehenden Einstellung als Frau in Afghanistan nicht drohe. Die BF1 sei "von ihrer persönlichen Wertehaltung her" nicht an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (= selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert.

Auf Grund der von ihren gesetzlichen Vertretern gemachten Angaben stehe auch fest, dass die BF3 das traditionelle afghanische Rollenbild der jugendlichen Frau auch in Österreich lebe.

Betreffend den BF2, den BF4 und den BF5 führte die belangte Behörde aus, dass diese keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht hätten und dass die Fluchtgründe der BF1 "total unglaubwürdig" wären.

Die Bescheide wurden am 29.05.2018 zugestellt.

6. Gegen diese gegenständlichen Bescheide erhoben die BF am 23.06.2018 über ihre rechtsfreundliche Vertretung fristgerecht Beschwerde. In dieser wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es sich beim Vorbringen der BF1 keineswegs um zwei unterschiedliche Fluchtgeschichten gehandelt habe, sondern dass lediglich einmal anstelle von "seiner Leute" "seine Familie" protokolliert worden sei. Das Vorbringen der BF1 sei glaubhaft und asylrelevant. Außerdem lasse sich dem Vorbringen der BF1 sehr wohl entnehmen, dass sie inzwischen "westlich orientiert" sei und ihr eine Rückkehr nach Afghanistan nicht mehr zugemutet werden könne. Auch die BF3 sei mittlerweile bereits "an ein westliches Leben gewöhnt". Diese lehne nicht nur die afghanischen Kleidungsvorschriften ab, sondern verkehre auch ungezwungen mit gleichaltrigen Buben. In Afghanistan drohe ihr, frühzeitig zwangsverheiratet zu werden. Die Eltern hätten in dieser Frage zwar ein Mitspracherecht, könnten aber nicht alleine darüber entscheiden. In Fällen, in denen zum Aufbau einer Existenz Geld benötigt werde, habe eine Familie oft keine andere Möglichkeit, als eine minderjährige Tochter im Wege einer Zwangsverheiratung "wegzugeben".

Die BF beantragten u.a., das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung durchführen.

7. Mit Schreiben vom 25.06.2018, eingelangt am 26.06.2018, legte die belangte Behörde den gegenständlichen Verfahrensakt - ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen - dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

8. Am 13.08.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Rahmen derer die BF1, der BF2 und die BF3 als Parteien befragt wurden. Im Vorfeld der Verhandlung teilte die belangte Behörde mit, dass die Teilnahem eines informierten Vertreters der Behörde aus dienstlichen und personellen Gründen nicht möglich sei.

Die BF1 erschien zur Verhandlung in Hose, Blazer und Kopftuch, das den Haaransatz frei ließ. Sie war dezent geschminkt und trug Schmuck. Gefragt nach einem typischen Tagesablauf gab die BF1 in - teilweise bruchstückhaftem - Deutsch an, dass sie nach einem gemeinsamen Frühstück mit der Familie für eine Nachbarin die Waschmaschine bedienen würde, um anschließend ca. 2 Stunden im Internet Deutsch zu lernen. Später gehe sie mit dem BF5 einkaufen und spazieren. Zu Mittag würden entweder sie oder ihr Mann das Essen zubereiten, am Nachmittag gehe die ganze Familie gemeinsam in den Park. Sie fahre gelegentlich auch mit dem Fahrrad. Ihr Deutsch sei heute nicht besonders gut zu verstehen, weil sie "im Stress" sei. Sie würde aber sehr wohl Deutsch sprechen, z.B., wenn sie mit ihrem Sohn zum Arzt gehe.

Befragt zu ihren Fluchtgründen verwies die BF1 abermals auf die bereits bei der belangten Behörde ausführlich geschilderten Vorfälle im Zusammenhang mit der bzw. im Anschluss an die Vergewaltigung der Nachbarstochter.

Die BF1 gab an, dass sie erst in Europa erkannt habe, dass Frauen auch Rechte haben. In Afghanistan hätten die Frauen überhaupt keine Rechte gehabt und nichts selber entscheiden dürfen. Gefragt nach den Einkaufsgewohnheiten der Familie gab die BF1 an, dass sie die Lebensmitteleinkäufe meistens gemeinsam mit ihrem Mann besorgen würde, während sie Kleidung und Backsachen alleine einkaufe. Sie sei in der Nähe ihrer Unterkunft oft alleine unterwegs, um die Gegend kennen zu lernen und sich die Märkte und Supermärkte anzusehen. Mittlerweile kenne sie sich dort "ganz gut" aus. Ihre Tochter gehe meistens alleine bzw. mit Freundinnen einkaufen und suche sich auch ihre Kleidung selber aus. Seit die Familie in Österreich sei, habe sich sehr viel verändert. Sie wisse jetzt, dass "auch Frauen ein Leben haben", während sie in Afghanistan ausschließlich mit Hausarbeit beschäftigt gewesen sei. Sie liebe es, zu backen, und hätte gerne ein eigens Geschäft für Backwaren. In Afghanistan sei so etwas für eine Frau absolut unmöglich. In Afghanistan sei ihr auch bis hin zur Farbe des Kopftuches genau vorgeschrieben worden, welche Kleider sie zu tragen habe, während sie diesbezüglich hier in Österreich völlig frei sei. Hier könne sie tragen, was sie möchte und sich auch schminken und Ohrringe tragen. In Afghanistan durfte sie maximal innerhalb des Ortes das Haus alleine verlassen, darüber hinaus habe sie sich nur in männlicher Begleitung bewegen dürfen. Auch ihre Tochter könne hier im Gegensatz zu Afghanistan alleine und ohne Angst zur Schule gehen. Nachgefragt, warum sie freiwillig ein Kopftuch trage, gab die BF1 an, dass sie sich so hübscher und sehr wohl fühle, während sie in Afghanistan gegen ihren Willen eine Burka habe tragen müssen. Sie habe großteils selbst entschieden, dass sie hier in Österreich anders leben wolle als bisher in Afghanistan, zum Teil habe sie das aber auch mit ihrem Mann abgesprochen. Sie würde in Österreich auch - was in Afghanistan für eine Frau vollkommen unmöglich wäre - sehr gerne den Führerschein machen und habe auch schon einige Fragen dafür gelernt. Sie gehe inzwischen auch "mit voller Freude" einkaufen. Die meisten Lebensmittel würde sie in zwei bestimmten, namentlich erwähnten Supermärkten einkaufen, während sie Öl, Reis und afghanische Produkte in einem afghanischen Geschäft kaufe. Sie beobachte auch aufmerksam, wo es gerade Aktionen und Preisnachlässe gebe, und würde gezielt danach einkaufen. Die Finanzverwaltung im Haushalt mache sie gemeinsam mit ihrem Mann. Das Familieneinkommen würde an einem bestimmten Ort aufbewahrt, und jeder nehme sich, was er zum Einkaufen brauche. Nachgefragt gab die BF1 an, dass ihre eigene Hochzeit seinerzeit arrangiert gewesen sei, und dass ihre Eltern ihren Mann ausgesucht hätten, ohne dass sie dabei ein Mitspracherecht gehabt habe. Sie habe aber großes Glück gehabt und einen guten Mann bekommen. Für ihre Tochter wünsche sie sich, dass diese nicht gezwungen werde, früh zu heiraten, und dass sie sich ihren Mann selber aussuchen könne. Es sei ihr auch nicht wichtig, welcher Religionsgemeinschaft der zukünftige Mann ihrer Tochter angehören würde, er solle nur "ein guter Mensch und gut erzogen" sein. Es gebe keine konkreten Situationen, in denen innerhalb der Familie Deutsch gesprochen werde, die Eltern würden aber die Kinder anhalten, mit ihnen möglichst oft Deutsch zu sprechen, damit sie die Sprache besser und schneller erlernen können. Ihr Freundes- und Bekanntenkreis setze sich sowohl aus Männern als auch aus Frauen zusammen. Es handle sich dabei um Personen aus Afghanistan und unterschiedlichen Herkunftsländern, es wären aber auch einige Österreicher darunter. Wenn sie mit Österreichern zusammen sei würde sie mit diesen hauptsächlich über ihre eigene Zukunft und die Zukunft der Kinder reden. Die Elternabende der Kinder besuche sie inzwischen selber, während dies früher - als der jüngste Sohn noch sehr klein gewesen sei - ihr Mann erledigt habe.

Die Befragung der BF3 wurde ohne Unterstützung durch den Dolmetscher zur Gänze auf Deutch durchgeführt. Dabei gab diese an, dass sie gerne mit ihren Freundinnen "in die Stadt" und einkaufen gehe. Sie spiele auch Fußball und gehe gerne in die Bibliothek, um Bücher zu lesen, oder ins Kino. An die Zeit in Afghanistan könne sie sich nicht mehr so gut erinnern. Sie habe dort aber nicht alleine einkaufen und nicht ohne Angst leben können. Ihr Freundeskreis in Innsbruck setze sich sowohl aus Buben als auch aus Mädchen zusammen. Sie würde sich mit ihren Freundinnen und Freunden ausschließlich auf Deutsch unterhalten. Dabei würden sie über die Schule, aber auch über aktuelle Musikrichtungen sprechen. Nachgefragt nannte die BF3 einen bekannten Rapper als ihren derzeitigen Lieblingsmusiker. Sie suche sich ihre Kleidung selber aus und würde das anziehen, was ihr gefalle, z.B. wie heute einen gelben Jogginganzug. Sie besuche derzeit die 4. Klasse der NMS und würde später gerne einmal Schauspielerin oder "Roboteringenieurin" werden.

Der BF2 bestätigte im Wesentlichen die Angaben der BF1 betreffend die Aufgabenverteilung bei der Haushaltsführung. Die BF1 und die BF3 würden sich - wenn sie das Haus verlassen - "österreichisch" kleiden, was für ihn aber kein Problem sei. Oft würden die BF1 und die BF3 den BF2 bitten, auf den BF5 auszupassen, wenn diese alleine einkaufen gehen möchten.

Nach Abschluss der mündlichen Verhandlung verkündete der zuständige Richter die im Spruch wiedergegebenen Erkenntnisse.

9. Am 22.08.2019 beantragte die belangte Behörde fristgerecht die Ausfertigung der am 13.08.2019 verkündeten Erkenntnisse gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person der BF und zu deren Situation im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

Die BF sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennen sich zum muslimischen Glauben (sie sind Schiiten).

Die BF1 ist die Ehefrau des BF2, beide sind sie die gemeinsamen Eltern der minderjährigen BF3, BF4 und BF5.

Die BF1 hat in Afghanistan 4 Jahre die Grundschule besucht. Der BF2 hat in Afghanistan 7 Jahre lang die Grundschule besucht.

Die BF1 und der BF2 sind in Kabul geboren und haben während ihrer Zeit in Afghanistan ausschließlich dort gelebt. Beide sind ca. im Jahr 2000 mit ihren jeweiligen Familien in den Iran gezogen, wo sie geheiratet haben. Der BF2 hat im Iran als Schneider gearbeitet. Die BF3 ist im Jahr 2005 und der BF4 im Jahr 2010 im Iran geboren. Aufgrund der Probleme wegen der fehlenden Aufenthaltsberechtigung im Iran und aufgrund des Umstandes, dass die BF3 dort nicht in die Schule gehen durfte, ging die Familie ca. 2012 nach Afghanistan zurück.

Die Muttersprache der BF ist Dari. Die BF3 verfügt inzwischen über sehr gute Deutschkenntnisse.

Ende 2015 haben die BF Afghanistan Richtung Europa verlassen.

Der BF5 ist im Jahr 2017 in Österreich geboren.

Die BF1 und der BF2 sind bestrebt, in Österreich so bald wie möglich eine Beschäftigung aufzunehmen, wobei sie bevorzugt einen Beruf im Zusammenhang mit ihren bereits früher im Iran bzw. in Afghanistan ausgeübten Tätigkeiten als Konditorin/Bäckerin bzw. als Schneider anstreben. Sie sind aber auch bereit, einer anderen Berufstätigkeit nachzugehen, wenn sich eine Möglichkeit dazu ergibt.

Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten

Bei der BF1 handelt es sich um eine selbständige Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise mittlerweile an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist.

Bei der BF3 handelt es sich um ein junges, selbständiges Mädchen, das in seiner Wertehaltung und seiner Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist.

Die BF1 und die BF3 leben in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition und lehnen die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Sie würden im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frauen angesehen werden.

Der BF1 und der BF3 droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer Wertehaltung eine Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen. Vom afghanischen Staat können sie keinen effektiven Schutz erwarten.

Für die BF besteht in Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat

1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, in der Fassung vom 04.06.2019:

Politische Lage (Verfassung):

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Sicherheitslage (Allgemein):

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019 (1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (UNAMA 24.4.2019).

Diese Verringerung wurde durch einen Rückgang der Zahl ziviler Opfer von Selbstmordanschlägen mit IED (Improvised Explosive Devices - unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung/Sprengfallen) verursacht. Der Quelle zufolge könnten die besonders harten Winterverhältnisse in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 zu diesem Trend beigetragen haben. Es ist unklar, ob der Rückgang der zivilen Opfer wegen Maßnahmen der Konfliktparteien zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung oder durch die laufenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien beeinflusst wurde (UNAMA 24.4.2019).

Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (UNAMA 24.4.2019).

Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 24.4.2019).

Nach dem Taliban-Angriff auf Ghazni-Stadt im August 2018, bestand weiterhin die Befürchtung, dass die Taliban großangelegte Angriffe im Südosten des Landes verüben könnten. Dies war zwar nicht der Fall, dennoch setzten Talibankämpfer die afghanischen Sicherheitskräfte am Stadtrand von Ghazni, in Distrikten entlang des Highway One nach Kabul und durch die Einnahme des Distrikts Andar in Ghazni im Oktober weiterhin unter Druck. Im Westen der Provinz Ghazni, wo die ethnische Gruppierung der Hazara eine Mehrheit bildet, verschlechterten sich die Sicherheitsbedingungen wegen großangelegter Angriffe der Taliban, was im November zur Vertreibung zahlreicher Personen führte. In Folge eines weiteren Angriffs der Taliban im Distrikt Khas Uruzgan der Provinz Uruzgan im selben Monat wurden ebenfalls zahlreiche Hazara-Familien vertrieben. Des Weiteren nahmen Talibankämpfer in verschiedenen Regionen vorübergehend strategische Positionen entlang der Hauptstraßen ein und behinderten somit die Bewegungsfreiheit zwischen den betroffenen Provinzen. Beispiele dafür sind Angriffe entlang Hauptstraßen nach Kabul in den Distrikten Daymirdad und Sayyidabad in Wardak, der Route Mazar - Shirbingham und Maimana - Andkhoy in den nördlichen Provinzen Faryab, Jawzjan und Balkh und der Route Herat - Qala-e-Naw im westlichen Herat und Badghis (UNGASC 7.12.2018). Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 gemäß SIGAR die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.1.2019).

Im Laufe des Wahlregistrierungsprozesses und während der Wahl am 20. und am 21. Oktober wurden zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die Taliban und den Islamischen Staat - Provinz Khorasan (ISKP) beansprucht wurden (UNGASC 7.12.2018; vgl. UNAMA 10.10.2018, UNAMA 11.2018). Während der Wahl in der Provinz Kandahar, die wegen Sicherheitsbedenken auf den 27. Oktober verschoben worden war, wurden keine sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Die afghanischen Sicherheitskräfte entdeckten und entschärften einige IED [Improvised Explosive Devices - Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen] in Kandahar-Stadt und den naheliegenden Distrikten (UNAMA 11.2018). Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hatte zwischen 1.1.2018 und 30.9.2018 im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen insgesamt 366 zivile Opfer (126 Tote und 240 Verletzte) registriert (UNAMA 10.10.2018). Am offiziellen Wahltag, dem 20. Oktober, wurden 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) registriert, darunter 117 Kinder (21 Tote und 96 Verletzte) und 48 Frauen (2 Tote und 46 Verletzte). Am folgenden Wahltag, dem 21. Oktober, wurden 47 weitere zivile Opfer (4 Tote und 43 Verletzte) verzeichnet, inklusive 17 Kinder (2 Tote und 15 Verletzte) und Frauen (3 Verletzte). Diese Zahlen beinhalten auch Opfer innerhalb der Afghan National Police (ANP) und der Independet Electoral Commission (IEC) (UNAMA 11.2018). Die am 20. Oktober am meisten von sicherheitsrelevanten Vorfällen betroffenen Städte waren Kunduz und Kabul. Auch wenn die Taliban in den von ihnen kontrollierten oder beeinflussten Regionen die Wählerschaft daran hinderten, am Wahlprozess teilzunehmen, konnten sie die Wahl in städtischen Gebieten dennoch nicht wesentlich beeinträchtigen (trotz der hohen Anzahl von Sicherheitsvorfällen) (UNGASC 7.12.2018).

Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst - laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 22.10.2018 53,8% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9% der Distrikte sind umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Der ISKP ist weiterhin im Osten des Landes präsent und bekennt sich zu Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen in Nangarhar und zu sechs Angriffen in Kabul-Stadt. Des Weiteren finden in den Provinzen Nangarhar und Kunar weiterhin Kämpfe zwischen ISKP- und Talibankämpfern statt. Die internationalen Streitkräfte führten Luftangriffe gegen den ISKP in den Distrikten Deh Bala, Achin, Khogyani, Nazyan und Chaparhar der Provinz Nangarhar aus (UNGASC 7.12.2018).

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte), eine allgemeine Steigerung von 5% sowie eine Steigerung der Zahl der Toten um 11% gegenüber dem Vorjahreswert. 42% der zivilen Opfer (4.627 Opfer;

1.361 Tote und 3.266 Verletzte) wurden durch IED im Zuge von Anschlägen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich ISKP) verursacht. Die Anzahl der Selbstmordanschläge unter Einsatz von IED stieg dabei um 22% und erreichte somit einen Rekordwert. Diese Art von Anschlägen verursachte 26% aller zivilen Opfer, während IED, die bei Nichtselbstmordanschlägen verwendet wurden, 16% der zivilen Opfer forderten. Kabul war mit insgesamt 1.866 Opfern (596 Tote und 1.270 Verletzte) die Provinz mit der höchsten Anzahl an Selbstmordanschlägen durch IED, während die Zahl der Opfer in Nangarhar mit insgesamt 1.815 (681 Tote und 1.134 Verletzte) zum ersten Mal fast die Werte von Kabul erreichte (hauptsächlich wegen des Einsatzes von IED bei Nichtselbstmordanschlägen). Kabul-Stadt verzeichnete insgesamt 1.686 zivile Opfer (554 Tote und 1.132 Verletzte) wegen komplexen und Selbstmordangriffen (UNAMA 24.2.2019).

Zusammenstöße am Boden (hauptsächlich zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Gruppierungen) verursachten 31% der zivilen Opfer (insgesamt 3.382; davon 814 Tote und 2.568 Verletzte), was einen Rückgang um 3% im Vergleich mit dem Vorjahreswert bedeutet. Grund dafür war der Versuch regierungsfreundlicher Gruppierungen, die zivile Bevölkerung zu schonen. Die Verlagerung der Kämpfe in dünn besiedelte Gebiete, die Vorwarnung der lokalen Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen und die Implementierung von Strategien zum Schutz der Bevölkerung waren einige der bestimmenden Faktoren für den Rückgang bei zivilen Opfern. Jedoch ist die Opferzahl bei gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichteten komplexen Angriffen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen gestiegen (plus 48% gegenüber 2017; 4.125 Opfer insgesamt, davon 1.404 Tote und 2.721 Verletzte). Sowohl der ISKP als auch die Taliban griffen gezielt Zivilisten an: Der ISKP war für 1.871 zivile Opfer verantwortlich, darunter waren u.a. Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft, und die Taliban für 1.751. Obwohl die Gesamtzahl der zivilen Opfer durch gezielte Tötungen von Einzelpersonen (hauptsächlich durch Erschießung) zurückging, blieben Zivilisten inklusive religiöser Führer und Stammesältester weiterhin Ziele regierungsfeindlicher Gruppierungen. Die Gesamtzahl der durch Luftangriffe verursachten zivilen Opfer stieg im Vergleich mit dem Vorjahreswert um 61% und die Zahl der Todesopfer erreichte 82%. 9% aller zivilen Opfer wurden Luftangriffen (mehrheitlich der internationalen Luftwaffe) zugeschrieben, der höchste Wert seit 2009 (UNAMA 24.2.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen waren im UNAMA-Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) für 6.980 zivile Opfer (2.243 Tote und 4.737 Verletzte) verantwortlich. Das entspricht 63% der gesamten zivilen Opfer. 37% davon werden den Taliban, 20% dem ISKP und 6% unbestimmten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben. Im Laufe des Jahres 2018 wurden vermehrt Anschläge gegen Bildungseinrichtungen verzeichnet, meist durch Talibankämpfer, da in Schulen Registrierungs- und Wahlzentren untergebracht waren. Der ISKP attackierte und bedrohte Bildungseinrichtungen als Reaktion auf militärische Operationen afghanischer und internationaler Streitkräfte. UNAMA berichtet auch über anhaltende Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, welche Auswirkungen auf einen Großteil der zivilen Bevölkerung haben. Trotzdem die Taliban nach eigenen Angaben Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen haben, attackierten diese weiterhin Zivilisten, zivile Einrichtungen und regierungsfreundliche Gruppierungen in Zivilgebieten (UNAMA 24.2.2019).

Ungefähr 24% der zivilen Opfer (2.612, davon 1.185 Tote und 1.427 Verletzte), werden regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben: 14% den afghanischen Sicherheitskräften, 6% den internationalen Streitkräften und 4% unbestimmten regierungsfreundlichen Gruppierungen. Die Steigerung um 4% gegenüber dem Vorjahr geht auf Luftangriffe der internationalen Streitkräfte und Fahndungsaktionen der afghanischen Sicherheitskräfte und regierungsfreundlicher Gruppierungen zurück (UNAMA 24.2.2019).

Die verbleibenden 13% der verzeichneten zivilen Opfer wurden im Kreuzfeuer während Zusammenstößen am Boden (10%), durch Beschuss aus Pakistan (1%) und durch die Explosion von Blindgängern verursacht (UNAMA 24.2.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden:

das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).

Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen - insbesondere die Taliban - ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017).

Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören u.a. die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (SIGAR 1.2018).

Außerdem haben Militäroperationen der pakistanischen Regierung einige Zufluchtsorte Aufständischer zerstört. Jedoch genießen bestimmte Gruppierungen, wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk Bewegungsfreiheit in Pakistan (USDOD 12.2017). Die Gründe dafür sind verschiedene: das Fehlen einer Regierung, das permissive Verhalten der pakistanischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsamen kommunalen Bindungen über die Grenze und die zahlreichen illegalen Netzwerke, die den Aufständischen Schutz bieten (AAN 17.10.2017).

Rechtsschutz/Justizwesen:

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. (Casolino 2011). Die wichtigste religiöse Institution des Landes ist der Ulema-Rat (Afghan Ulama Council - AUC, Shura-e ulama-e afghanistan, Anm.), eine nationale Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. den Präsidenten in islamrechtlichen Angelegenheiten berät und Einfluss auf die Rechtsformulierung und die Auslegung des existierenden Rechts hat (USDOS 15.8.2017; vgl. AB 7.6.2017, AP o.D.).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.:

Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (NYT 26.12.2015; vgl. AP o.D.).

Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen, einschließlich Menschenrechtsverträge, vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (AP o.D.; vgl. vertrauliche Quelle 10.4.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle als auch das islamische Recht anzuwenden (AP o.D.).

Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten umgesetzt. Die Umsetzung der rechtlichen Bestimmungen ist innerhalb des Landes uneinheitlich. Dem Gesetz nach gilt für alle Bürger/innen die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Bürger/innen sind bzgl. ihrer Verfassungsrechte oft im Unklaren und es ist selten, dass Staatsanwälte die Beschuldigten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informieren. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt, sich von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt (USDOS 20.4.2018). In Afghanistan existieren keine Strafverteidiger nach dem westlichen Modell; traditionell dienten diese nur als Mittelsmänner zwischen der anklagenden Behörde, dem Angeklagten und dem Gericht. Seit 2008 ändert sich diese Tendenz und es existieren Strafverteidiger, die innerhalb des Justizministeriums und auch außerhalb tätig sind (NYT 26.12.2015). Der Zugriff der Anwälte auf Verfahrensdokumente ist oft beschränkt (USDOS 3.3.2017) und ihre Stellungnahmen werden während der Verfahren kaum beachtet (NYT 26.12.2015). Berichten zufolge zeigt sich die Richterschaft jedoch langsam respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern (USDOS 20.4.2018).

Gemäß einem Bericht der New York Times über die Entwicklung des afghanischen Justizwesens wurden im Land zahlreiche Fortbildungskurse für Rechtsgelehrte durch verschiedene westliche Institutionen durchgeführt. Die Fortbildenden wurden in einigen Fällen mit bedeutenden Aspekten der afghanischen Kultur (z. B. Respekt vor älteren Menschen), welche manchmal mit der westlichen Orientierung der Fortbildenden kollidierten, konfrontiert. Auch haben Strafverteidiger und Richter verschiedene Ausbildungshintergründe: Während Strafverteidiger rechts- und politikwissenschaftliche Fakultäten besuchen, studiert der Großteil der Richter Theologie und islamisches Recht (NYT 26.12.2015).

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll (USIP 3.2015; vgl. USIP o.D.). Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht. Dazu zählen unter anderem das Frauenrecht, Strafrecht und -verfahren, die Verbindlichkeit von Rechten gemäß internationalem Recht und der gesamte Bereich der Grundrechte (USIP o. D.).

Laut dem allgemeinen Islamvorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Trotz großer legislativer Fortschritte in den vergangenen 14 Jahren gibt es keine einheitliche und korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht) (AA 9.2016; vgl. USIP o.D., NYT 26.12.2015, WP 31.5.2015, AA 5.2018). Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, so ist nicht festgelegt, welches Gesetz im Fall eines Konflikts zwischen dem traditionellen islamischen Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und eine fehlende Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen (AA 5.2018).

Das kodifizierte Recht wird unterschiedlich eingehalten, wobei Gerichte gesetzliche Vorschriften oft zugunsten der Scharia oder lokaler Gepflogenheiten missachteten. Bei Angelegenheiten, wo keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht (welches auch nicht einheitlich ist, Anm.) durch (USDOS 20.4.2018).

Gemäß dem "Survey of the Afghan People" der Asia Foundation (AF) nutzten in den Jahren 2016 und 2017 ca. 20.4% der befragten Afghan/innen nationale und lokale Rechtsinstitutionen als Schlichtungsmechanismen. 43.2% benutzten Schuras und Jirgas, während 21.4% sich an die Huquq-Abteilung [Anm.: "Rechte"-Abteilung] des Justizministeriums wandten. Im Vergleich zur städtischen Bevölkerung bevorzugten Bewohner ruraler Zentren lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Schuras und Jirgas (AF 11.2017; vgl. USIP o.D., USDOS 20.4.2018). Die mangelnde Präsenz eines formellen Rechtssystems in ruralen Gebieten führt zur Nutzung lokaler Schlichtungsmechanismen. Das formale Justizsystem ist in den städtischen Zentren relativ stark verankert, da die Zentralregierung dort am stärksten ist, während es in den ländlichen Gebieten - wo ungefähr 76% der Bevölkerung leben - schwächer ausgeprägt ist (USDOS 3.3.2017; vgl. USDOS 20.4.2018). In einigen Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle setzen die Taliban ein paralleles auf der Scharia basierendes Rechtssystem um (USDOS 20.4.2018).

Die Unabhängigkeit des Justizwesens ist gesetzlich festgelegt; jedoch wird die afghanische Judikative durch Unterfinanzierung, Unterbesetzung, inadäquate Ausbildung, Unwirksamkeit und Korruption unterminiert (USDOS 20.4.2018). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent angewandt (AA 9.2016). Dem Justizsystem mangelt es weiterhin an der Fähigkeit die hohe Anzahl an neuen und novellierten Gesetzen einzugliedern und durchzuführen. Der Zugang zu Gesetzestexten wird zwar besser, ihre geringe Verfügbarkeit stellt aber für einige Richter/innen und Staatsanwälte immer noch eine Behinderung dar. Die Zahl der Richter/innen, welche ein Rechtsstudium absolviert haben, erhöht sich weiterhin (USDOS 3.3.2017). Im Jahr 2017 wurde die Zahl der Richter/innen landesweit auf 1.000 geschätzt (CRS 13.12.2017), davon waren rund 260 Richterinnen (CRS 13.12.2017; vgl. AT 29.3.2017). Hauptsächlich in unsicheren Gebieten herrscht ein verbreiteter Mangel an Richtern und Richterinnen. Nachdem das Justizministerium neue Richterinnen ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen in unsichere Provinzen versetzen wollte und diese protestierten, beschloss die Behörde, die Richterinnen in sicherere Provinzen zu schicken (USDOS 20.4.2018). Im Jahr 2015 wurde von Präsident Ghani eine führende Anwältin, Anisa Rasooli, als erste Frau zur Richterin des Obersten Gerichtshofs ernannt, jedoch wurde ihr Amtsantritt durch das Unterhaus [Anm.: "wolesi jirga"] verhindert (AB 12.11.2017; vgl. AT 29.3.2017). Auch existiert in Afghanistan die "Afghan Women Judges Association", ein von Richterinnen geführter Verband, wodurch die Rechte der Bevölkerung, hauptsächlich der Frauen, vertreten werden sollen (TSC o.D.).

Korruption stellt weiterhin ein Problem innerhalb des Gerichtswesens dar (USDOS 20.4.2017; vgl. FH 11.4.2018); Richter/innen und Anwält/innen sind oftmals Ziel von Bedrohung oder Bestechung durch lokale Anführer oder bewaffnete Gruppen (FH 11.4.2018), um Entlassungen oder Reduzierungen von Haftstrafen zu erwirken (USDOS 20.4.2017). Wegen der Langsamkeit, der Korruption, der Ineffizienz und der politischen Prägung des afghanischen Justizwesens hat die Bevölkerung wenig Vertrauen in die Judikative (BTI 2018). Im Juni 2016 errichtete Präsident Ghani das "Anti-Corruption Justice Center" (ACJC), um innerhalb des Rechtssystems gegen korrupte Minister/innen, Richter/innen und Gouverneure/innen vorzugehen, die meist vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt waren (AB 17.11.2017; vgl. Reuters 12.11.2016). Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen (BTI 2018). Seit 1.1.2018 ist Afghanistan für drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.2.2018).

Haftbedingungen:

Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), ist verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) des Justizministeriums ist verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren. Das National Directorate of Security (NDS) unter den Afghan National Security Forces (ANDSF) ist für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Bezirksebene verantwortlich. Das Verteidigungsministerium (MoD) betreibt die afghanischen nationalen Haftanstalten in Parwan. Berichten zufolge verwalten Mitglieder der ANDSF private Gefängnisse, in denen Gefangene misshandelt werden (USDOS 20.4.2018). Die Haftbedingungen in Afghanistan entsprechen nicht den internationalen Standards. Es gibt Berichte über Misshandlungen in Gefängnissen. Vor allem Frauen und Kinder werden häufig Opfer von Misshandlungen (AA 5.2018).

Wegen der Überbelegung, den unhygienischen Verhältnissen und dem begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung sind die Haftbedingungen in afghanischen Gefängnissen schwierig. Es herrscht ein Mangel an separaten Einrichtungen für Untersuchungs- und Strafhäftlinge. Lokale Gefängnisse und Haftanstalten haben nicht immer getrennte Einrichtungen für weibliche Gefangene. Überbelegung ist weiterhin ein ernstes, verbreitetes Problem: Gemäß den empfohlenen Standards des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) waren 28 von 34 Gefängnissen für Männer stark überbelegt. Mit Stand Juni 2017 befanden sich im Pul-e-Charkhi-Gefängnis, der größten Vollzugsanstalt des Landes, 11.527 Gefangene, darunter u.a. Kinder von inhaftierten Müttern, was doppelt so viel war wie vorgesehen (USDOS 20.4.2018). Schätzungen zufolge leben über 300 Kinder in afghanischen Gefängnissen, ohne selbst eine Straftat begangen zu haben. Ab einem Alter von fünf Jahren ist es möglich, die Kinder in ein Heim zu transferieren. Allerdings gibt es diese Heime nicht in jeder Provinz. Die wenigen existierenden Heime sind überfüllt. Zusätzlich müssen die Mütter einem Transfer der Kinder in ein Heim zustimmen (AA 5.2018).

Der Zugang zu Nahrung, Trinkwasser, sanitären Anlagen, Heizung, Lüftung, Beleuchtung und medizinischer Versorgung in den Gefängnissen ist landesweit unterschiedlich und im Allgemeinen unzureichend. Einigen Quellen zufolge ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser in Gefängnissen des GDPCD hingegen ausreichend. Nichtsdestotrotz ist das Budget für das nationale Ernährungsprogramm von Häftlingen des GDPDC sehr limitiert. Daher müssen Familienangehörige oft für die notwendigen Nahrungsergänzungsmittel usw. aufkommen (USDOS 20.4.2018).

Im Oktober 2015 unterzeichneten das Gesundheitsministerium (MoPH) und das Innenministerium eine gemeinsame Absichtserklärung zur Erbringung von Gesundheitsdiensten in Gefängnissen und Haftanstalten landesweit. Das Dokument beschreibt die Zuständigkeiten beider Ministerien bzgl. der Gewährleistung von Zugang zu angemessenen, kostenlosen Gesundheitsdienstleistungen und regelmäßigen Untersuchungen durch qualifizierte medizinische Fachkräfte. Einem Bericht der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) über medizinische Dienste in den afghanischen Gefängnissen zufolge bot ein Großteil der von UNAMA besuchten Strafvollzugsanstalten des NDS die Möglichkeit, grundlegende medizinische Untersuchungen und Behandlungen der Gefangenen durchzuführen, obwohl es kein Abkommen zwischen MoPH und NDS gab. Einige vom NDS betriebene Einrichtungen hatten gut ausgestattete Kliniken und andere konnten hingegen nur grundlegende medizinische Versorgungsdienste gewährleisten (UNAMA 3.2016).

Beobachter berichten über landesweit vorkommende willkürliche, längere Inhaftierungen. Dabei bleiben die Inhaftierten oft über die gegen sie erhobene Anklage im Unklaren. Garantien wie Rechtsberatung, die Nutzung von Haftbefehlen und die zeitliche Begrenzung des Gewahrsams ohne Anklageerhebung, sind zwar vom Gesetz vorgesehen, werden jedoch nicht immer eingehalten. Auch gewährt das Gesetz einem Angeklagten das Recht, gegen die Untersuchungshaft Einspruch zu erheben und ein Gerichtsverfahren zu beantragen. Nichtsdestotrotz stellt die lange Untersuchungshaft weiterhin ein Problem dar. Aufgrund fehlender Ressourcen, einer geringen Anzahl an Verteidigern, unerfahrenen Rechtsanwälten sowie Korruption profitierten viele Inhaftierte nicht von allen Bestimmungen der Strafprozessordnung. Viele Häftlinge werden trotz der rechtlichen Bestimmungen über die gesetzliche Frist hinaus festgehalten, selbst wenn es keine Anklage gibt (USDOS 20.4.2018).

Häftlinge sind gesetzlich dazu berechtigt, bis zu 20 Tage das Gefängnis zu verlassen, um Familienbesuche abzustatten; jedoch setzen zahlreiche Justizvollzugsanstalten diese Vorschriften nicht um. Des Weiteren ist die Zielgruppe des Gesetzes nicht klar definiert (USDOS 20.4.2018).

Einem Bericht über die Haftbedingungen in Afghanistan zwischen Jänner 2015 und Dezember 2016 zufolge berichteten 39% der Befragten, dass sie während der Verhaftung oder des Gewahrsams in verschiedenen Strafvollzugsanstalten des NDS oder der ANP gefoltert bzw. misshandelt geworden würden (HRC 21.2.2018). Trotz des rechtlich verankerten Folterverbots wird von Foltervorfällen durch die afghanischen Sicherheitskräfte und andere Akteure bis hin zur Entourage des ersten Vizepräsidenten, des Generals Abdul Rashid Dostum, berichtet (HRW 2018; vgl. USDOS 20.4.2018).

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sind gesetzlich verboten; trotzdem werden beide Praktiken weiterhin betrieben. Diese stellen in den meisten Provinzen ein Problem dar. Beobachtern zufolge werden Personen gelegentlich von Polizei und Staatsanwälten auf Basis von Handlungen, die nach afghanischem Recht nicht strafbar sind, ohne Anklage inhaftiert. Teilweise auch deshalb, weil das Justizsystem nicht in der Lage ist, in angemessener Zeit einen Strafprozess abzuwickeln (USDOS 20.4.2018). Die UNAMA berichtete von Verhaftungen wegen Verstößen gegen die Moral, Vertragsbruch, Familiendisputen und zum Zwecke des Erhalts von Geständnissen. Beobachter berichten, dass oft Frauen für "moralische" Vergehen inhaftiert werden (USDOS 20.4.2018; vgl. BTI 2018). Die angekündigten Reformen u.a. zur Beendigung der unwissenschaftlichen und missbräuchlichen Jungfräulichkeitsuntersuchungen bei inhaftierten Frauen wurden nicht durchgeführt (HRW 2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Oft werden Frauen wegen versuchter zina [Anm.: Ehebruch] angeklagt, um Verhaftungen wegen Verstöße gegen die Sitten, wie das Davonlaufen von Zuhause, die Ablehnung designierter Ehemänner, die Flucht vor häuslicher Gewalt usw. rechtlich zu legitimieren. Einige Frauen, die Missbräuche anzeigen, werden verhaftet und anstelle von verurteilten Familienmitgliedern eingesperrt in der Annahme, dass diese sich stellen würden, um die Freilassung der Frau zu bewirken. In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (USDOS 20.4.2018).

Todesstrafe:

Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen (AA 5.2018). Das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, sieht die Todesstrafe für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen usw. vor (MoJ 15.5.2017: Art. 170). Die Todesstrafe wird vom zuständigen Gericht ausgesprochen und vom Präsidenten genehmigt (MoJ 15.5.2017: Art. 169). Sie wird durch Erhängen ausgeführt (AA 5.2018).

Die Anzahl der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen wurde durch den neuen Kodex signifikant reduziert (HRC 21.2.2018). So ist bei einigen Straftaten statt der Todesstrafe nunmehr lebenslange Haft vorgesehen (AI 22.2.2018).

Unter dem Einfluss der Scharia hingegen droht die Todesstrafe auch bei anderen Delikten (z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch). Berichten zufolge wurden im Jahr 2017 elf Menschen zu Tode verurteilt (AA 5.2018). Im November 2017 wurden fünf Männer im Pul-e-Charki-Gefängnis hingerichtet (AI 22.2.2018; vgl. HRC 21.2.2018). Des Weiteren fand am 28.1.2018 die Hinrichtung von drei Menschen statt. Alle wurden aufgrund von Entführungen und Mord zum Tode verurteilt. Zuvor wurden 2016 sechs Terroristen hingerichtet (AA 5.2018). Im Zeitraum 1.1 - 30.11.2017 befanden sich weiterhin 720 Person im Todestrakt (HRC 21.2.2018).

In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig geltenden Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahlungen freikommen können. Obwohl Präsident Ghani sich zwischenzeitlich positiv zu einem möglichen Moratorium zur Todesstrafe geäußert hat und Gesetzesvorhaben auf dem Weg sind, die die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, ist davon auszugehen, dass weiter Todesurteile vollstreckt werden (AA 5.2018).

Allgemeine Menschenrechtslage:

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen (AA 5.2018).

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen (u. a. von Frauen wegen "moralischer Straftaten") und sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Weitere Probleme sind Gewalt gegenüber Journalisten, Verleumdungsklagen, durchdringende Korruption und fehlende Verantwortlichkeit und Untersuchung bei Fällen von Gewalt gegen Frauen. Diskriminierung von Behinderten, ethnischen Minderheiten sowie aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht und sexueller Orientierung, besteht weiterhin mit geringem Zuschreiben von Verantwortlichkeit. Die weit verbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Straffreiheit derjenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sind ernsthafte Probleme. Missbrauchsfälle durch Beamte, einschließlich der Sicherheitskräfte, werden von der Regierung nicht konsequent bzw. wirksam verfolgt. Bewaffnete aufständi

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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