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40/01 VerwaltungsverfahrenNorm
AVG §45 Abs2Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der F M, vertreten durch Dr. Gerhard Hackenberger, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Kaiserfeldgasse 27/DG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. November 2018, I404 2121550-2/5E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin ist Staatsangehörige von Sierra Leone und stellte am 28. Mai 2015 ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet, welchen sie im Wesentlichen damit begründete, dass sie durch die Nachbarschaft ausgegrenzt und stigmatisiert worden sei, weil man geglaubt habe, ihr Ehemann sei aufgrund einer Ebola-Erkrankung gestorben. Dieser Antrag wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Beschwerdeverfahren rechtskräftig zur Gänze abgewiesen, weiters wurde der Revisionswerberin kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt, gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Sierra Leone zulässig sei, und eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
2 Am 16. Mai 2018 stellte die Revisionswerberin den verfahrensgegenständlichen (Folge)Antrag auf internationalen Schutz. Zu dessen Begründung brachte sie zusammengefasst vor, der Bruder ihres verstorbenen Mannes habe mittlerweile eine Anzeige gegen sie erstattet, weil er sie für den Tod seines Bruders verantwortlich mache. Im Jänner 2018 sei deswegen ein Haftbefehl gegen die Revisionswerberin erlassen worden. Nunmehr fürchte sie, zu Unrecht inhaftiert oder von ihrem Schwager getötet zu werden. Zur Untermauerung ihres Vorbringens legte die Revisionswerberin den Haftbefehl, die Sterbeurkunde ihres Mannes, ein Gerichtssowie ein Magistratsschreiben und ein Schreiben eines Anwalts vor. 3 Mit Bescheid vom 18. Oktober 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Folgeantrag der Revisionswerberin gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung gegen die Revisionswerberin und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Sierra Leone zulässig sei. Weiters hielt die Behörde fest, dass gemäß § 55 Abs. 1a Fremdenpolizeigesetz 2005 keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe und erließ gegen die Revisionswerberin ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot.
4 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig. 5 Begründend führte es aus, dass kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt vorliege. Dem neuen Vorbringen, wonach der Revisionswerberin im Herkunftsstaat die Ermordung durch ihren Schwager oder eine Inhaftierung drohe, habe das BFA zutreffend einen "glaubhaften Kern" abgesprochen. Auch das BVwG betrachte dieses als zu wenig substantiiert. Den diesbezüglich vorgelegten Beweismitteln habe das BFA zu Recht den Beweiswert abgesprochen, weil diese im Herkunftsstaat leicht zu fälschen seien. Auch eine wesentliche Lageänderung im Herkunftsstaat sei nicht ersichtlich.
6 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision. In der Zulässigkeitsbegründung macht die Revisionswerberin zusammengefasst geltend, das BVwG weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, indem es die tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt in seiner Entscheidung nicht offengelegt und somit seine Begründungspflicht verletzt habe. Das BVwG verneine nämlich das Vorliegen entscheidungsrelevanter neuer Tatsachen, ohne sich näher mit dem Vorbringen der Revisionswerberin auseinandergesetzt zu haben. Der bloß allgemeine Verweis, wonach die von der Revisionswerberin vorgelegten Beweismittel gefälscht werden könnten, entspreche keiner ordnungsgemäßen Begründung. Ebenso wenig reiche es für eine tragfähige Begründung aus, dem Vorbringen mangelnde Substantiiertheit zu unterstellen, ohne dies näher auszuführen.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
9 "Sache" des Beschwerdeverfahrens vor dem BVwG war die Frage,
ob die Zurückweisung der verfahrenseinleitenden Anträge durch die erstinstanzliche Behörde gemäß § 68 Abs. 1 AVG zu Recht erfolgte. Das BVwG hatte dementsprechend zu prüfen, ob die Behörde aufgrund des von ihr zu berücksichtigenden Sachverhalts zu Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen ersten Asylverfahren keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist (vgl. VwGH 12.7.2017, Ra 2017/18/0220 bis 0224, mwN). Bei wiederholten Anträgen auf internationalen Schutz kann nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhalts die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung - nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen - berechtigen und verpflichten, der rechtlich für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen Relevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen "glaubhaften Kern" aufweisen, dem Relevanz zukommt (vgl. VwGH 12.10.2016, Ra 2015/18/0221, mwN).
10 Im gegenständlichen Fall erstattete die Revisionswerberin neues Vorbringen, wonach sie nunmehr von ihrem Schwager angezeigt worden sei und ihr eine Inhaftierung drohe, welchem das BFA und in der Folge auch das BVwG einen glaubhaften Kern absprachen. Den durch die Revisionswerberin vorgelegten Dokumenten komme kein Beweiswert zu, weil solche im Herkunftsstaat leicht zu fälschen seien.
11 Mit dieser Begründung wird das BVwG der Anforderung einer ausreichenden Überprüfung der behaupteten Geschehnisse daraufhin, ob sie einen "glaubhaften Kern" aufwiesen, nicht gerecht. 12 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt festgehalten, dass ein bloß allgemeiner Verdacht nicht genügt, um im Verfahren vorgelegten Urkunden generell den Beweiswert abzusprechen (vgl. VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0356; 4.8.2016, Ra 2016/21/0083, jeweils mwN). Zum anderen darf nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die "freie Beweiswürdigung" gemäß § 45 Abs. 2 AVG (hier iVm § 17 VwGVG) erst nach einer vollständigen Beweiserhebung durch die Behörde einsetzen; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert eines Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. VwGH 18.1.2017, Ra 2016/18/0197, mwN).
13 Diese Vorgabe hat das BVwG fallbezogen missachtet, indem es pauschal davon ausging, dass den vorgelegten Urkunden keine Beweiskraft zukomme, weil Dokumente in Sierra Leone leicht zu fälschen seien, ohne sich im Einzelnen mit dem Beweiswert der konkret vorgelegten Urkunden auseinanderzusetzen und deren Beweiskraft fallspezifisch zu ermitteln (vgl. erneut VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0356).
14 Soweit das BVwG einen glaubhaften Kern weiters aufgrund des Umstands verneinte, dass die Angaben der Revisionswerberin "zu keinem Zeitpunkt genügend substantiiert" gewesen seien, vermag dies ebenso wenig einen nachvollziehbaren Argumentationsstrang darzustellen, weil sich aus dem angefochtenen Erkenntnis - über die bloße Behauptung hinaus - nicht ergibt, weshalb das BVwG das neu erstattete Vorbringen der Revisionswerberin als nicht substantiiert erachtete (vgl. zur Begründungspflicht allgemein etwa VwGH 27.6.2017, Ra 2016/18/0277, mit zahlreichen Nachweisen aus der hg. Rechtsprechung).
15 Da nicht ausgeschlossen ist, dass die behaupteten neuen Tatsachen, gemessen an der dem Erkenntnis des BVwG zu Grunde liegenden Berichtslage zu den teils lebensbedrohlichen Haftbedingungen in Sierra Leone, zu einem anderen Verfahrensergebnis führen, bedarf es im fortgesetzten Verfahren einer detaillierteren Auseinandersetzung mit der Glaubwürdigkeit des Vorbringens und den in diesem Zusammenhang vorgelegten Dokumenten.
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
17 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20
14.
Wien, am 10. Jänner 2020
Schlagworte
Beweismittel UrkundenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180026.L00Im RIS seit
18.02.2020Zuletzt aktualisiert am
18.02.2020