TE Bvwg Erkenntnis 2019/9/11 W203 2198379-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.09.2019
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Entscheidungsdatum

11.09.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W203 2198379-1/12E

Ausfertigung des am 01.08.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX , geb. am XXXX .2000, StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, Wattgasse 48/3, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.05.2018, Zl. 1100302408/152057290/BMI-BFA WIEN, zu Recht erkannt:

A)

I. Der Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 23.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 25.12.2015 wurde der Beschwerdeführer durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Erstbefragung unterzogen. Dabei gab er im Wesentlichen an, dass er am XXXX .2000 in der Provinz Ghazni geboren und ledig sei. Er gehöre der Volksgruppe der Hazara und der islamischen (schiitischen) Glaubensgemeinschaft an. Er habe keine Schul- oder Berufsausbildung absolviert und habe in Afghanistan zuletzt als Landwirtschaftshelfer gearbeitet. In Afghanistan würden noch seine Eltern sowie vier jüngere Schwestern und ein jüngerer Bruder des Beschwerdeführers leben. Befragt nach seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an: "Der Einfluss von den Taliban ist sehr groß dort wo ich lebe und es herrscht Krieg dort." Im Falle einer Rückkehr habe er "Angst um sein Leben" und fürchte, dass ihn "die Taliban wahrscheinlich umbringen werden".

3. Am 31.01.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Im Rahmen dieser Befragung gab er an, dass seine Mutter inzwischen verstorben sei und dass seine Kernfamilie seit nunmehr ca. 2 Jahren im Iran leben würde, da diese vor den Taliban aus Afghanistan geflohen sei. In seiner Heimat habe er als Hirte gearbeitet, aber auch "Fenster und Türen aus Metall gebaut", in einer "Kuchen-Fabrik" und als Automechaniker gearbeitet. Er habe sich mit dem Verdienst sein Leben finanzieren können, das verdiente Geld aber immer seinem Vater weitergegeben. Als Hirte habe er auf dem der Familie gehörenden Grundstück gearbeitet.

Nachdem zwei seiner Freunde umgebracht worden seien, habe er sich im Herbst 2015 relativ schnell entschlossen, das Land zu verlassen.

Gefragt nach seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an: "In unserer Umgebung gibt es Krieg. Zwei Freunde von mir wurden umgebracht. Viele Schiiten werden in Afghanistan von den ISIS und den Taliban [getötet]. Das war mein Problem." Nachgefragt durch die belangte Behörde, dass er auch "eine Vergewaltigung habe anklingen lassen", gab der Beschwerdeführer an, dass er im Alter von neun Jahren von einem Verwandten, den sie "Cousin" genannt hätten [Anmerkung: gemeint war offenbar der Sohn eines Cousins des Vaters des Beschwerdeführers], aufgefordert worden wäre, mit diesem zum Basar zu gehen. Als sie bei einem Teich vorbeigekommen wären, habe der "Cousin" mit dem Beschwerdeführer schwimmen gehen wollen. Als der Beschwerdeführer angedeutet habe, dass er nicht ins Wasser gehen wolle, habe er diesem die Hose "heruntergerissen" und ihn vergewaltigt. Der Beschwerdeführer habe sich gewehrt und geschrien, aber nicht genug Kraft gehabt, um den Übergriff abzuwehren. Außerdem sei er vom "Cousin" dauernd geschlagen worden.

An dieser Stelle der Niederschrift finden sich folgende Anmerkungen:

"Der AW ist ganz fertig und weint." "Aufgrund des emotionalen Zustandes des AW wird die Einvernahme unterbrochen und neu anberaumt".

4. Am 27.02.2018 wurde der Beschwerdeführer neuerlich von der belangten Behörde einvernommen. Dabei wiederholte er sein Fluchtvorbringen vom 31.01.2018 betreffend die erlittene Vergewaltigung und führte weiters aus, dass er sich sehr geschämt habe. Da ihn sein "Cousin" davor gewarnt habe, habe er zu Hause nichts von dem Vorfall erzählt. Als sein Vater nach Hause gekommen sei, sei dieser sehr böse gewesen und habe den Beschwerdeführer gefragt, warum er so blass im Gesicht wäre. Er habe ihn auch gefragt, warum er sich vom "Cousin" vergewaltigen habe lassen. Obwohl der Beschwerdeführer beteuert habe, dass er das nicht gewollt habe, sei er vom Vater geschlagen und aufgefordert worden, die Wahrheit zu sagen. Der Vater des Beschwerdeführers habe diesem nicht geglaubt, dass das Ganze gegen seinen Willen erfolgt sei und gemeint, dass der Beschwerdeführer die Ehre der Familie verletzt habe. Der Beschwerdeführer habe sich geschämt und sei die nächsten zwei bis drei Wochen nicht aus dem Haus gegangen. Danach habe ihn ein Freund schließlich doch dazu gebracht, das Haus zu verlassen um mit den anderen Buben Fußball zu spielen. Vor Beginn des Spiels habe ihn der Freund gefragt, was mit ihm los sei und ob das stimme, was man so über ihn höre. Obwohl der Beschwerdeführer beteuert habe, dass es sich beim Erzählten um Lügen handle, habe der Freund gemeint, er wisse über die Vergewaltigung Bescheid, dass dies aber mit dem Einverständnis des Beschwerdeführers geschehe wäre. Keiner der anwesenden Buben habe dem Beschwerdeführer geglaubt, woraufhin der Beschwerdeführer nicht selber beim Fußball mitgespielt, sondern nur den anderen dabei zugesehen habe. Als er nach Hause gekommen sei, habe ihn sein Vater nochmals geschlagen, wiederholt, dass der Beschwerdeführer "die Ehre der Familie gebrochen" habe und diesem aufgetragen, das Haus zu verlassen, um darüber nachzudenken, was er angestellt habe. Ein oder zwei Tage danach habe dessen Vater den Beschwerdeführer zu den Hirten des Dorfes gebracht, bei denen er die nächsten eineinhalb Jahre gearbeitet habe. Das sei eine sehr schwierige Zeit für den Beschwerdeführer gewesen. Einmal pro Monat sei er nach Hause gegangen und dabei jedes Mal von seinem Vater schikaniert worden. Daraufhin sei er die letzten vier bis fünf Monate seiner Zeit bei den Hirten gar nicht mehr nach Hause gegangen. Erst danach habe er sich wieder entschlossen, doch nach Hause zu gehen, weil er einerseits gehofft habe, dass sein Vater inzwischen vergessen habe und andererseits, weil ihm ein Freund mitgeteilt habe, dass ihn seine Mutter vermisse. Als ihn sein Vater weiterhin schikaniert und ihm vorgehalten habe, dass er nichts dazugelernt habe und abermals die Familienehre verletzten würde, habe sich der Beschwerdeführer im Stall verbrennen wollen, seine Mutter sei aber dazwischengekommen. Diese habe ihm gesagt, dass sie ihn liebe, und dass er schwören solle, so etwas nie wieder zu versuchen. Nach einiger Zeit habe sein Vater für den Beschwerdeführer eine Beschäftigung als "Tür- und Fenstermacher" gefunden, dort habe er ca. ein Jahr lang gearbeitet. Sein damaliger Arbeitgeber sei immer böse gewesen und habe den Beschwerdeführer geschlagen. Anschließend habe er ein paar Monate lang als Automechaniker gearbeitet. Auch dort habe der Chef alle geschlagen. Das selbe sei dem Beschwerdeführer auch bei den folgenden Tätigkeiten in einer Konditorei und als Schneider wiederfahren. Danach sei er wieder nach Hause gegangen, wo sein Vater nicht mehr mit dem Beschwerdeführer gesprochen habe. Er habe dann in der väterlichen Landwirtschaft mitgearbeitet. Er habe auch einen Freund gefunden, der aber nach ein paar Monaten von den Taliban getötet worden sei.

An dieser Stelle der Niederschrift findet sich folgende Anmerkung:

"Der [gemeint: dem] AW ist es während der Schilderung schwer gefallen sich aufgrund des emotionalen Zustandes sich auszudrücken und hat am ganzen Körper gezittert."

Nachgefragt, warum er die Vergewaltigung nicht schon bei der Erstbefragung geschildert habe, gab der Beschwerdeführer an: "Wie sollte ich davon berichten, wenn selbst mein Vater mir nicht geglaubt hat? Und ich habe mich auch geschämt."

Nachgefragt nach weiteren Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass es Krieg gegeben habe und dass er Angst vor allen Personen habe, die Waffen tragen würden. Er habe in Afghanistan niemanden mehr und die Schiiten würden in Afghanistan - ebenso wie sein Freund, der auch Schiite gewesen sei - getötet werden.

Der Beschwerdeführer gab weiters an, dass er in Österreich alleine und von der Grundversorgung lebe. Er gehe in das "Jugend College" und würde später einmal gerne Mechatronik studieren.

5. Am 23.03.2018 nahm der Jugendwohlfahrtsträger als Vertreter des Beschwerdeführers zu dessen Asylverfahren Stellung und führte dabei im Wesentlichen aus, dass es sich bei diesem um einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling handle, der in Afghanistan über keinerlei Familie und keinerlei soziales Netzwerk verfüge. Der Beschwerdeführer sei "schwer traumatisiert" und leide unter zahlreichen psychischen Erkrankungen als Folge der erlittenen Vergewaltigung und der daraus resultierenden Ächtung durch die Familie und die gesamte Dorfgemeinschaft wegen der ihm unterstellten homosexuellen Neigung.

Die Einvernahmen durch die belangte Behörde seien "nicht kindgerecht" durchgeführt und auf die schwere Traumatisierung des Beschwerdeführers sei vor allem im Hinblick auf die Fragetechnik keine Rücksicht genommen worden.

In der Stellungnahme wurde auch ausführlich auf die "Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan" eingegangen.

Der Stellungnahme wurde ein "Psychiatrischer Befundbericht" vom 19.03.2018 beigelegt, aus dem hervorgeht, dass sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des Erstkontaktes am 12.03.2018 in einem "psychisch sehr schlechten Zustand" befunden habe. Er habe von immer wiederkehrenden Flashbacks, Schlafstörungen mit Albträumen sowie Angstzuständen und depressiven Stimmungsschwankungen berichtet und er dürfte auch immer wieder dissoziieren. Aus fachärztlich-psychiatrischer Sicht bedürfe der Beschwerdeführer einer "engmaschigen Betreuung und Behandlung".

6. Mit Bescheid vom 18.05.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i. V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF (AsylG 2005), (Spruchpunkt I) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, gegen die Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass der Beschwerdeführer "als Person nicht glaubwürdig" sei und dass dessen Behauptungen, wonach er Afghanistan aus Furcht vor seinem Vater im Zusammenhang mit der Vergewaltigung durch den "Cousin" für nicht wahr erachtet würden. Das behauptete Fluchtvorbringen sei in einer Gesamtbeurteilung nicht glaubhaft gewesen, da der Beschwerdeführer bei der Einvernahme zu wesentlichen Punkten lückenhafte und unplausible Angaben gemacht habe. Dessen Schilderungen seien "vage, unsubstantiiert, oberflächlich und detailarm" gewesen. Obwohl er aufgefordert worden wäre, nähere Angaben zur Vergewaltigung durch den "Cousin" zu machen, habe der Beschwerdeführer nur dermaßen vage und unkonkrete Angaben gemacht, dass eine Bedrohung durch den Vater nicht glaubhaft sei. Trotz der vorgebrachten Vergewaltigung im Alter von 9 Jahren habe der Vater des Beschwerdeführers diesem bis zu dessen 15. Lebensjahr mehrere Jobs verschafft. Wenn der Vater des Beschwerdeführers die Familienehre tatsächlich so hoch halten würde wie vorgebracht, wäre es nicht nachvollziehbar, dass dieser es zugelassen hätte, dass der Beschwerdeführer zuletzt zu Hause gewohnt und gearbeitet habe. Es sei auch besonders darauf hinzuweisen, dass zwischen der vorgebrachten Vergewaltigung und der Ausreise sechs Jahre vergangen wären.

Der Bescheid wurde am 28.05.2018 zugestellt.

7. Gegen den gegenständlichen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 13.06.2018 fristgerecht Beschwerde. In dieser wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer aufgrund der Teilnahem an gleichgeschlechtlichem Verkehr Verfolgung drohen würde, da dieses Verhalten gegen den Koran und die Scharia verstoße und sowohl strafrechtlich als auch gesellschaftlich verfolgt werde. Im Falle einer Rückkehr drohe dem Beschwerdeführer daher Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen wegen unterstellter feindlicher Gesinnung (gegen die islamische Werteordnung).

Der Beschwerde wurde ein "Psychiatrischer Befundbericht" vom 01.06.2018 beigelegt, aus dem hervorgeht, dass sich der Beschwerdeführer in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung befinde und dass sich dessen psychischer Zustand seit Erhalt des negativen Asylbescheides am 28.05.2018 deutlich verschlechtert habe. Er leide unter panikartigen Angstzuständen mit Flashbacks, Gedankenreisen und Sinnlosigkeitsgefühlen sowie Schlafstörungen mit Albträumen, Konzentrationsproblemen und immer wiederkehrenden suizidalen Gedanken. Es bestehe "derzeit noch keine akute Suizidalität", im Falle des Erhalts eines "Abschiebebescheides" sei aber aus fachärztlich-psychiatrischer Sicht eine Suizidalität "sehr wahrscheinlich".

8. Mit Schreiben vom 13.06.2018, eingelangt am 15.06.2018, legte die belangte Behörde den gegenständlichen Verfahrensakt - ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen - dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

9. Am 01.08.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der neben dem Beschwerdeführer und dessen Vertretung auch zwei Vertreterinnen der belangten Behörde teilnahmen.

Zu Beginn der Verhandlung legte der Beschwerdeführer u.a. folgende Unterlagen und Dokumente vor:

Mehrere Fotos, die ihn zusammen mit seiner "Patenfamilie" in Österreich zeigen.

Zwei "Psychiatrische Befundberichte" vom 22.07.2019 und vom 27.07.2019, aus denen hervorgeht, dass sich der Beschwerdeführer seit 12.03.2018 in regelmäßiger psychiatrischer und traumtherapeutischer Behandlung befinde. Die Diagnose laute auf "komplexe posttraumatische Belastungsstörung", "Dissoziative Störung" und "Angst und depressive Störung gemischt". Zusätzlich leide der Beschwerdeführer auch an schweren depressiven Zuständen, die sich in Gehemmtheit, Verlust von Interesse und Freude, Defiziten in Konzentration und Aufmerksamkeit, negativen und pessimistischen Zukunftsperspektiven, Schuldgefühlen, Appetitverlust und Suizidgedanken zeigten.

Eine Bestätigung über eine "forensisch-psychotherapeutische Behandlung" beim Verein Limes vom 25.04.2018, der zu Folge der Beschwerdeführer "derzeit psychisch sehr belastet" sei, was - gemäß den Erzählungen des Beschwerdeführers - auf massive Gewalterfahrungen im Herkunftsland in einer sehr schwierigen familiären Situation zurückzuführen sei.

Eine Bestätigung der Erzdiözese Wien - Rektorat ARGE AAG über die Teilnahme des Beschwerdeführers am Glaubensunterricht und Aufnahme für den Taufunterricht vom 27.07.2019.

Eine "Religionsaustrittserklärung" des Beschwerdeführers, gerichtet an den Magistrat der Stadt Wien, vom 31.07.2019.

Eine Bestätigung über die Teilnahme am Lehrgang "Übergangsstufe an BMHS für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch" der Handelsakademie und Handelsschule des Berufsförderungsinstituts Wien und dessen Abschluss vom 28.06.2019.

Ein Empfehlungsschreiben der Koordinatorinnen der Übergangsstufe für Flüchtlinge an den Schulen des BFI Wien vom 22.07.2019.

Ein Empfehlungsschreiben des Samariterbundes Wien vom 27.07.2018.

Im Zuge der Verhandlung gab der Beschwerdeführer an, dass er in einer muslimischen Familie zur Welt gekommen sei, aber sich dieser Religion nicht zugehörig fühle. Er besuche jetzt regelmäßig eine katholische Kirche und befinde sich in der Taufvorbereitung. Er lebe in Österreich alleine, seine Kontakte würden sich auf die "Patenfamilie" beschränken. Wer von seiner Familie derzeit noch in Afghanistan lebe wisse er nicht. Er habe auch seit ein bis zwei Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie oder zu Personen, die sich in Afghanistan aufhalten. Er vermisse den Kontakt zu seiner Mutter, die inzwischen verstorben sei, zu seinem Vater wolle er keinen Kontakt haben.

Befragt nach seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer an, dass er in Afghanistan vergewaltigt worden sei und die Leute dort glaubten, dass er homosexuell sei. (Anmerkung: An dieser Stelle der Befragung begann der Beschwerdeführer kurz zu weinen.)

Befragt nach seinem gesundheitlichen Zustand gab der Beschwerdeführer an, dass er wöchentlich bei einem Psychotherapeuten in Behandlung sei. Er könne manchmal gut, manchmal aber überhaupt nicht schlafen und träume noch öfters von seiner Zeit in Afghanistan. Er träume manchmal, dass ihn sein Vater vom Dach hinunterstoßen würde und immer wieder davon, dass er von seinem Vater mit einem Seil oder mit einem Stück Holz geschlagen werde. (Anmerkung: bei diesen Schilderungen wird der Beschwerdeführer sehr emotional.)

Der Beschwerdeführer gab an, dass er im Alter von neun Jahren zu arbeiten begonnen habe, weil sein Vater nicht mehr gewollt habe, dass er sich im Haus befinde. Das Geld, das er als Hirte verdient habe, habe sein Vater genommen. Bis zu seinem neunten Lebensjahr habe er ein gutes Verhältnis zu seinem Vater gehabt, danach nicht mehr. Sein Vater habe ihm unterstellt, dass er die Familienehre verletzt hätte, und habe ihn in der Folge sehr schlecht behandelt. Darüber, was ihm mit neuen Jahren widerfahren wäre, hätten die Nachbarn und alle Leute im Dorf Bescheid gewusst, vermutlich deswegen, weil es der Täter selbst weitererzählt habe. Er habe sich in Afghanistan an niemanden wenden können, da ihm nicht einmal sein eigener Vater geglaubt habe.

Auf Nachfrage der Vertreterin der belangten Behörde, wie es zusammenpasse, dass er ein so schlechtes Verhältnis zu seinem Vater habe und schlecht von diesem träume, wo ihm doch dieser bei der Suche nach Arbeit geholfen habe und der Beschwerdeführer seinen Vater auch finanziert habe, gab der Beschwerdeführer an, dass das keine Hilfe, sondern "Folter" gewesen sei, wenn man als Neunjähriger von zu Hause weg und zum Arbeiten geschickt werde. Der Vertreter des Beschwerdeführers merkte an, dass die Beschäftigungen des Beschwerdeführers nicht im Rahmen von regulären Arbeitsverhältnissen erfolgten, sondern dass diese vielmehr von Ausbeutung und Zwang des damals minderjährigen Beschwerdeführers geprägt gewesen seien.

Nachgefragt durch die Vertreterin der belangten Behörde, was das tatsächliche Schlüsselerlebnis für die Flucht gewesen wäre, gab der Beschwerdeführer an, dass sein Freund getötet worden sei und er Angst gehabt habe, selber auch getötet zu werden. Er habe die Verspottungen und Beschimpfungen nicht mehr ausgehalten, die Leute hätten ihn als "Schwuler" und als "Weib" beschimpft. Er tue sich sehr schwer, darüber zu reden, müsse es aber immer wiederholen. Er möchte, dass es "ein Ende habe".

Nach Abschluss der mündlichen Verhandlung verkündete der zuständige Richter das im Spruch wiedergegebene Erkenntnis.

10. Mit Schreiben vom 01.08.2019 beantragte die belangte Behörde die Ausfertigung des am selben Tag verkündeten Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und zu dessen Situation im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Ghazni und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Seine Muttersprache ist Dari.

Er ist als Moslem geboren, hat aber vor kurzem eine "Religionsaustrittserklärung" abgegeben.

Ob sich der Beschwerdeführer in der Zwischenzeit ernsthaft und nachhaltig dem Christentum zugewandt hat, konnte nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer verfügt über keine Schulausbildung und hat bereits im Alter von 9 Jahren zu arbeiten begonnen. Er hat dabei - jeweils auf Vermittlung seines Vaters - als Hirte gearbeitet und diverse Hilfstätigkeiten verrichtet.

Im Alter von neun Jahren wurde der Beschwerdeführer Opfer eines sexuellen Übergriffs durch einen männlichen Verwandten.

Dem Beschwerdeführer wird von seiner Familie und seinem näheren Umfeld unterstellt, dass er freiwillig an diesen sexuellen Handlungen teilgenommen habe und dass er homosexuell sei.

Der Beschwerdeführer leidet bis heute an dem als Neunjähriger Erlebtem und befindet sich in psychotherapeutischer Behandlung.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten

Für den Beschwerdeführer besteht in Afghanistan keine innerstaatliche Fluchtalternative.

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat

Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).

Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).

Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil (UNGASC 10.9.2018). Am 19.8.2018 kündigte der afghanische Präsident Ashraf Ghani einen dreimonatigen Waffenstillstand mit den Taliban vom 20.8.2018 bis 19.11.2018 an, der von diesen jedoch nicht angenommen wurde (UNGASC 10.9.2018; vgl. Tolonews 19.8.2018, TG 19.8.2018, AJ 19.8.2018). Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum (15.5.2018 - 15.8.2018) 5.800 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 10% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Bewaffnete Zusammenstöße gingen um 14% zurück, machten aber weiterhin den Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle (61%) aus. Selbstmordanschläge nahmen um 38% zu, Luftangriffe durch die afghanische Luftwaffe (AAF) sowie internationale Kräfte stiegen um 46%. Die am stärksten betroffenen Regionen waren der Süden, der Osten und der Süd-Osten, wo insgesamt 67% der Vorfälle stattfanden. Es gibt weiterhin Bedenken bezüglich sich verschlechternder Sicherheitsbedingungen im Norden des Landes

Eine große Zahl von Kampfhandlungen am Boden wurde in den Provinzen Balkh, Faryab und Jawzjan registriert, und Vorfälle entlang der Ring Road beeinträchtigten die Bewegungsfreiheit zwischen den Hauptstädten der drei Provinzen (UNGASC 10.9.2018).

Zum ersten Mal seit 2016 wurden wieder Provinzhauptstädte von den Taliban angegriffen: Farah-Stadt im Mai, Ghazni-Stadt im August und Sar-e Pul im September (UNGASC 10.9.2018; vgl. Kapitel 1., KI 11.9.2018, SIGAR 30.7.2018, UNGASC 6.6.2018). Bei den Angriffen kam es zu heftigen Kämpfen, aber die afghanischen Sicherheitskräfte konnten u.a. durch Unterstützung der internationalen Kräfte die Oberhand gewinnen (UNGASC 10.9.2018; vgl. UNGASC 6.6.2018, GT 12.9.2018). Auch verübten die Taliban Angriffe in den Provinzen Baghlan, Logar und Zabul (UNGASC 10.9.2018). Im Laufe verschiedener Kampfoperationen wurden sowohl Taliban- als auch ISKP-Kämpfer (ISKP, Islamic State Khorasan Province, Anm.) getötet (SIGAR 30.7.2018).

Sowohl die Aufständischen als auch die afghanischen Sicherheitskräfte verzeichneten hohe Verluste, wobei die Zahl der Opfer auf Seite der ANDSF im August und September 2018 deutlich gestiegen ist (Tolonews 23.9.2018; vgl. NYT 21.9.2018, ANSA 13.8.2018, CBS 14.8.2018). Trotzdem gab es bei der Kontrolle des Territoriums durch Regierung oder Taliban keine signifikante Veränderung (UNGASC 10.9.2018; vgl. UNGASC 6.6.2018). Die Regierung kontrollierte - laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 15.5.2018 56,3% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 (57%) bedeutet. 30% der Distrikte waren umkämpft und 14% befanden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 67% der Bevölkerung lebten in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befanden, 12% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 23% lebten in umkämpften Gebieten (SIGAR 30.7.2018).

Der Islamische Staat - Provinz Khorasan (ISKP) ist weiterhin in den Provinzen Nangarhar, Kunar und Jawzjan aktiv (USGASC 6.6.2018; vgl. UNGASC 10.9.2018). Auch war die terroristische Gruppierung im August und im September für öffentlichkeitswirksame Angriffe auf die schiitische Glaubensgemeinschaft in Kabul und Paktia verantwortlich (UNGASC 10.9.2018; vgl. KI vom 11.9.2018, KI vom 22.8.2018). Anfang August besiegten die Taliban den in den Distrikten Qush Tepa und Darzab (Provinz Jawzjan) aktiven "selbsternannten" ISKP (dessen Verbindung mit dem ISKP in Nangarhar nicht bewiesen sein soll) und wurden zur dominanten Macht in diesen beiden Distrikten (AAN 4.8.2018; vgl. UNGASC 10.9.2018).

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).

Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018).

Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.2.2018), von denen zur Veranschaulichung hier auszugsweise einige Beispiele wiedergegeben werden sollen (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste enthält öffentlichkeitswirksame (high-profile) Vorfälle sowie Angriffe bzw. Anschläge auf hochrangige Ziele und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit).

• Selbstmordanschlag vor dem Ministerium für ländliche Rehabilitation und Entwicklung (MRRD) in Kabul: Am 11.6.2018 wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Eingangstor des MRRD zwölf Menschen getötet und 30 weitere verletzt. Quellen zufolge waren Frauen, Kinder und Mitarbeiter des Ministeriums unter den Opfern (AJ 11.6.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (Reuters 11.6.2018; Gandhara 11.6.2018).

• Angriff auf das afghanische Innenministerium (MoI) in Kabul: Am 30.5.2018 griffen bewaffnete Männer den Sitz des MoI in Kabul an, nachdem vor dem Eingangstor des Gebäudes ein mit Sprengstoff geladenes Fahrzeug explodiert war. Bei dem Vorfall kam ein Polizist ums Leben. Die Angreifer konnten nach einem zweistündigen Gefecht von den Sicherheitskräften getötet werden. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (CNN 30.5.2018; vgl. Gandhara 30.5.2018)

• Angriff auf Polizeistützpunkte in Ghazni: Bei Taliban-Anschlägen auf verschiedene Polizeistützpunkte in der afghanischen Provinz Ghazni am 21.5.2018 kamen mindestens 14 Polizisten ums Leben (AJ 22.5.2018).

• Angriff auf Regierungsbüro in Jalalabad: Nach einem Angriff auf die Finanzbehörde der Provinz Nangarhar in Jalalabad kamen am 13.5.2018 mindestens zehn Personen, darunter auch Zivilisten, ums Leben und 40 weitere wurden verletzt (Pajhwok 13.5.2018; vgl. Tolonews 13.5.2018). Die Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (AJ 13.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich der Islamische Staat (IS) zum Angriff (AJ 13.5.2018).

• Angriff auf Polizeireviere in Kabul: Am 9.5.2018 griffen bewaffnete Männer jeweils ein Polizeirevier in Dasht-e-Barchi und Shar-i-Naw an und verursachten den Tod von zwei Polizisten und verwundeten sechs Zivilisten. Auch wurden Quellen zufolge zwei Attentäter von den Sicherheitskräften getötet (Pajhwok 9.5.2018). Der IS bekannte sich zum Angriff (Pajhwok 9.5.2018; vgl. Tolonews 9.5.2018).

• Selbstmordangriff in Kandahar: Bei einem Selbstmordanschlag auf einen Konvoi der NATO-Truppen in Haji Abdullah Khan im Distrikt Daman der Provinz Kandahar sind am 30.4.2018 elf Kinder ums Leben gekommen und 16 weitere Menschen verletzt worden; unter den Verletzten befanden sich u.a. rumänische Soldaten (Tolonews 30.4.2018b; vgl. APN 30.4.2018b, Focus 30.4.2018, IM 30.4.2018). Weder der IS noch die Taliban reklamierten den Anschlag für sich (Spiegel 30.4.2018; vgl. Tolonews 30.4.2018b).

• Doppelanschlag in Kabul: Am 30.4.2018 fand im Bezirk Shash Derak in der Hauptstadt Kabul ein Doppelanschlag statt, bei dem Selbstmordattentäter zwei Explosionen verübten (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Die erste Detonation erfolgte in der Nähe des Sitzes des afghanischen Geheimdienstes (NDS) und wurde von einem Selbstmordattentäter auf einem Motorrad verübt; dabei wurden zwischen drei und fünf Menschen getötet und zwischen sechs und elf weitere verletzt (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b); Quellen zufolge handelte es sich dabei um Zivilisten (Focus 30.4.2018). Die zweite Detonation ging von einem weiteren Selbstmordattentäter aus, der sich, als Reporter getarnt, unter die am Anschlagsort versammelten Journalisten, Sanitäter und Polizisten gemischt hatte (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b, Pajhwok 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Dabei kamen u.a. zehn Journalisten ums Leben, die bei afghanischen sowie internationalen Medien tätig waren (TI 1.5.2018; vgl. AJ 30.4.2018, APN 30.4.2018a,). Bei den beiden Anschlägen sind Quellen zufolge zwischen 25 und 29 Personen ums Leben gekommen und 49 verletzt worden (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a, DZ 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Der IS bekannte sich zu beiden Angriffen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Quellen zufolge sind Geheimdienstmitarbeiter das Ziel des Angriffes gewesen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a).

• Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie: Am 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der IS bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).

• Bombenangriff mit einem Fahrzeug in Kabul: Am 27.1.2018 tötete ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (TG 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018) - dem sogenannten Regierungs- und Diplomatenviertel (Reuters 27.1.2018).

• Angriff auf eine internationale Organisation (Save the Children - SCI) in Jalalabad: Am 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden getötet und zwölf weitere verletzt; der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018, TG 24.1.2018).

• Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul: Am 20.1.2018 griffen fünf bewaffnete Männer das Luxushotel Intercontinental in Kabul an. Der Angriff wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018; vgl. DW 21.1.2018). Dabei wurden mindestens 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden (BBC 21.1.2018). Alle fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).

• Selbstmordattentat mit einem mit Sprengstoff beladenen Tanklaster

Am 31.5.2017 kamen bei einem Selbstmordattentat im hochgesicherten Diplomatenviertel Kabuls mehr als 150 Menschen ums Leben, mindestens 300 weitere wurden schwer verletzt (FAZ 6.6.2017; vgl. AJ 31.5.2017, BBC 31.5.2017; UN News Centre 31.5.2017). Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (FN 7.6.2017).

Zivilist/innen

Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verletzte) - damit wurde ein Rückgang von 9% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres 2016 (11.434 zivile Opfer mit 3.510 Toten und 7.924 Verletzen) festgestellt. Seit 2012 wurde zum ersten Mal ein Rückgang verzeichnet: im Vergleich zum Jahr 2016 ist die Anzahl ziviler Toter um 2% zurückgegangen, während die Anzahl der Verletzten um 11% gesunken ist. Seit 1.1.2009-31.12.2017 wurden insgesamt 28.291 Tote und 52.366 Verletzte von der UNAMA registriert. Regierungsfeindliche Gruppierungen waren für 65% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich; Hauptursache dabei waren IEDs, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken (UNAMA 2.2018). Im Zeitraum 1.1.2018 - 31.3.2018 registriert die UNAM.

2.258 zivile Opfer (763 Tote und 1.495 Verletzte). Die Zahlen reflektieren ähnliche Werte wie in den Vergleichsquartalen für die Jahre 2016 und 2017. Für das Jahr 2018 wird ein neuer Trend beobachtet: Die häufigste Ursache für zivile Opfer waren IEDs und komplexe Angriffe. An zweiter Stelle waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten Tötungen, Blindgängern (Engl. UXO, "Unexploded Ordnance") und Lufteinsätzen. Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.4.2018).

Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben - dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nicht-ziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (UNAMA 2.2018).

Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.4.2018).

Zu den regierungsfreundlichen Kräften zählten: ANDSF, Internationale Truppen, regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen sowie nicht näher identifizierte regierungsfreundliche Kräfte. Für das Jahr 2017 wurden 2.108 zivile Opfer (745 Tote und 1.363 Verletzte) regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben, dies deutet einen Rückgang von 23% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (2.731 zivile Opfer, 905 Tote und 1.826 Verletzte) an (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018). Insgesamt waren regierungsfreundliche Kräfte für 20% aller zivilen Opfer verantwortlich. Hauptursache (53%) waren Bodenkonfrontation zwischen ihnen und regierungsfeindlichen Elementen - diesen fielen 1.120 Zivilist/innen (274 Tote und 846 Verletzte) zum Opfer; ein Rückgang von 37% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (UNAMA 2.2018). Luftangriffe wurden zahlenmäßig als zweite Ursache für zivile Opfer registriert (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018); diese waren für 6% ziviler Opfer verantwortlich - hierbei war im Gegensatz zum Vorjahreswert eine Zunahme von 7% zu verzeichnen gewesen. Die restlichen Opferzahlen 125 (67 Tote und 58 Verletzte) waren auf Situationen zurückzuführen, in denen Zivilist/innen fälschlicherweise für regierungsfeindliche Elemente gehalten wurden. Suchaktionen forderten 123 zivile Opfer (79 Tote und 44 Verletzte), Gewalteskalationen 52 zivile Opfer (18 Tote und 34 Verletzte), und Bedrohungen und Einschüchterungen forderten 17 verletzte Zivilist/innen (UNAMA 2.2018).

Ein besonderes Anliegen der ANDSF, der afghanischen Regierung und internationaler Kräfte ist das Verhindern ziviler Opfer. Internationale Berater/innen der US-amerikanischen und Koalitionskräfte arbeiten eng mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und ein Bewusstsein für die Wichtigkeit der Reduzierung der Anzahl von zivilen Opfern zu schaffen. Die afghanische Regierung hält auch weiterhin ihre vierteljährliche Vorstandssitzung zur Vermeidung ziviler Opfer (Civilian Casualty Avoidance and Mitigation Board) ab, um u. a. Präventivmethoden zu besprechen (USDOD 12.2017). Die UNAMA bemerkte den Einsatz und die positiven Schritte der afghanischen Regierung, zivile Opfer im Jahr 2017 zu reduzieren (UNAMA 2.2018).

Im gesamten Jahr 2017 wurden 3.484 zivile Opfer (823 Tote und 2.661 Verletzte) im Rahmen von 1.845 Bodenoffensiven registriert - ein Rückgang von 19% gegenüber dem Vorjahreswert aus 2016 (4.300 zivile Opfer, 1.072 Tote und 3.228 Verletzte in 2.008 Bodenoffensiven). Zivile Opfer, die aufgrund bewaffneter Zusammenstöße zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Kräften zu beklagen waren, sind zum ersten Mal seit 2012 zurückgegangen (UNAMA 2.2018).

Im Jahr 2017 forderten explosive Kampfmittelrückstände (Engl. "explosive remnants of war", Anm.) 639 zivile Opfer (164 Tote und 475 Verletzte) - ein Rückgang von 12% gegenüber dem Jahr 2016. 2017 war überhaupt das erste Jahr seit 2009, in welchem ein Rückgang verzeichnet werden konnte. Der Rückgang ziviler Opfer ist möglicherweise u.a. auf eine Verminderung des indirekten Beschusses durch Mörser, Raketen und Granaten in bevölkerten Gegenden von regierungsfreundlichen Kräfte zurückzuführen (UNAMA 2.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden:

das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).

Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen - insbesondere die Taliban - ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017).

Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören u.a. die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (SIGAR 1.2018).

Außerdem haben Militäroperationen der pakistanischen Regierung einige Zufluchtsorte Aufständischer zerstört. Jedoch genießen bestimmte Gruppierungen, wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk Bewegungsfreiheit in Pakistan (USDOD 12.2017). Die Gründe dafür sind verschiedene: das Fehlen einer Regierung, das permissive Verhalten der pakistanischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsamen kommunalen Bindungen über die Grenze und die zahlreichen illegalen Netzwerke, die den Aufständischen Schutz bieten (AAN 17.10.2017).

Taliban

Die Taliban führten auch ihre Offensive "Mansouri" weiter; diese Offensive konzentrierte sich auf den Aufbau einer "Regierungsführung" der Taliban (Engl. "governance") bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Gewalt gegen die afghanische Regierung, die ANDSF und ausländische Streitkräfte. Nichtsdestotrotz erreichten die Taliban, die Hauptziele dieser "Kampfsaison" laut US-Verteidigungsministerium nicht (USDOD 12.2017). Operation Mansouri sollte eine Mischung aus konventioneller Kriegsführung, Guerilla-Angriffen und Selbstmordattentaten auf afghanische und ausländische Streitkräfte werden (Reuters 28.4.2017). Auch wollten sich die Taliban auf jene Gegenden konzentrieren, die vom Feind befreit worden waren (LWJ 28.4.2017). Laut NATO Mission Resolute Support kann das Scheitern der Taliban-Pläne für 2017 auf aggressive ANDSF-Operationen zurückgeführt, aber auch auf den Umstand, dass die Taliban den IS und die ANDSF gleichzeitig bekämpfen müssen (USDOD 12.2017).

Im Jahr 2017 wurden den Taliban insgesamt 4.385 zivile Opfer (1.574 Tote und 2.811 Verletzte zugeschrieben. Die Taliban bekannten sich nur zu 1.166 zivilen Opfern. Im Vergleich zum Vorjahreswert bedeutet dies einen Rückgang um 12% bei der Anzahl ziviler Opfer, die den Taliban zugeschrieben werden. Aufgrund der Komplexität der in Selbstmord- und komplexen Anschlägen involvierten Akteure hat die UNAMA oft Schwierigkeiten, die daraus resultierenden zivilen Opfer spezifischen regierungsfreundlichen Gruppierungen zuzuschreiben, wenn keine Erklärungen zur Verantwortungsübernahme abgegeben wurden. Im Jahr 2017 haben sich die Taliban zu 67 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen bekannt; dies führte zu 214 zivilen Opfern (113 Toten und 101 Verletzten). Auch wenn sich die Taliban insgesamt zu weniger Angriffen gegen Zivilist/innen bekannten, so haben sie dennoch die Angriffe gegen zivile Regierungsmitarbeiter/innen erhöht - es entspricht der Linie der Taliban, Regierungsinstitutionen anzugreifen (UNAMA 2.2018).

Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans (SIGAR 30.4.2018). Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten (ODI 6.2018). Die Taliban halten auch weiterhin großes Territorium in den nördlichen und südlichen Gegenden der Provinz Helmand (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Die ANDSF haben, unterstützt durch US-amerikanische Truppen, in den ersten Monaten des Jahres 2018 an Boden gewonnen, wenngleich die Taliban nach wie vor die Hälfte der Provinz Helmand unter Kontrolle halten (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Helmand war lange Zeit ein Hauptschlachtfeld - insbesondere in der Gegend rund um den Distrikt Sangin, der als Kernstück des Taliban-Aufstands erachtet wird (JD News 12.3.2018; vgl. Reuters 30.3.2018). Die Taliban haben unerwarteten Druck aus ihrer eigenen Hochburg in Helmand erhalten: Parallel zu der Ende März 2018 abgehaltenen Friedens-Konferenz in Uzbekistan sind hunderte Menschen auf die Straße gegangen, haben eine Sitzblockade abgehalten und geschworen, einen langen Marsch in der von den Taliban kontrollierten Stadt Musa Qala zu abzuhalten, um die Friedensgespräche einzufordern. Unter den protestierenden Menschen befanden sich auch Frauen, die in dieser konservativen Region Afghanistans selten außer Hauses gesehen werden (NYT 27.3.2018).

Die Taliban geben im Kurznachrichtendienst Twitter Angaben zu ihren Opfern oder Angriffen (FAZ 19.10.2017; vgl. Pajhwok 13.3.2018). Ihre Angaben sind allerdings oft übertrieben (FAZ 19.10.2017). Auch ist es sehr schwierig Ansprüche und Bekennermeldungen zu verifizieren - dies gilt sowohl für Taliban als auch für den IS (AAN 5.2.2018).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Höchst umstritten ist von Expert/innen die Größe und die Gefahr, die vom IS ausgeht. So wird von US-amerikanischen Sicherheitsbeamten und weiteren Länderexpert/innen die Anzahl der IS-Kämpfer in Afghanistan mit zwischen 500 und 5.000 Kämpfern beziffert. Jeglicher Versuch die tatsächliche Stärke einzuschätzen, wird durch den Umstand erschwert, dass sich die Loyalität der bewaffneten radikalen Islamisten oftmals monatlich oder gar wöchentlich ändert, je nach ideologischer Wende, Finanzierung und Kampfsituation (WSJ 21.3.2018). Auch wurde die afghanische Regierung bezichtigt, die Anzahl der IS-Kämpfer in Afghanistan aufzublasen (Tolonews 10.1.2018). Zusätzlich ist wenig über die Gruppierung und deren Kapazität, komplexe Angriffe auszuführen, bekannt. Viele afghanische und westliche Sicherheitsbeamte bezweifeln, dass die Gruppierung alleine arbeitet (Reuters 9.3.2018).

Die Fähigkeiten und der Einfluss des IS sind seit seiner Erscheinung im Jahr 2015 zurückgegangen. Operationen durch die ANDSF und die US-Amerikaner, Druck durch die Taliban und Schwierigkeiten die Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu gewinnen, störten das Wachstum des IS und verringerten dessen Operationskapazitäten. Trotz erheblicher Verluste von Territorium, Kämpfern und hochrangigen Führern, bleibt der IS nach wie vor eine Gefährdung für die Sicherheit in Afghanistan und in der Region. Er ist dazu in der Lage, öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen (HPA) in städtischen Zentren zu verüben (USDOD 12.2017). Der IS hat sich nämlich in den vergangenen Monaten zu einer Anzahl tödlicher Angriffe in unterschiedlichen Teilen des Landes bekannt - inklusive der Hauptstadt. Dies schürte die Angst, der IS könne an Kraft gewinnen (VoA 10.1.2018; vgl. AJ 30.4.2018). Auch haben örtliche IS-Gruppen die Verantwortung für Angriffe auf Schiiten im ganzen Land übernommen (USDOD 12.2017).

Im Jahr 2017 wurden dem IS 1.000 zivile Opfer (399 Tote und 601 Verletzte) zugeschrieben sowie die Entführung von 81 Personen; er war damit laut UNAMA für 10% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich - eine Zunahme von insgesamt 11% im Vergleich zum Jahr 2016. Im Jahr 2017 hat sich der IS zu insgesamt 18 willkürlichen Angriffen auf Zivilist/innen oder zivile Objekte bekannt (UNAMA 2.2018); er agiert wahllos - greift Einrichtungen der afghanischen Regierung und der Koalitionskräfte an (AAN 5.2.2018), aber auch ausländische Botschaften (UNAMA 2.2.018). Fast ein Drittel der Angriffe des IS zielen auf schiitische Muslime ab (UNAMA 2.2018; vgl. AAN 5.2.2018) - sechs Angriffe waren auf schiitische Glaubensstätten (UNAMA 2.2018). Der IS begründet seine Angriffe auf die schiitische Gemeinschaft damit, dass deren Mitglieder im Kampf gegen den IS im Mittleren Osten involviert sind (AAN 5.2.2018).

Zusätzlich dokumentierte die UNAMA im Jahr 2017 27 zivile Opfer (24 Tote und drei Verletzte) sowie die Entführung von 41 Zivilist/innen, die von selbsternannten IS-Anhängern in Ghor, Jawzjan und Sar-e Pul ausgeführt wurden. Diese Anhänger haben keine offensichtliche Verbindung zu dem IS in der Provinz Nangarhar (UNAMA 2.2018).

Der IS rekrutierte auf niedriger Ebene und verteilte Propagandamaterial in vielen Provinzen Afghanistans. Führung, Kontrolle und Finanzierung des Kern-IS aus dem Irak und Syrien ist eingeschränkt, wenngleich der IS in Afghanistan nachhaltig auf externe Finanzierung angewiesen ist, sowie Schwierigkeiten hat, Finanzierungsströme in Afghanistan zu finden. Dieses Ressourcenproblem hat den IS in einen Konflikt mit den Taliban und anderen Gruppierungen gebracht, die um den Gewinn von illegalen Kontrollpunkten und den Handel mit illegalen Waren wetteifern. Der IS bezieht auch weiterhin seine Mitglieder aus unzufriedenen TTP-Kämpfern (Tehreek-e Taliban in Pakistan - TTP), ehemaligen afghanischen Taliban und anderen Aufständischen, die meinen, der Anschluss an den IS und ihm die Treue zu schwören, würde ihre Interessen vorantreiben (USDOD 12.2017).

Auch ist der IS nicht länger der wirtschaftliche Magnet für arbeitslose und arme Jugendliche in Ostafghanistan, der er einst war. Die Tötungen von IS-Führern im letzten Jahr (2017) durch die afghanischen und internationalen Kräfte haben dem IS einen harten Schlag versetzt, auch um Zugang zu finanziellen Mitteln im Mittleren Osten zu erhalten. Finanziell angeschlagen und mit wenigen Ressourcen, ist der IS in Afghanistan nun auf der Suche nach anderen Möglichkeiten des finanziellen Überlebens (AN 6.3.2018).

Haqqani-Netzwerk

Der Gründer des Haqqani-Netzwerkes - Jalaluddin Haqqani - hat aufgrund schlechter Gesundheit die operationale Kontrolle über das Netzwerk an seinen Sohn Sirajuddin Haqqani übergeben, der gleichzeitig der stellvertretende Führer der Taliban ist (VoA 1.7.2017). Als Stellvertreter der Taliban wurde die Rolle von Sirajuddin Haqqani innerhalb der Taliban verfestigt. Diese Rolle erlaubte dem Haqqani-Netzwerk seinen Operationsbereich in Afghanistan zu erweitern und lieferte den Taliban zusätzliche Fähigkeiten in den Bereichen Planung und Operation (USDOD 12.2017).

Von dem Netzwerk wird angenommen, aus den FATA-Gebieten (Federally Administered Tribal Areas) in Pakistan zu operieren. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge soll das Netzwerk zwischen 3.000 und 10.000 Mitglieder haben. Dem Netzwerk wird nachgesagt finanziell von unterschiedlichen Quellen unterstützt zu werden - inklusive reichen Personen aus den arabischen Golfstaaten (VoA 1.7.2017).

Zusätzlich zu der Verbindung mit den Taliban, hat das Netzwerk mit mehreren anderen Aufständischen Gruppierungen, inklusive al-Qaida, der Tehreek-e Taliban in Pakistan (TTP), der Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) und der ebenso in Pakistan ansässigen Lashkar-e-Taiba (VoA 1.7.2017).

Sowohl die afghanische, als auch die US-amerikanische Regierung haben Pakistan in der Vergangenheit wiederholt kritisiert, keine eindeutigen Maßnahmen gegen terroristische Elemente zu ergreifen, d

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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