RS Vfgh 2019/12/4 G159/2019 ua (G159/2019-13, G226/2019-11, G248/2019-8)

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Veröffentlicht am 04.12.2019
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Index

32/01 Finanzverfahren, allgemeines Abgabenrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs5
BAO §207, §208, §209, §209a, §252, §295 Abs4, §302, §304
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Unsachlichkeit der für Wiederaufnahmeanträge geltenden Frist betreffend Anträge auf Aufhebung eines "abgeleiteten" Bescheides wegen absoluter Nichtigkeit des "Grundlagenbescheides" nach der Bundesabgabenordnung

Rechtssatz

Aufhebung des Satzes "Der Antrag ist vor Ablauf der für Wiederaufnahmsanträge nach §304 maßgeblichen Frist zu stellen." in §295 Abs4 BAO idF BGBl I 70/2013 unter Fristsetzung bis 31.12.2010 sowie Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Satzes "Der Antrag ist vor Ablauf der für Wiederaufnahmsanträge nach §304 maßgeblichen Frist zu stellen." in §295 Abs4 BAO idF BGBl I 76/2011.

Zur Zulässigkeit:

Wenn die Bundesregierung in ihrer erstatteten Äußerung die Auffassung vertritt, dass sich die im Prüfungsbeschluss geäußerten Bedenken nicht gegen die Befristung des Antrages an sich richteten, sondern auf die im Anlassfall (noch) anzuwendende Fassung des §304 BAO idF BGBl I 14/2013 bezogen seien, welche an die Verjährungsfristen des §207 BAO anknüpfe, übersieht sie, dass der VfGH in seinem Prüfungsbeschluss seine Bedenken gerade nicht auf die im Prüfungsbeschluss anzuwendende Fassung des §304 BAO gestützt hat.

Der VfGH hat in seinem Prüfungsbeschluss festgehalten, dass jene Bedenken, die gegen die Anknüpfung des §295 Abs4 BAO an die nach §304 BAO maßgebliche Frist sprechen, jenen Bedenken vergleichbar sind, die im Erkenntnis VfSlg 20218/2017 zur Aufhebung des §304 BAO idF BGBl I 14/2013 geführt haben, da die Möglichkeit eines Antrages nach §295 Abs4 BAO ihre Bedeutung erst nach Abschluss des Beschwerdeverfahrens gegen die als Grundlagenbescheid intendierte Enunziation erlangt.

Darüber hinaus hat der VfGH seine Bedenken auch damit begründet, dass die Konsequenz eines wegen Fristablaufes nicht aufhebbaren, ohne Rechtsgrundlage abgeleiteten Bescheides dann nicht eintreten kann, wenn die Abgabenbehörde - so wie in §295 Abs1 BAO als Möglichkeit vorgesehen - mit der Erlassung des abgeleiteten Bescheides bis zum Eintritt der Rechtskraft des Feststellungsbescheides zuwartet. Die Bedenken des VfGH richten sich im Prüfungsbeschluss somit nicht gegen die mit VfSlg 20218/2017 aufgehobene Fassung des §304 BAO, sondern gegen die Unsachlichkeit der Anknüpfung des Antragsrechts an eine Frist, die von der Erlassung der Erledigung im dem abgeleiteten Bescheid zugrunde liegenden Feststellungsverfahren unabhängig ist.

Nach §302 Abs1 BAO idF BGBl I 14/2013 sind Abänderungen, Zurücknahmen und Aufhebungen von Bescheiden, soweit nichts anderes bestimmt ist, bis zum Ablauf der Verjährungsfrist, Aufhebungen gemäß §299 BAO jedoch bis zum Ablauf eines Jahres nach Bekanntgabe (§97 BAO) des Bescheides zulässig. Der Gesetzgeber regelt damit unabdingbare Fristen für die Abänderung, Zurücknahme oder Aufhebung von Abgabenbescheiden, die nicht gelten, soweit anderes bestimmt ist.

Mit Einführung des §295 Abs4 BAO wurde eine spezielle Regelung geschaffen, um auf als Grundlagenbescheid intendierte Enunziationen gestützte Änderungsbescheide auf Antrag aufzuheben, wenn der Antrag innerhalb der nach §304 BAO maßgeblichen Frist gestellt wurde. §295 Abs4 letzter Satz BAO knüpft dabei nicht an die Fristen der Verjährung an, sondern stellt auf die für die Wiederaufnahme des Verfahrens vorgesehene Frist ab und trifft somit eine Regelung, die die Anwendung des §302 BAO ausschließt. Entfällt somit aber §295 Abs4 letzter Satz BAO, kann §302 BAO nicht zur Anwendung gelangen, da der Gesetzgeber mit §295 Abs4 BAO eine Regelung außerhalb des Anwendungsbereiches des §302 BAO geschaffen hat.

Unsachlichkeit der in §295 Abs4 letzter Satz BAO enthaltenen Befristung:

Ein Antrag gemäß §295 Abs4 BAO wird danach faktisch nur dann zur Anpassung eines von einer als Feststellungsbescheid intendierten Enunziation abgeleiteten Bescheides führen können, wenn der Umstand, dass die als Feststellungsbescheid intendierte Enunziation kein Bescheid ist, vor Ablauf der durch §304 BAO bestimmten Frist hervorkommt. Endet das Beschwerdeverfahren betreffend die als Feststellungsbescheid intendierte Enunziation dagegen nach Ablauf der in §304 BAO geregelten Frist durch Zurückweisung der Beschwerde mangels Vorliegens eines Feststellungsbescheides, wäre ein nach Abschluss des Beschwerdeverfahrens gestellter Antrag auf Abänderung des abgeleiteten Bescheides als verspätet zurückzuweisen.

Einen sachlichen Grund dafür, den Abgabepflichtigen mit den Folgen eines solchen von einer als Feststellungsbescheid intendierten Enunziation abgeleiteten Bescheides nach Ablauf der Frist für Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu belasten, vermag der VfGH nicht zu erkennen, erlangt die Möglichkeit eines Antrages, einen solchen rechtswidrigen Bescheid gemäß §295 Abs4 BAO aufzuheben, ihre Bedeutung gerade erst durch den Abschluss des Beschwerdeverfahrens betreffend die als Feststellungsbescheid intendierte Enunziation.

Die für Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens geltende Frist erweist sich auch deshalb als unsachliche Beschränkung eines Antrages gemäß §295 Abs4 BAO, da der Gesetzgeber mit einer solchen Frist gänzlich außer Betracht lässt, dass der Abgabepflichtige mit den Folgen eines rechtswidrigen, in Rechtskraft erwachsenen Bescheides dann nicht belastet wird, wenn die Abgabenbehörde mit der Erlassung des abgeleiteten Bescheides bis zur Rechtskraft des Feststellungsbescheides zugewartet hätte. Demgemäß ist der Ausschluss einer Rechtskraftdurchbrechung wegen Ablaufs der für eine Wiederaufnahme des Verfahrens geltenden Frist in Fällen unsachlich, in denen die Abgabenbehörde mit der Erlassung abgeleiteter Bescheide nicht bis zur Rechtskraft des Feststellungbescheides zuwartet, beruht doch der rechtskräftige abgeleitete Bescheid in solchen Fällen auf einer Enunziation, deren mangelnde Normativität die diese erlassende Abgabenbehörde zu verantworten hat.

Wenn die Bundesregierung dagegen einwendet, der Abgabepflichtige hätte die Möglichkeit, gegen den abgeleiteten Bescheid (vorsorglich) Beschwerde zu erheben und damit den Eintritt der Rechtskraft hintanzuhalten, verkennt sie, dass der Rechtsbehelf des §295 Abs4 BAO vom Gesetzgeber gerade mit dem Ziel geschaffen worden ist, solche vorsorglichen Beschwerden zu vermeiden. Die von der Bundesregierung ins Treffen geführte Alternative bestätigt vielmehr, dass ein Antrag nach §295 Abs4 BAO auch nach Ablauf der Frist des §304 BAO zulässig sein muss, um einen gleichwertigen Ersatz für die Einbringung vorsorglicher Beschwerden zu schaffen.

Wie der VwGH in seinem zu G226/2019 protokollierten Antrag ausführt, erweist sich die Regelung der Antragsfrist nach §295 Abs4 letzter Satz BAO auch in jenen Fällen als unsachlich, in denen §304 BAO idF BGBl I 57/2004 anwendbar ist und daher ein Antrag auch dann zulässig ist, wenn er vor Ablauf einer Frist von fünf Jahren nach Eintritt der Rechtskraft des das Verfahren abschließenden Bescheides eingebracht wird. Der Gesetzgeber hat nämlich durch Anknüpfen an die Rechtskraft des abgeleiteten Bescheides - ebenso wie durch Anknüpfen an den Eintritt der Verjährung - in unsachlicher Weise nicht berücksichtigt, dass das Antragsrecht seine rechtserhebliche Bedeutung im Zeitpunkt der Zurückweisung der Beschwerde betreffend die als Grundlagenbescheid intendierte Enunziation erlangt.

(Anlassfall E4256/2018, E v 04.12.2019, Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Finanzverfahren, Wiederaufnahme, Verjährung, Bescheid Rechtskraft, VfGH / Präjudizialität

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:G159.2019

Zuletzt aktualisiert am

12.01.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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