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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §8 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter und die Hofrätinnen MMag. Ginthör und Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des S K, vertreten durch Mag. Susanna Perl-Böck als bestellter Verfahrenshelferin, diese vertreten durch Mag. Arthur Koderhold, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wollzeile 1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Mai 2019, W197 2187119-1/14E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 10. August 2011 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 28. November 2011 wies das Bundesasylamt diesen Antrag hinsichtlich des begehrten Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Revisionswerber aber subsidiären Schutz zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung, die in weiterer Folge mehrfach (zuletzt mit Bescheid vom 27. Juni 2016 bis 30. Juni 2018) verlängert wurde.
3 Infolge Straffälligkeit des Revisionswerbers leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Laufe des Jahres 2017 ein Aberkennungsverfahren ein.
4 Mit Bescheid vom 19. Jänner 2018 erkannte das BFA dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, entzog ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und erließ ein Einreiseverbot in der Dauer von zehn Jahren.
5 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig. 6 Begründend führte es zusammengefasst aus, der Revisionswerber stamme aus einem Dorf in der afghanischen Provinz Kunar. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzes mit Bescheid vom 28. November 2011 sei im Wesentlichen damit begründet worden, dass sich eine Rückkehr nach Afghanistan für den Revisionswerber angesichts dessen damaliger Hepatitis-C-Erkrankung in Kombination mit den seinerzeit vorliegenden mangelnden Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsstaat als nicht zumutbar erwiesen habe. Insofern sei eine wesentliche Änderung eingetreten, weil der Revisionswerber zwischenzeitlich erfolgreich therapiert worden sei. Es könne nicht erkannt werden, dass für den Revisionswerber als gesunden und leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter ohne festgestelltes besonderes individuelles Gefährdungspotential im Falle einer Niederlassung in der afghanischen Hauptstadt Kabul eine reale Bedrohungssituation für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit bestehen würde. Er liefe auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Es sei ihm möglich und zumutbar, in Kabul eine berufliche Tätigkeit zu finden, um ein für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Die Rückverbringung des Revisionswerbers nach Afghanistan stehe somit nicht mehr im Widerspruch zu § 8 Abs. 1 AsylG 2005, weshalb die Aberkennung des subsidiären Schutzes zu erfolgen habe.
7 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der im Wesentlichen geltend gemacht wird, das BVwG sei von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es einerseits die Richtlinien des UNHCR vom 30. August 2018 (zur Frage des Vorhandenseins einer innerstaatlichen Fluchtalternative) vollkommen unbeachtet gelassen habe, und andererseits übersehen habe, dass der Revisionswerber kein alleinstehender bzw. kinderlos verheirateter Mann sei, sondern er ein ebenfalls in Österreich aufhältiges minderjähriges Kind habe, auf das sich die gegenständliche Entscheidung negativ auswirke.
8 Das BFA erstattete zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
9 Die Revision ist zulässig und begründet.
10 Gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Schutzstatus (§ 8 Abs. 1 leg. cit.) nicht oder nicht mehr vorliegen.
11 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfasst der erste Fall des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 die Konstellation, in der der Fremde schon im Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz die dafür notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt hat. § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall Asyl 2005 betrifft hingegen jene Konstellationen, in denen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nachträglich weggefallen sind (vgl. VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, Rn. 77; 14.8.2019, Ra 2016/20/0038, Rn. 32; 17.10.2019, Ro 2019/18/0005, Rn. 17). 12 Im gegenständlichen Fall hat das BVwG die Aberkennung des subsidiären Schutzes auf § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 gestützt.
13 Die Heranziehung dieses Tatbestands setzt voraus, dass sich der Sachverhalt seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes bzw. der erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 (die nur im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung erteilt werden darf) geändert hat (vgl. dazu etwa VwGH 17.10.2019, Ra 2019/18/0353, mwN).
14 Nicht jede Änderung des Sachverhalts rechtfertigt allerdings die Aberkennung des subsidiären Schutzes. Eine maßgebliche Änderung liegt unter Bedachtnahme auf die unionsrechtlichen Vorgaben von Art. 19 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) vielmehr nur dann vor, wenn sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, dass ein Anspruch auf subsidiären Schutz nicht länger besteht.
15 Der Wegfall der Notwendigkeit, auf den Schutz eines anderen Staates angewiesen zu sein, kann sich dabei auch als Ergebnis unterschiedlicher Entwicklungen von Ereignissen, die sowohl in der Person des Fremden als auch in der in seinem Heimatland gegebenen Situation gelegen sind, darstellen (vgl. etwa VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, Rn. 101).
16 Die wesentliche Änderung der Umstände erblickte das BVwG im vorliegenden Fall darin, dass der Revisionswerber an jener Krankheit, die entscheidend für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz an den Revisionswerber gewesen sei, nicht mehr leide. Damit legt das BVwG in der Person des Fremden gelegene Sachverhaltsänderungen dar, die grundsätzlich geeignet wären, eine Aberkennung nach § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 zu rechtfertigen.
17 Als weitere Voraussetzung für die Aberkennung muss allerdings geprüft werden, ob eine Rückkehr des Betroffenen in den Herkunftsstaat in der jetzigen Situation ohne Beeinträchtigung seiner in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 geschützten Rechte möglich ist. 18 In diesem Zusammenhang scheint das BVwG - unausgesprochen - davon auszugehen, dass eine Rückkehr des Revisionswerbers in seine Heimatprovinz Kunar nicht ungefährdet möglich ist, weil es den Revisionswerber - ebenfalls nur implizit - auf eine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 2005 in der afghanischen Hauptstadt Kabul verweisen möchte. 19 Diesbezüglich verweist die Revision zu Recht auf zwei Umstände, die bei der Beurteilung des Sachverhalts durch das BVwG mangelhaft erfolgt sind, weshalb das angefochtene Erkenntnis schon deshalb keinen Bestand haben kann:
20 Zum einen ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken ist ("Indizwirkung"). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden an entsprechende Empfehlungen des UNHCR gebunden wären. Sie haben sich aber mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. etwa VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533, auf dessen nähere Begründung gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird).
21 Die gebotene Auseinandersetzung mit den aktuellen UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, die angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage eine interne Schutzalternative in der Stadt Kabul für grundsätzlich nicht verfügbar ansehen, hat das BVwG fallbezogen zur Gänze unterlassen und sein Verfahren dadurch mit einem Verfahrensmangel belastet.
22 Zum anderen hat das BVwG zwar berücksichtigt, dass der Revisionswerber ein verheirateter Vater eines minderjährigen Kindes (im Alter von zwei Jahren) ist und sich seine Ehefrau sowie der minderjährige Sohn ebenfalls in Österreich aufhalten. Es hat festgestellt, dass diese Familienangehörigen "mit Erkenntnissen des selben Tages ebenfalls negativ finalisiert (...) und zur Ausreise verpflichtet" worden seien, weshalb die Familie nicht getrennt werde, sondern gemeinsam nach Afghanistan zurückkehren werde.
23 Bei dieser Ausgangslage reicht es nicht, die Rückkehrsituation des Revisionswerbers allein in den Blick zu nehmen. Dies wäre nur dann möglich, wenn von einer alleinigen Rückkehr des Revisionswerbers nach Afghanistan ausgegangen werden könnte, was wiederum Erwägungen zur Trennbarkeit der Familie unter Bedachtnahme auf Art. 8 EMRK vorausgesetzt hätte, welche das BVwG fallbezogen nicht angestellt hat. Es hätte daher einer genauen Überprüfung bedurft, ob es rechtlich zulässig ist, die Familie mit einem kleinen Kind nach Kabul zu verweisen.
24 Dabei wäre darauf Bedacht zu nehmen gewesen, dass es sich beim Minderjährigen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes um eine besonders vulnerable und besonders schutzwürdige Person handelt. Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob bei Rückkehr in die Heimat eine Verletzung der durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die Familie mit zumindest einem minderjährigen Kind - fallbezogen in Afghanistan - tatsächlich vorfinden wird (vgl. etwa jüngst VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0303 bis 0307, mwN).
25 Diesem Erfordernis entspricht das angefochtene Erkenntnis nicht. Es enthält keine Erwägungen dazu, welche konkrete Rückkehrsituation die Familie in Kabul vorfinden würde. Die nicht näher begründete Überlegung des BVwG, dem Revisionswerber werde es möglich und zumutbar sein, in Kabul eine berufliche Tätigkeit zu finden, um ein für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften, reicht dafür jedenfalls nicht.
26 Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Ermittlungs- und Begründungsmängel zu einem anderen Verfahrensergebnis gelangen hätte können, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
27 Von der beantragten mündlichen Verhandlung war gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abzusehen.
28 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 17. Dezember 2019
Schlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180381.L01Im RIS seit
31.01.2020Zuletzt aktualisiert am
31.01.2020