TE Bvwg Erkenntnis 2019/7/26 W261 2194016-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.07.2019
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Entscheidungsdatum

26.07.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W261 2194016-1/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , vertreten durch Mag. Robert BITSCHE, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich vom 22.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung von mündlichen Beschwerdeverhandlungen am 08.11.2018 und am 07.03.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Gang des Verfahrens:

Die Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsbürger, reisten nach seinen Angaben am 15.10.2015 nach Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Erstbefragungen des BF fand am 12.11.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für Dari statt. Dabei gab der BF an, dass er im Iran aufgewachsen und noch nie in Afghanistan gewesen sei. Die Afghanen hätten keine Rechte im Iran, die Lage sei unsicher. Aus Angst vor der Abschiebung nach Afghanistan habe er den Iran verlassen.

Am 21.03.2018 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich (in der Folge belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari. Er gab an, er sei in der Provinz Ghazni geboren, sei Hazara und habe gemeinsam mit seiner Familie Afghanistan verlassen, als er fünf Jahr alt gewesen sei. Er sei im Iran aufgewachsen, wo er fünf Jahre lang die Schule besucht habe. Er habe illegal als Schweißer auf Baustellen gearbeitet. Er sei verlobt, seine Verlobte lebe noch im Iran. Seine Familie habe Afghanistan wegen der Bedrohung durch die Hezb-e Wahdat verlassen. Der Bruder seines Vaters und dessen Sohn seien in den Bergen von einer Gruppe Paschtunen getötet worden. Ein paar Monate später seien Paschtunen getötet worden, und deren Familien seien davon ausgegangen, dass der Vater des BF den Tod seines Bruders gerächt habe und dafür verantwortlich sei. Außerdem hätte es Auseinandersetzungen zwischen der Hezb-e Wahdat und der Hezb-e Sepa, welcher sein Vater angehört habe, gegeben. Die Familie sei daher in den Iran gegangen, wo sie jedoch keine Aufenthaltsgenehmigung gehabt habe. Er habe befürchtet, entweder nach Afghanistan abgeschoben zu werden oder nach Syrien in den Krieg ziehen zu müssen, weswegen er aus dem Iran geflohen sei. Er befürchte im Falle einer Rückkehr von diesen Personen getötet zu werden, weil er der Sohn seines Vaters sei. Seine Familie sei zwei Monate nach ihm eingereist und lebe derzeit in Bregenz, er habe Kontakt zu seiner Familie. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen, unter anderem ein ÖSD Zertifikat Deutsch B1 vor.

Die belangte Behörde stellte fest, dass die Eltern des BF, sowie ein älterer und ein jüngerer Bruder und eine jüngere Schwester des BF in Österreich als Asylwerber leben.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.) und erließ gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, der BF habe keine Gefährdungslage für seine Person in Afghanistan glaubhaft gemacht. Es liege eine allgemeine Gefährdungslage in seiner Heimatprovinz vor, es bestehe eine innerstaatliche Fluchtalternative. Der BF habe Verwandte in Österreich, es könne keine Integrationsverfestigung festgestellt werden. Es bestehe zu seinen Verwandten, die ebenfalls noch das Asylverfahren anhängig hätten, keine enge Bindung, die einen dauerhaften Verbleib erfordern würde. Wesentlich sei, dass es sich bei diesen Verwandten nicht um Personen handle, die zum dauernden Aufenthalt in Österreich berechtigt seien, es aber eines dauernden Aufenthaltsrechtes bedürfe, um eine Bindung im Sinne des Art. 8 EMRK anzeigen zu können.

Der BF erhob mit Eingabe vom 23.04.2018, bevollmächtigt vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen diesen Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und führte begründend aus, dass der Bescheid vollinhaltlich angefochten werde. Das Ermittlungsverfahren sei mangelhaft geführt worden, die belangte Behörde habe es unterlassen, Ermittlungen zu einer allfälligen Gruppenverfolgung der Hazara durchzuführen. Die Länderfeststellungen seien mangelhaft geblieben. Die zitierten Länderberichte würden belegen, dass die Sicherheit- und Versorgungslage in Afghanistan prekär sei, und eine Rückkehr des BF, der in Afghanistan über kein soziales oder familiäres Netzwerk verfüge, sei diesem nicht zumutbar. Der BF entspreche einigen der Risikoprofile der UNHCR Richtlinie, vor allem sei er ein als "verwestlicht" wahrgenommener Mann, der Gefahr laufe, dass ihm von Nichtregierungskräften unterstellt werde, dass er die Regierung und die internationale Gemeinschaft unterstütze. Die Beweiswürdigung sei mangelhaft geblieben, insbesondere habe sich die belangte Behörde nicht mit dem Thema Blutfehde hinreichend auseinandergesetzt. Der BF laufe Gefahr, Opfer einer Blutfehde zu werden. Die belangte Behörde habe eine unrichtige rechtliche Beurteilung vorgenommen. Dem BF wäre bei richtiger rechtlicher Würdigung des Sachverhaltes internationaler Schutz, jedenfalls jedoch subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen. Die Rückkehrentscheidung sei jedenfalls unzulässig, weil der BF in Österreich bereits sehr gut integriert sei. Der BF beantragte die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung und die Stattgabe seiner Beschwerde. Er legte der Beschwerde eine Reihe von Integrationsunterlagen bei.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 30.04.2018 beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

Das BVwG führte am 08.11.2018 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Der BF wurde im Beisein seiner Vertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt und wurde ihm Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 29.10.2018, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.09.2018 zur Dürre in Herat und Mazar-e Sharif, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Hetb-e Wahdat/Harakt-e Islami, Auskunft der SFH Länderanalyse vom 06.10.2009 und eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Afghanistan, Christen, Konvertiten, Abtrünnige in Afghanistan vom 12.07.2017 vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist von drei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

Die belangte Behörde führte in ihrer Stellungnahme vom 12.11.2018 aus, dass dem Vorhalt des BF, dass bei der Ersteinvernahme falsch übersetzt worden sei, entschieden entgegengetreten werde. Hinsichtlich seines sozialen Netzwerkes habe der BF angegeben, dass er zwei Freunde in Afghanistan habe, einen Freund in Kabul und einen Freund in Herat. Es sei für die belangte Behörde nicht plausibel, dass der BF lediglich zwei Freunde in Afghanistan habe, es müsse vielmehr davon ausgegangen werden, dass weitere Freundschaften bestehen würden. Das Verhältnis zu seiner Familie dürfte sich etwas abgekühlt haben, weswegen auch die Voraussetzungen nach Art. 8 EMRK nicht vorliegen würden. Die Behauptungen Alkohol zu trinken, und sich vom Glauben abgewendet zu haben, werden als reine Schutzbehauptungen angesehen. Hinsichtlich der Fluchtgründe sei eindeutig zu erkennen, dass der Vater keine Hinweise auf eine Bedrohung durch die Hezb-e Wahdat vorgebracht habe. Der Fluchtgrund der befürchteten Blutrache liege nicht vor, da seit diesem Vorfall mittlerweile 20 Jahre vergangen seien, weswegen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine Gefährdung des BF vorliege. Hinsichtlich der Rückkehrmöglichkeit komme es nicht auf die Bereitschaft des BF zu Rückkehr an, sondern auf die Frage der Zumutbarkeit. Es liege für den BF eine zumutbare innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative vor. Der BF sei ein gesunder Mann im erwerbsfähigen Alter. Er gehöre keinem Personenkreis an, der in der Relation zu den anderen dort lebenden Menschen qualifiziert schutzbedürftiger sei. Hinsichtlich der Dürre in Herat und Mazar-e Sharif handle es sich um eine derzeit etwas verschärfte Situation mit temporärer Landflucht. Eine lebensbedrohliche Situation sei dafür für den BF im Falle seiner Rückkehr nicht abzuleiten. Die belangte Behörde führte weiters zur behaupteten Abkehr vom Glauben aus und stellte zusammenfassend den Antrag, die Beschwerde unbegründet abzuweisen.

Der BF, bevollmächtigt vertreten durch ARGE Rechtsberatung, Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, führte in seiner Stellungnahme vom 28.11.2018 im Wesentlichen aus, dass die Mutter, der Vater und die Schwester des BF in Österreich internationalen Schutz erhalten hätten, den beiden volljährigen Brüdern des BF sei subsidiärer Schutz gewährt worden. Der BF verfüge daher in Afghanistan über keinerlei Anknüpfungspunkte mehr, er sei im Falle seiner Rückkehr vollkommen auf sich alleine gestellt, dies ohne ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten in Afghanistan zu verfügen. Sein volljähriger Bruder habe mit dieser Begründung subsidiären Schutz erhalten, genau dies treffe auch auf den BF zu. Jedenfalls wäre dem BF aufgrund des bestehenden Privat- und Familienlebens in Österreich ein Aufenthaltstitel nach Art. 8 EMRK zu gewähren. Neben dem Familienleben sei beim BF auch das Privatleben schützenswert. Der BF zitierte in weiterer Folge Erkenntnisse des BVwG, wonach Asylwerbern in ähnlicher Situation subsidiärer Schutz gewährt worden. Die Sicherheitslage in Afghanistan sei prekär, wie dies die Länderberichte belegen würden. Dies treffe insbesondere auch auf die Stadt Kabul zu. Die Versorgungslage sei in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat ebenfalls prekär, den Rückkehrer/innen würde kein Wohnraum, kein Zugang zu Trinkwasser und sanitären Einrichtungen zur Verfügung stehen. Die Lage am Arbeitsmarkt sei sehr schlecht, die Armut sei groß. Die Rückkehrer/innen aus Europa müssten mit den Binnenvertriebenen um diese beschränkten Ressourcen kämpfen. Viele Rückkehrer/innen seien von Obdachlosigkeit bedroht. Der BF zitierte ausführlich diverse Länderinformationen und kam zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass ihm nach einer individuellen Einzelfallprüfung, insbesondre im Hinblick auf seine lange Abwesenheit aus Afghanistan, des Umstandes, dass er Hazara sei, keine Ortskenntnisse habe, Dürre herrsche, er keine finanziellen Eigenmittel habe, ein Rückkehrer aus dem Iran mit hörbarem Farsi Dialekt sei, ohne familiäres oder soziales Netzwerk, ohne Schul- oder Berufsausbildung nicht in der Lage sei, sich seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Er fühle sich auch nicht in die afghanische Gesellschaft integriert, zumal er durchaus eine liberale, "verwestlichte" Lebenshaltung eingenommen habe, eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar sei. Es sei ihm daher zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.

Mit Eingabe ohne Datum, eingelangt am 01.03.2019, informierte der BF das BVwG darüber, dass er Mag. Robert BITSCHE, Rechtsanwalt in Wien mit seiner Vertretung beauftragt habe. Die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe teilte mit Eingabe vom 06.03.2019 mit, dass die Vertretungs- und Zustellvollmacht zurückgelegt werde.

Das BVwG führte am 07.03.2019 eine weitere öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Der BF wurde im Beisein seines Rechtsvertreters und eines Dolmetschers für die Sprache Farsi ergänzend zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt und wurde ihm Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor. Im Zuge dieser Verhandlung erfolgte auch die zeugenschaftliche Einvernahme des Vaters des BF zu den Gründen, weswegen die Familie einst Afghanistan verließ.

Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 30.01.2019, Auszüge aus den aktuellen EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 und eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN: Stammeskonflikte, Blutrache, Pashtunwali vom 19.10.2018 vor räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist von drei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

Der BF führte durch seine bevollmächtige Vertretung in seiner Stellungnahme vom 21.03.2019 im Wesentlichen aus, dass der BF als Mitglied der sozialen Gruppe der Familie von Blutrache betroffen sei, weswegen er einer aslyrelavten Verfolgung ausgesetzt sei. Dies würden auch die EASO Leitlinien bestätigen. Er habe im Falle seiner Rückkehr Diskriminierungen als Hazara zu befürchten, die UNCHR Richtlinien würden sogar von einer sytematischen Verfolgung von Angehörigen der Volksgruppe der Hazara ausgehen. Der BF sei daher als Angehöriger dieser Volksgruppe besonders von Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, wie Taliban und IS bedroht. Das Leben des BF in Österreich stelle einen deutlichen Bruch mit den afghnischen Traditionen dar, er werde sich im Falle der Rückkehr dem Vorwurf der Apostasie ausgesetzt sehen. Er falle damit auch unter eines der in der UNHCR Richtlinie genannten Risikoprofile. Der BF zähle nach Durchführung einer Einzelfallprüfung zu einer besonders vulnerablen Personengruppe. Die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage sei sehr schlecht, wie auch andere zitierte Länderinformationen belegen würden. Der Großteil der Kernfamilie des BF lebe in Österreich, und seinen Eltern, seiner Schwester und seinem Bruder sei der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden, einem Bruder sei subsidärer Schutz gewährt worden. Da beim BF die selben Umstände, wie bei seinem Bruder vorliegen, wäre auch ihm jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren. Der BF sei bestens in Österreich integriert, er habe in Afghanistan keinerlei Anknüpfungspunkte mehr. Es werden alle Beschwerdeanträge aufrecht erhalten.

Die belangte Behörde führte in deren Stellungnahme vom 12.04.2019 zu der ihr vom BVwG übermittelten Stellungnahme des BF vom 21.03.2019 insbesondere zu dem in der Stellungnahme unter anderem zitierten Gutachten der Friederike Stahlmann aus, dass dieses nicht den gleichen Beweiswert wie UNHCR, EASO oder die Länderinformationsberichte habe.

Das BVwG schaffte im Wege der Amtshilfe die Protkolle der Erstbefragungen, der Ersteinvernahmen und die Bescheide der Eltern, der Schwester und der beiden Brüder des BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich bei.

Das BVwG führte am 27.06.2019 eine Abfrage im GVS System durch, wonach der BF seit 10.12.2015 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung bezieht.

Aus dem vom BVwG am 27.06.2019 eingeholten Auszug aus dem Strafregister ist ersichtlich, dass im Strafregister der Republik Österreich für den BF keine Verurteilungen aufscheinen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu den Spruchpunkten A)

1. Feststellungen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX geboren am XXXX im Dorf XXXX , im Distrikt Jaghori in der Provinz Ghazni und ist Afghanischer Staatsangehöriger. Der BF gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht auch Farsi und Deutsch. Der BF ist Zivilist.

Der BF wuchs bis zu seinem fünften Lebensjahr in der Provinz Ghazni auf. Die Familie verließ im Jahr 1376 (entspricht 1997/1998) Afghanistan und lebte in weiterer Folge bis zu deren Ausreise im Iran. Der BF besuchte im Iran für fünf Jahre eine illegale, afghanische Schule. Er verfügt über keine Berufsausbildung, arbeitete im Iran jedoch als Schweißer.

Der BF ist seit 2013 mit XXXX verheiratet. Die Ehe wurde im Iran vor einem Mullah geschlossen und ist kinderlos. Die Ehefrau des BF lebt nach wie vor im Iran. Der BF hat regelmäßigen Kontakt mit seiner Ehefrau.

Der Vater des BF heißt XXXX , geboren am XXXX ( XXXX ), IFA Zl. XXXX . Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, gab dessen Antrag auf internationalen Schutz vom 04.01.2016 mit Bescheid vom 14.11.2018 statt und erkannte diesem den Status des Asylberechtigten zu. Die Behörde stellte in diesem Bescheid fest, dass der Vater des BF keine eigenen Fluchtgründe angab, und ihm den Status von Asylberechtigten im Rahmen des Familienverfahrens als Ehegatte der XXXX , der Ehefrau seines Vaters, und der Mutter des BF, zu gewähren gewesen ist.

Die Mutter des BF heißt XXXX , geboren am XXXX , IFA Zl. XXXX . Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich gab deren Antrag auf internationalen Schutz vom 04.01.2016 mit Bescheid vom 14.11.2018 statt und erkannte dieser den Status der Asylberechtigten mit der Begründung zu, dass sie Flucht vor Verfolgung glaubhaft machte.

Der BF hat zwei Brüder und eine Schwester, welche beide ebenfalls in Österreich leben. Der ältere Bruder des BF heißt XXXX , geboren am XXXX , IFA Zl. XXXX . Der Bruder des BF ist verheiratet und Vater eines Sohnes. Der Bruder des BF unterzog sich im Jahr 1378 (1999) im Iran einer Nierentransplantation. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich wies dessen Antrag auf internationalen Schutz vom 04.01.2016 mit Bescheid vom 22.02.2019 ab (Spruchpunkt I) ab, und erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AslyG bis zum 22.02.2020. Die Behörde stellte im genannten Bescheid fest, dass der Bruder des BF über ein Nierentransplantat verfügt, und er bereits in naher Zukunft eine neue Spenderniere benötigen wird. Die dazu notwendige Operation ist im Heimatland nicht durchführbar. Im Falle der Rückkehr werden er und seine Familie jedenfalls in eine existentielle Notlage geraten.

Der jüngere Bruder des BF heißt XXXX , geboren am XXXX , IFA Zl. XXXX . Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich wies dessen Antrag auf internationalen Schutz vom 07.01.2016 mit Bescheid vom 14.11.2018 ab (Spruchpunkt I) ab, und erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AslyG bis zum 14.11.2019. Die Behörde stellte im genannten Bescheid fest, dass der Bruder des BF in Afghanistan über keine familiären Anknüpfungspunkte verfügt. Er wäre im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan vollkommen auf sich alleine gestellte und jedenfalls gezwungen nach einem Wohnraum zu suchen, ohne jedoch über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten in Afghanistan zu verfügen. Die Eltern und Geschwister des BF leben in Österreich, den Eltern wurde Asyl zuerkannt, die Geschwister verfügen über einen Aufenthaltstitel. Aufgrund der Volljährigkeit konnte kein Familienverfahren geführt werden.

Die Schwester des BF heißt XXXX , geboren am XXXX , IFA Zl. XXXX . Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich gab deren Antrag auf internationalen Schutz vom 04.01.2016 mit Bescheid vom 14.11.2018 statt und erkannte dieser den Status der Asylberechtigten mit der Begründung zu, dass sie Flucht vor Verfolgung glaubhaft machte.

Die Familie des BF lebt in Vorarlberg. Der BF hat regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie.

Er hat keine Verwandten in Afghanistan. Eine Tante mütterlicherseits des BF lebt auch in Österreich. Der BF hat Verwandte väterlicherseits in Australien.

Der BF reiste im Herbst 2015 aus dem Iran aus und gelangte über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Ungarn nach Österreich, wo er am 12.11.2015 illegal einreiste und am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2 Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Der BF ist nicht Gefahr, von Paschtunen bzw. Vertretern der Hezb-e Whadat verfolgt und getötet zu werden.

Der BF war in seinem Heimatland Afghanistan keiner psychischen oder physischen Gewalt aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt, noch hat er eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten.

Der BF wurde in Afghanistan nie persönlich bedroht oder angegriffen, es droht ihm auch künftig keine psychische und/oder physische Gewalt von staatlicher Seite, und/oder von Aufständischen, und/oder von sonstigen privaten Verfolgern in seinem Herkunftsstaat.

Es kann nicht festgestellt werden, dass konkret der BF auf Grund der Tatsache, dass er sich seit dreieinhalb Jahren in Europa aufhält bzw. dass jeder afghanische Staatsangehörige, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre. Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner "westlichen Wertehaltung" psychische und/oder physische Gewalt drohen würde.

Dem BF droht wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder zur schiitischen Religion konkret und individuell keine physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Nicht jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Religion ist in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Auch sonst haben sich keine Hinweise für eine dem BF in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

1.3 Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung am 12.11.2015 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Er bezieht seit seiner Einreise Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.

Der BF besuchte Deutschkurse, derzeit auf Niveau B1, und verfügt über Kenntnisse der deutschen Sprache. Der BF arbeitet einmal wöchentlich für zweieinhalb Stunden als freiwilliger Mitarbeiter für Mutter-Kind-Bildungsaktivitäten bei XXXX , einem Lern- und Familienzentrum. Seit September 2017 engagiert sich der BF wöchentlich freiwillig in der XXXX als freiwilliger Freizeitpartner. Er unternimmt gemeinsam mit einem intellektuell beeinträchtigen Bewohner Ausflüge und unterstützt ihn bei sportlichen und sonstigen Unternehmungen. Der BF absolvierte in der Zeit von August bis Dezember 2018 einen Brückenkurs der VHS XXXX . Der BF nahm am 25.10.2017 an einem Modul "Sicherheit & Polizei" teil.

In seiner Freizeit geht der Beschwerdeführer besucht der BF das Fitnesscenter. Neben Freundschaften konnten keine weiteren substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens des BF in Österreich festgestellt werden.

Der BF lebte und lebt in Österreich mit seiner Familie nicht in einem gemeinsamen Haushalt. Es besteht zwischen dem BF und seiner Familie kein Abhängigkeitsverhältnis und auch kein Naheverhältnis, das über ein Verhältnis, welches zwischen erwachsenen Kindern und deren Eltern bzw. Geschwistern üblicherweise besteht, hinausgeht.

Der BF wird von seinen Vertrauenspersonen als kontaktfreudig, respektvoll, empathisch, geduldig, flexibel, mit pädagogischem und didaktischen Grundwissen, sehr verlässlich, pünktlich, höflich, engagiert, wertschätzend im Umgang, sympathisch, interessiert, gewissenhaft, ernsthaft, zielstrebig, freundlich, hilfsbereit, mit tadellosen Umgangsformen und mit hoher sozialer Kompetenz beschrieben.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.4 Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Überstellung in seine Herkunftsprovinz Ghazni aufgrund der volatilen Sicherheitslage in dieser Provinz ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Dem BF steht als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF droht bei seiner Rückkehr in diese Stadt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.

Der BF ist jung und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen Ressourcen - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise. Er hat eine fünfjährige Schulausbildung, weiters hat er bereits Berufserfahrung als Schweißer gesammelt, die er auch in Mazar-e Sharif wird nutzen können.

Der BF ist gesund. Der BF läuft im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten, oder dass sich eine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern wird. Es sind auch sonst keine objektivierten Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere schwerwiegende körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des BF in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

1.5 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 30.01.2019 (LIB), sowie die in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR), in den EASO Richtlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 (EASO 2018), in der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN: Stammeskonflikte, Blutrache, Paschtunwali vom 19.01.2018 (Staatendokumentation Blutrache) und in der Auskunft der SFH- Länderanalyse Afghanistan: Hezb-e Wahdat/Harakt-e Islami vom 06.10.2009 (SFH) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.5.1. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen.

Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. (LIB)

1.5.2 Gahzni

Ghazni, die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers, ist eine der wichtigsten Zentralprovinzen Afghanistans. Ghazni liegt 145 km südlich von Kabul Stadt entfernt und liegt an der Autobahn Kabul-Kandahar. Ghazni grenzt im Norden an die Provinzen (Maidan) Wardak und Bamyan, im Osten an Logar, Paktia und Paktika, im Süden an Zabul und im Westen an Uruzgan und Daikundi. Laut dem afghanischen Statistikbüro (CSO) ist Ghazni die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl, die auf 1.270.3192 Bewohner/innen geschätzt wird. Hauptsächlich besteht die Bevölkerung aus großen Stämmen der Paschtunen sowie Tadschiken und Hazara; Mitglieder der Bayat, Sadat und Sikh sind auch dort vertreten, wenngleich die Vielzahl der Bevölkerung Paschtunen sind.

Die Provinz Ghazni zählt zu den relativ volatilen Provinzen im südöstlichen Teil des Landes zählt. Die Taliban und Aufständische anderer Gruppierungen sind in gewissen Distrikten aktiv, wobei es in der Provinz kommt zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Aufständischen kommt.

Im Zeitraum 01.01.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 163 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 353 zivile Opfer in Ghazni (139 getötete Zivilisten und 214 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von IEDs und gezielten/willkürlichen Tötungen. Dies bedeutet einen Rückgang von 11% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Für den Zeitraum 01.01.-15.07.2017 wurden IS-bezogene Vorfälle in der Provinz gemeldet - insbesondere an der Grenze zu Paktika. Zwischen 16.07.2017 - 31.01.2018 wurden hingegen keine Vorfälle registriert.

(LIB)

Sowohl Das Haqqani-Netzwerk, als auch die Taliban sind in manchen Regionen der Provinz aktiv. Sicherheitsbeamte sprechen von mehreren Gruppierungen, die in der Provinz aktiv sind, während die Taliban selbst behaupten, die einzige Gruppierung in der Provinz Ghazni zu sein. Basierend auf geheimdienstlichen Informationen, bestritt das afghanische Innenministerium im Jänner 2018, dass der IS in der Provinz Ghazni aktiv sei.

Die Provinz Ghazni zählt laut EASO zu jenen Provinzen Afghanistans, wo willkürliche Gewalt stattfindet und allenfalls eine reelle Gefahr festgestellt werden kann, dass der BF ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie nehmen könnte - vorausgesetzt, dass er aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse von derartigen Risikofaktoren konkret betroffen ist. (EASO 2018)

1.5.1.2 Provinz Balkh

Hingegen handelt es sich bei der Provinz Balkh, mit deren Hauptstadt Mazar-e Sharif, laut EASO um einen jener Landesteile, wo willkürliche Gewalt ein derart niedriges Ausmaß erreicht, dass für Zivilisten im Allgemeinen keine reelle Gefahr besteht, von willkürlicher Gewalt im Sinne von Art 15 (c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen zu sein. (EASO 2018)

Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften, oder auch zu Angriffen auf Einrichtungen der Sicherheitskräfte. Im Zeitraum 01.01.2017 - 30.4.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.

Im gesamten Jahr 2017 wurden 129 zivile Opfer (52 getötete Zivilisten und 77 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Bodenoffensiven und Blindgänger/Landminen. Dies bedeutet einen Rückgang von 68% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016.

Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften finden statt. Regierungsfeindliche Gruppierungen versuchen ihren Aufstand in der Provinz Balkh voranzutreiben. (LIB)

1.5.2 Sichere Einreise

Die Stadt Mazar-e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher erreichbar. Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher. (EASO 2018)

1.5.3 Wirtschafts- und Versorgungslage

Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut auch im Jahr 2018 weiterhin zu.

In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Über 40% der erwerbstätigen Bevölkerung gelten im Jahr 2018 als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.

Die afghanische Regierung hat Bemühungen zur Armutsreduktion gesetzt und unterstützt den Privatsektor weiterhin dabei, nachhaltige Jobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Die Ausstellung von Gewerbeberechtigungen soll gesteigert, steuerliche Sanktionen abgeschafft und öffentlich-private Partnerschaften entwickelt werden; weitere Initiativen sind geplant. (LIB)

1.5.3.1 Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region. (LIB)

In Mazar-e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Als Alternative dazu stehen ferner günstige Unterkünfte in "Teehäusern" zur Verfügung. Generell besteht in Mazar-e Sharif laut EASO, trotz der im Umland herrschenden Dürre, keinerlei Lebensmittelknappheit. In Mazar-e Sharif haben die meisten Leute laut EASO Zugang zu erschlossenen Wasserquellen sowie auch zu besseren Sanitäreinrichtungen. Schulische Einrichtungen sind in Mazar-e Sharif vorhanden. (EASO 2018)

1.5.4 Medizinische Versorgung

Medizinische Versorgung ist in Afghanistan insbesondere in größeren Städten wie etwa auch in Mazar-e Sharif sowohl in staatlichen als auch privaten Krankenhäusern verfügbar. In Mazar-e Sharif zählt dazu das Alemi Krankenhaus. Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände - die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden - sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar.

(LIB)

1.5.5 Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Die schiitische Minderheit der Hazara, zu welchen der BF zählt, macht etwa 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten.

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können.

Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert.

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Einer Quelle zufolge existiert in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Einer weiteren Quelle zufolge, beschweren sich Mitglieder der Hazara-Ethnie über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. So berichtet eine weitere Quelle, dass Arbeitsplatzanwerbung hauptsächlich über persönliche Netzwerke erfolgt. Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke.

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen.

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert.

(LIB)

1.5.6 Religion

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 10-15 % Schiiten, wie es auch der BF ist. (LIB)

Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS. (LIB)

1.5.7 Rückkehrer/innen

In der Zeit von 2012 bis 2017 sind 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei der Großteil der Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran kommen. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück. In der Provinz Balkh ließen sich von den insgesamt ca. 1,8 Millionen Rückkehrer/innen in der Zeit von 2012 bis 2017 109.845 Personen nieder.

Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen besteht auch für zurückkehrende Flüchtlinge das Risiko, in die Armut abzurutschen. Sowohl das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations World Food Programme) als auch andere UN-Organisationen arbeiten mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Kapazität humanitärer Hilfe zu verstärken, rasch Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und Hygiene- und Nahrungsbedürfnisse zu stillen.

Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (BFA Staatendokumentation 4.2018). Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.

Die Großfamilie ist für Zurückkehrende die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Quellen zufolge haben aber alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen. Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.

Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen "professionellen" Netzwerken (Kolleg/innen, Kommilitonen etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. (LIB)

Afghanische Flüchtlinge im Iran

Die letzten zwei bis drei Jahre zeigen doch auf eine progressivere Entwicklung für Afghanen im Iran, wo sich die Maßnahmen der iranischen Behörden auf einen höheren Integrationsgrad der Afghanen zubewegen. Die freiwillige Rückkehr der afghanischen Flüchtlinge ist immer noch das Hauptziel der iranischen Flüchtlingspolitik, aber man hat eingesehen, dass dies im Moment nicht in größerem Maße geschehen kann. Deshalb versucht man Maßnahmen zu ergreifen, die die Situation für die Afghanen verbessern, während man darauf wartet, dass eine Rückkehr stattfinden kann. Es gibt heute einen politischen Willen, die Fähigkeit der Afghanen, sich besser selbst zu versorgen und selbstständiger zu werden, zu unterstützen, aber gleichzeitig sind die Ressourcen des Iran begrenzt und dies bedeutet eine große Herausforderung für die iranischen Behörden. Es gibt auch von den iranischen Behörden nicht zuletzt aus sicherheitsmäßigen Aspekten Interesse daran, mehr Kenntnisse über die Anzahl der sich illegal im Land aufhaltenden Staatsbürger zu erhalten. Dieses hatte zur Folge, dass die iranischen Behörden im Jahr 2017 mit einer Zählung (headcount) und der Registrierung der Afghanen, die sich illegal im Land aufhalten, begonnen haben. In dieser ersten Runde hat man einige ausgewählte Kategorien priorisiert, beispielsweise nicht-registrierte Afghanen, die mit iranischen Staatsbürgern verheiratet sind und Kinder in der Schule haben.

Die Mehrheit der Afghanen, die sich sowohl legal als auch illegal im Land aufhalten, wohnen in von Afghanen dominierten urbanen und halb-urbanen Gebieten. Schätzungen zufolge leben circa 57% der Afghanen im Iran in der Provinz Teheran, Isfahan sowie Razavi-Chorsan (mit Maschhad als Hauptort). Um die 22% leben in den Provinzen Kerman, Fars und Ghom, während die Übrigen in den anderen Provinzen verteilt sind. Die afghanische Flüchtlingspopulation im Iran besteht aus einer Anzahl unterschiedlicher ethnischer Gruppen. Schätzungen über die registrierten Afghanen zufolge gehört die Mehrheit von ihnen der Ethnie der Hazara an, gefolgt von Tadschiken, Paschtunen, Belutschen und Usbeken. Es fehlen Zahlen zur nicht-registrierten Gemeinschaft, dennoch stellen auch hier die Hazara und die Tadschiken eine Mehrheit dar. (LIB)

1.5.8 Blutfehde

Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat. (UNHCR)

Konflikte um Privateigentum, Frauen und Körperverletzung unter Paschtunen führen oft zu Blutfehden zwischen Familien und ganzen Clans. Das Paschtunwali, der ungeschriebene Verhaltenskodex der Paschtunen in den pakistanischen Provinzen Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan, sowie den paschtunischen Gebieten Afghanistans, basiert auf den Grundsätzen von Gleichheit und Vergeltung. Jeder Verstoß gegen den Kodex kann schwerwiegende Folgen haben, wie z.B. das Abbrennen des Hauses, Vertreibung aus der Region, usw. Die Blutrache ist ein Phänomen das eng mit dem paschtunischen Konzept der Ehre, das auch im Paschtunwali verankert ist, verbunden. Morde können im Zusammenhang mit Konflikten jederlei Art in Blutrache enden. Dabei sind Konflikte um Land und Wasser sehr häufig Grund von Blutfehden, gefolgt von Familienkonflikten.

Das soziale Gefüge der Paschtunen verändert sich und passt sich neuen Gegebenheiten an. So ist das Paschtunwali, laut einem Experten, kein statischer Prinzipienkanon, sondern lebendig; es entwickelt sich dynamisch. Jahrelang anhaltende und verheerende Kriege haben dabei die Autorität der Stammesältesten teilweise durch jüngere militärischer Führer ersetzt. Ihre oft gewaltsame Selbstbehauptung gegenüber traditionellen Sitten, sowie ihre Missachtung der traditionellen Autorität der Ältesten, haben "neue Werte" geschaffen, die zu den traditionellen Werten oft im Widerspruch stehen und Gewalttaten und Misshandlungen rechtfertigen. (Staatendokumentation Blutrache)

1.5.9 Hezb-e Wahdat

Die verschiedenen Hazara-Parteien oder -bewegungen waren in den 1980er-Jahen untereinander stark zersplittert und vertraten in Bezug auf die Pläne oder Vorstellungen für die Zukunft des Hazarajat unterschiedlichste Ansichten. Diese Uneinigkeit führte zu erbitterten Kämpfen der Hazara-Organisationen untereinander, wodurch die einzelnen Organisationen ihre Glaubwürdigkeit und ihren Rückhalt unter den Hazara verloren. Um diese Streitigkeiten zu überwinden und die Hazara-Kräfte zu vereinen, fand 1988 ein Treffen verschiedener Hazara-Parteichefs statt. Aus diesem Treffen ging die Hezb-e Wahdat hervor.

Die 1989 gegründete Hezb-e Wahdat ist die Hauptpartei der afghanischen Schiiten und der Hazara. Sie bildet zudem eine militärische Kraft. Parteiführer war ursprünglich Abdul Ali Mazari. Nach dessen Tod übernahm Karim Khalili, Vizepräsident unter Karzai, die Nachfolge. Ein weiterer wichtiger Parteiführer ist Jah Mohammad Mohaqiq, unter Karzai Minister für Planung. Die Hezb-e Wahdat verfolgt einen moderaten Islam sowie einen Hazara-Nationalismus.

Generell bestanden viele Konflikte zwischen den verschiedenen Mujaheddin Parteien, sowohl vor der Machtübernahme durch die Taliban als auch nach dem Sturz der Talibanherrschaft. (SFH 2009)

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Die Fests

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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