TE Vwgh Erkenntnis 1998/9/16 98/09/0147

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Veröffentlicht am 16.09.1998
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
67 Versorgungsrecht;

Norm

AVG §52;
KOVG 1957 §32;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke und Dr. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Enzlberger, über die Beschwerde des WW in B, vertreten durch Dr. Martina Schweiger-Apfelthaler, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Graf Starhemberg Gasse 39/12, gegen den Bescheid der Schiedskommission beim Bundessozialamt Wien, Niederösterreich und Burgenland vom 30. März 1998, Zl. OB. 214-197799-000, betreffend Abweisung des Antrages auf Ausstattung mit einem E-Rollstuhl nach dem KOVG, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 15.000,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der am 8. September 1923 geborene Beschwerdeführer beantragte am 11. Juni 1996 die Ausstattung mit einem E-Rollstuhl (Graf Carello). Die Behörde erster Instanz ersuchte den ärztlichen Dienst um Stellungnahme zu folgenden Fragen:

"1. Benötigt der Kb. den E-Rollstuhl

auf Grund der DB,

auf Grund akausaler Leiden, oder

im Zusammenwirken von kausalen und akausalen Leiden, wobei anzugeben ist, ob an der Notwendigkeit der Beistellung des Behelfes die DB. überwiegend beteiligt ist.

2. Ist dem Kb. die Bedienung eines handbetriebenen Rollstuhles noch zumutbar?

3. Ist der Kb. auf Grund seines geistigen und körperlichen Zustandes in der Lage einen E-Rollstuhl zu bedienen?

4. Ist die Wohnsituation des Kb. für den Einsatz eines E-Rollstuhles (sichere Einstellmöglichkeit, Möglichkeit zum Aufladen der Batterien, Einsatz im Innen- oder Außenbereich, Beschaffenheit des Einsatzgebietes) geeignet?"

Der ärztliche Sachverständige Dr. S., Facharzt für Nervenkrankheiten, beurteilte die Fragen mit Gutachten vom 17. September 1996 folgendermaßen:

"1. KB benötigt den Rollstuhl aufgrund der DB (Hemisyndrom links).

2. Die Bedienung eines handbetriebenen Rollstuhls ist wegen der Lähmung des linken Armes nicht zumutbar.

3. Er ist in der Lage (körperlich und geistig) einen E-Rollstuhl zu bedienen.

Die Teilnahme am öffentlichen Verkehr ist aber aufgrund der bestehenden Epilepsie nicht möglich.

4. Wohnsituation ist ebenes, kleinstädtisches Gebiet mit viel Grünfläche hinter dem Haus (gemeindeeigenes Zinshaus). Einstell- und Auflademöglichkeit gegeben, der Rollstuhl für Einsatz im Außenbereich vorgesehen, Einsatzgebiet günstig."

Die Behörde erster Instanz lehnte den Antrag mit Bescheid vom 20. November 1996 im wesentlichen mit der Begründung ab, daß der Sachverständige ausgeführt habe, der Beschwerdeführer sei in der Lage, einen E-Rollstuhl zu bedienen, aber wegen der bestehenden Epilepsie sei die Teilnahme am öffentlichen Verkehr nicht möglich.

In der dagegen erhobenen Berufung wendete der Beschwerdeführer ein, er sei sehr wohl verkehrstauglich, die epileptischen Anfälle hinderten ihn nicht an der Teilnahme am öffentlichen Verkehr.

Dr. S. nahm hiezu mit Schreiben vom 20. Jänner 1997 dahingehend Stellung, daß ein wenn auch in Behandlung befindliches, epileptisches Leiden sehr wohl eine Kontraindikation zur Teilnahme am öffentlichen Verkehr darstelle. Es könne das Auftreten eines Anfalles nicht ausgeschlossen werden und im Falle eines solchen sei die Verkehrstüchtigkeit nicht gegeben. Bei Besserung des Anfallsleidens und Anfallsfreiheit von mindestens zwei Jahren könnte eine Fahrerlaubnis unter Mitbeurteilung von EEG-Befunden wieder zugesprochen werden.

Dagegen wendete der Beschwerdeführer unter Nachreichung einer ärztlichen Bestätigung ein, daß er in den letzten drei Jahren keinen epileptischen Anfall gehabt habe. Über Aufforderung der belangten Behörde legte der Beschwerdeführer einen PL-EEG-Befund vom 18. August 1997 vor. Der Beschwerdeführer wurde hiebei in Ruhe, unter Hyperventilation und unter Flackerlicht untersucht. Am Patienten wurden "keine besonderen" Beobachtungen getätigt. Der Befund enthält folgende Beurteilung:

"Unerhebliche Allgemeinveränderungen, jedoch deutlicher wenn auch stark inveterierter Lokalbefund über dem rechten Vertex aboral. Lokale Residuen damit gut vereinbar, die cerebrale Erregungsausbreitung nur als marginal erhöht einzuschätzen."

Zu diesem Befund nahm Dr. S. am 11. November 1997 in einem als "nervenfachärztliches Sachverständigengutachten" betitelten Schreiben wie folgt Stellung:

"Die Teilnahme am Straßenverkehr ist aufgrund des vorliegenden EEG-Befundes trotz angeblicher dreijähriger Anfallsfreiheit weiterhin nicht möglich."

Der Beschwerdeführer hielt entgegen, daß Dr. S. keine medizinische Begründung angeführt habe, weshalb der EEG-Befund gegen die Teilnahme am öffentlichen Verkehr spreche. Die Abgabe einer genauen Stellungnahme sei daher nicht möglich. Er beantragte, den Akt dem Sachverständigen zur genauen Begründung vorzulegen.

Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde - ohne dem letztgenannten Antrag des Beschwerdeführers entsprochen zu haben - der Berufung keine Folge. In der Begründung vermengte sie Zitate aus den Stellungnahmen Dr. S. mit dem TL-EEG-Befund vom 18. August 1997, wobei sie die Beurteilung des letztgenannten Befundes in stark verkürzter Form wiedergab. Die belangte Behörde kam zum Schluß, daß die Gutachten Dr. S. schlüssig seien. Sie legte diese Gutachten in freier Beweiswürdigung ihrer Entscheidung zugrunde. Die belangte Behörde sei "im Hinblick auf das vorliegende medizinische Beweismaterial und nach fachkundiger ärztlicher Beratung" zur Überzeugung gelangt, daß der epileptische Leidenszustand eine Gegenanzeige gegen die Ausstattung mit einem E-Rollstuhl und damit gegen die Teilnahme am Straßenverkehr darstelle.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragte.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Gemäß § 32 Abs. 1 Kriegsopferversorgungsgesetz (KOVG 1957) hat der Beschädigte unter anderem zur Erleichterung der Folgen der Dienstbeschädigung Anspruch auf orthopädische Versorgung. Erwerbsunfähige haben Anspruch auf orthopädische Versorgung auch für Körperschäden, die mit der Dienstbeschädigung in keinem ursächlichen Zusammenhang stehen. Gemäß § 1 Abs. 3 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales über die orthopädische Versorgung in der Kriegsopferversorgung sind orthopädische Hilfsmittel unter anderem

Ziffer 11) handbetriebene Rollstühle (für den Haus- und Straßengebrauch) mit erforderlichem Zubehör, sofern auf andere Weise eine den Bedürfnissen des Beschädigten entsprechende Gehfähigkeit nicht erzielt werden kann und der Beschädigte in der Lage ist, den Rollstuhl zu benutzen;

Ziffer 12) elektrisch betriebene Rollstühle, sofern ein Beschädigter einen handbetriebenen Rollstuhl nicht selbst bedienen kann. Elektrisch betriebene Rollstühle dürfen bauartbedingt nicht mehr als 10 km/h erreichen.

Unstrittig steht fest, daß der Beschwerdeführer als erwerbsunfähig eingestuft ist und daher Anspruch auf orthopädische Versorgung bei allen Leiden hat. Nach der unbestrittenen Anamnese Dris. S. vom 17. September 1996 ist der Bewegungsradius des Beschwerdeführers durch eine nach kriegsbedingter Verletzung bestehende Halbseitenlähmung links eingeschränkt, insbesondere seit dem Tod der Gattin und der Tochter. Gehen in der Wohnung selbst sei möglich, Stiegensteigen nur mit Anhalten. Damit ist der belangten Behörde zunächst insoweit Recht zu geben, daß der Beschwerdeführer den beantragten Rollstuhl für die Fortbewegung außerhalb des Wohnhauses benötigt.

In der Anamnese vom 17. September 1996 ist weiters vermerkt, daß epileptische Anfälle vorhanden seien, "diese mit Bewußtlosigkeit mehrmals jährlich, zuletzt vor zwei Wochen". Dieser Anamnese steht jedoch das vom Beschwerdeführer am 21. Mai 1997 vorgelegte "ärztl. Attest" des praktischen Arztes Dr. M. entgegen, in dem dieser vermerkt, den Beschwerdeführer seit März 1985 als Patient zu kennen und daß beim Beschwerdeführer in den letzten drei Jahren seines Erachtens nach keine epileptischen Anfälle aufgetreten seien.

Dr. S. hat dieses ärztliche Attest nicht als unrichtig bezeichnet, sondern die dreijährige Anfallsfreiheit unter Voranstellung des Wortes "angeblicher" seiner letzten Stellungnahme vom 11. November 1997 zugrundegelegt.

Das Gutachten eines Sachverständigen hat aus einem Befund und dem Urteil, dem Gutachten im engeren Sinn, zu bestehen. Hiebei hat der Befund alle jene Grundlagen und die Art ihrer Beschaffung zu nennen, die für das Gutachten, das sich auf den Befund stützende Urteil, erforderlich sind. Dieses Urteil muß so begründet sein, daß die Behörde ihrer Aufgabe, das Sachverständigengutachten auf seine Schlüssigkeit zu überprüfen, nachkommen kann (vgl. die in Hauer-Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens5, Seite 373, zitierte hg. Rechtsprechung).

Im gegenständlichen Fall entspricht das von Dr. S. abgegebene "Gutachten" diesen Anforderungen nicht. Dr. S. hat selbst in der Stellungnahme vom 20. Jänner 1997 im Falle der Besserung des Anfallsleidens und "Anfallsfreiheit von mindestens zwei Jahren" die Zusprache einer Fahrerlaubnis unter Mitbeurteilung von EEG-Befunden in Aussicht gestellt. Er hat in der Folge das ärztliche Attest Dris. M. (drei Jahre lang keine epileptischen Anfälle) nicht als unrichtig bezeichnet. Im PL-EEG-Befund vom 18. August 1997 wurden am Patienten keine besonderen Beobachtungen verzeichnet und in der Beurteilung von unerheblichen Allgemeinveränderungen ausgegangen, jedoch bestehe ein deutlicher "wenn auch stark inveterierter Lokalbefund über dem rechten Vertex aboral". Damit seien lokale Residuen gut vereinbart, die cerebrale Erregungsausbreitung sei nur als marginal erhöht einzuschätzen.

Ohne nähere Begründung ist nicht nachvollziehbar, weshalb Dr. S. trotz möglicherweise bestehender dreijähriger Anfallsfreiheit, und unerheblichen Allgemeinveränderungen sowie als marginal erhöht eingeschätzter cerebralen Erregungsausbreitung bei einem deutlichen, wenn auch stark inveterierten Lokalbefund über dem rechten Vertex aboral die Teilnahme des Beschwerdeführers am Straßenverkehr als nicht möglich eingeschätzt hat.

Für das fortgesetzte Verfahren weist der Verwaltungsgerichtshof darauf hin, daß angesichts der maximalen Bauartgeschwindigkeit des E-Rollstuhles von 10 km/h und des von Dr. S. am 17. September 1996 als günstig eingestuften Einsatzgebietes für einen Rollstuhl nach dem Sinn des § 32 KOVG nur eine gravierende Selbst- oder Allgemeingefährdung durch Benützung des E-Rollstuhles im öffentlichen Verkehr bzw. Straßenverkehr (worunter jedenfalls auch die Benützung von Gehwegen zählt) die Abweisung des Antrages gerechtfertigt erscheinen ließe. Denn nur in diesem Falle stellte die Zurverfügungstellung eines E-Rollstuhles und deren Benützung nicht mehr die vom Gesetz geforderte "Erleichterung der Folgen der Dienstbeschädigung" sowie eine in der Verordnung über die orthopädische Versorgung in der Kriegsopferversorgung genannte "den Bedürfnissen des Beschädigten entsprechende Gehfähigkeit" dar, weil nur in diesem Falle die durch Benützung des E-Rollstuhles herbeigeführte (Selbst-)Gefährdung die Folgen der Dienstbeschädigung nicht erleichtern würde bzw. die erreichte Bewegungsmöglichkeit auf öffentlichen Verkehrsflächen nicht den Bedürfnissen des Beschädigten dienen würde.

Indem sich die belangte Behörde sohin auf ein unschlüssiges "Gutachten" des Dr. S. stützte, verletzte sie Verfahrensvorschriften, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können. Daher war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 16. September 1998

Schlagworte

Anforderung an ein Gutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1998:1998090147.X00

Im RIS seit

27.03.2001
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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