Index
001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AsylG 2005 §18Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2019/19/0086Ra 2019/19/0087Ra 2019/19/0088Ra 2019/19/0089Ra 2019/19/0090Ra 2019/19/0091Ra 2019/19/0092Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, über die Revisionen 1. des O A A, 2. der N A A,
3.
der K A A, 4. der No A A, 5. der H A A, 6. der S A A,
7.
des M A A und 8. des A A A, alle vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. Jänner 2019, L502 2150607-1/14E, L502 2150610-1/17E, L502 2150598-1/5E, L502 2150603-1/5E, L502 2150597-1/5E, L502 2150608-1/5E, L502 2150601-1/5E und L502 2150594-1/5E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien sind irakische Staatsangehörige. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind Ehegatten, die dritt- bis achtrevisionswerbenden Parteien sind ihre minderjährigen Kinder im Alter zwischen drei und fünfzehn Jahren. Der Erstrevisionswerber gehört der sunnitischen, die Zweitrevisionswerberin der schiitischen Glaubensrichtung an.
2 Die erst- bis siebentrevisionswerbenden Parteien stellten am 27. September 2015 und der in Österreich geborenen Achtrevisionswerber am 5. Februar 2016 Anträge auf internationalen Schutz. Zu ihren Fluchtgründen gaben sie an, der Erstrevisionswerber habe als Polizist in Bagdad gearbeitet. Im Zuge dieser Tätigkeit sei er in Konflikte mit schiitischen Milizen geraten, weil er mit den westlichen Truppen im Irak zusammengearbeitet und Mitglieder dieser Milizen aufgrund von Straftaten verhaftet habe. Aus Rache sei ihm im Jahr 2014 von den Milizen die Begehung eines Mordes unterschoben worden. Er werde deshalb nunmehr sowohl von diesen Milizen bzw. den irakischen Sicherheitskräften als auch von der Familie bzw. dem Stamm des vermeintlichen Mordopfers verfolgt. Die Zweitrevisionswerberin gab an, auch sie und ihre Kinder seien deshalb bedroht worden. 3 Mit Bescheiden vom 24. Februar 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte keine Aufenthaltstitel nach § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen die revisionswerbenden Parteien Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Irak zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest.
4 Die dagegen erhobenen Beschwerden der revisionswerbenden Parteien wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit den angefochtenen Erkenntnissen nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.
5 Das BVwG stellte fest, die revisionswerbenden Parteien stammten aus Bagdad. Der Erstrevisionswerber sei im Jahr 1991 in den Polizeidienst eingetreten. Seit dem Jahr 2008 sei er in Bagdad tätig gewesen, wo er auch für die Bekämpfung der Kriminalität eingesetzt worden sei. Das Vorbringen der revisionswerbenden Parteien zu den die Flucht auslösenden Ereignissen sei nicht glaubhaft. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass die revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in den Irak "aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt wären oder dort keine hinreichende Existenzgrundlage vorfinden würden". Beim Erstrevisionswerber handle es sich um einen arbeitsfähigen Mann. Angehörige des Erstrevisionswerbers, von denen Unterstützung zu erwarten sei, lebten im Südirak in der Stadt Nasiriya.
6 Zur Situation im Irak führte das BVwG - ohne Angaben von Quellen - aus, die allgemeine Sicherheitslage sei in der Vergangenheit von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den irakischen Sicherheitskräften und ihren Verbündeten mit dem sogenannten "Islamischen Staat" (IS) geprägt gewesen. Parallel dazu habe der IS versucht, die Situation durch Anschläge zu destabilisieren. Der IS sei sukzessive aus den zuvor kontrollierten Gebieten zurückgedrängt worden. Im Dezember 2017 habe der IS seine letzten territorialen Herrschaften verloren. Die Sicherheitslage in den kurdischen Autonomieregionen im Norden des Irak und in den südirakischen Provinzen sei insgesamt stabil. Der Großraum Bagdad sei von den bewaffneten Auseinandersetzungen weitgehend verschont geblieben. Seit dem Jahr 2016 sei es im Stadtgebiet jedoch zu mehreren Anschlägen bzw. Selbstmordattentaten
auf öffentliche Einrichtungen oder Plätze mit einer teils erheblichen Zahl an zivilen Opfern gekommen, die sich gegen staatliche Sicherheitsorgane oder gegen schiitische Wohnviertel gerichtet hätten, um dort ein Klima der Angst sowie religiöse Ressentiments zu erzeugen. Seit der Vertreibung des IS aus seinem früheren Herrschaftsgebiet seien jedoch "nur mehr wenige sicherheitsrelevante Ereignisse bzw. Entwicklungen bekannt" geworden.
7 Im Rahmen seiner Ausführungen zur Beweiswürdigung gab das BVwG dazu an, die "länderkundlichen Feststellungen" stütze es "auf seine Kenntnis von der notorischen allgemeinen Lage im Irak". Von den Beschwerdeführern sei weder vor dem BFA noch in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG ein "entgegenstehendes Vorbringen" erstattet worden. Ausgehend davon sei die "allgemeine Sicherheitslage im Irak" daher nicht so, dass schon mit der bloßen Anwesenheit das reale Risiko verbunden wäre, Opfer eines Terroranschlags oder sonstiger gewaltsamer Auseinandersetzungen zu werden.
8 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das BVwG aus, da das Fluchtvorbringen nicht glaubhaft gewesen sei, sei der Status von Asylberechtigten nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 nicht zuzuerkennen gewesen. Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz sei entgegen dem Wortlaut des § 8 AsylG 2005 nicht am Maßstab des Art. 3 EMRK zu messen, sondern setzte nach der nunmehrigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf VwGH 6.11.2018, Ra 2018/01/0106) voraus, dass die dafür in der Statusrichtlinie definierten Voraussetzungen erfüllt seien. Erforderlich sei daher, dass bei einer Rückkehr in das Herkunftsland die tatsächliche Gefahr bestehe, einen ernsthaften Schaden im Sinn des Art. 15 der Statusrichtlinie zu erleiden. Unter Berücksichtigung der Feststellungen zur Sicherheitslage sei eine Rückkehr der revisionswerbenden Parteien in den Irak nicht mit einer solchen Gefahr verbunden. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sei auch bei Berücksichtigung der - näher dargestellten - privaten und familiären Interessen der revisionswerbenden Parteien an einem Verbleib im Inland im Sinn des § 9 BFA-VG zulässig. Im Zuge der nach § 52 Abs. 9 iVm. § 50 Abs. 1 FPG zu treffenden Feststellung über die Zulässigkeit der Abschiebung sei zu prüfen, ob die Rückkehrentscheidung Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK verletze, wobei dies auch durch eine unzureichende Versorgungslage eintreten könne. Eine solche Bedrohung bestehe jedoch nicht.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Erkenntnisse erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Zur Zulässigkeit der Revision wird unter anderem und zusammengefasst vorgebracht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Anforderungen an die Begründung der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte, der Pflicht zur Erhebung der Lage im Herkunftsstaat unter Berücksichtigung von Länderinformationen, der Erhebung des realen Hintergrundes der Fluchtgeschichte und der Berücksichtigung der Vulnerabilität Minderjähriger abgewichen.
11 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
12 Die Begründung eines Erkenntnisses eines Verwaltungsgerichts hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Danach erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheids geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0459, mwN).
13 Im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten gilt das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG. Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. VwGH 25.6.2019, Ra 2019/19/0032, mwN).
14 Soweit es um die allgemeine Lage im Herkunftsstaat geht, haben die Asylbehörde und das Verwaltungsgericht diese von Amts wegen festzustellen und nachzuweisen (vgl. VwGH 23.1.2019, Ra 2019/19/0009, mwN; vgl. näher VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314). Geht es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern, haben die Asylbehörde und das Verwaltungsgericht von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch zu machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen (vgl. VwGH 20.5.2015, Ra 2015/20/0030; 21.2.2017, Ra 2016/18/0137).
15 Im vorliegenden Fall werden die angefochtenen Erkenntnisse diesen Anforderungen nicht gerecht. Das BVwG hat zur Lage im Irak nur kursorische und - wie im Folgenden näher dargelegt - für die rechtliche Beurteilung fallbezogen nur ungenügende Feststellungen getroffen.
16 Dazu tritt, dass das BVwG zu seinen rudimentären Feststellungen auch keine Quellen angegeben hat. Soweit das BVwG in diesem Zusammenhang ausführte, die Feststellungen stützten sich auf seine "Kenntnis von der notorischen allgemeinen Lage im Irak", ging es erkennbar davon aus, dass die festgestellten Tatsachen offenkundig im Sinn des § 45 Abs. 1 AVG seien.
17 "Offenkundig" im Sinn dieser Bestimmung ist eine Tatsache dann, wenn sie entweder "allgemein bekannt" ("notorisch") oder der Behörde im Zuge ihrer Amtstätigkeit bekannt und dadurch "bei der Behörde offenkundig" ("amtsbekannt") geworden ist (vgl. etwa VwGH 17.10.1995, 94/08/0269). Eine Behörde bzw. ein Verwaltungsgericht hat die Annahme, dass ein der Entscheidung zugrunde gelegter Sachverhalt offenkundig (§ 45 Abs. 1 AVG) ist, zu begründen (vgl. VwGH 29.4.2014, 2013/17/0669, mwN). Den Parteien ist Gelegenheit zur Stellungnahme darüber zu geben, was der Behörde amtsbekannt erscheint (vgl. VwGH 28.4.2004, 2002/03/0166, mwN). Erst auf dieser Grundlage ist eine Überprüfung der Richtigkeit der Sachverhaltsannahmen für die Parteien und den Verwaltungsgerichtshof möglich. Allein der Umstand, dass das Verwaltungsgericht einen bestimmten Sachverhalt - insbesondere die Lage im Herkunftsstaat eines Asylwerbers - als "notorisch" erachtet, genügt daher den Anforderungen an ein mängelfreies Verfahren nicht (vgl. VwGH 23.7.1999, 99/20/0156, mwN). 18 Das BVwG hat seine Annahme, die von ihm festgestellte Lage im Irak sei "notorisch", nicht begründet und den Parteien nach dem Akteninhalt auch keine Gelegenheit zur Stellungnahme zu den von ihm angenommenen Umständen eingeräumt. Eine Offenkundigkeit der getroffenen Feststellungen hinsichtlich der Sicherheitslage im Irak - insbesondere in Bagdad - kann aber ohnehin auch schon deshalb nicht nachvollzogen werden, weil das BFA in seinen zu den revisionswerbenden Parteien ergangenen Bescheiden vom 24. Februar 2017 wesentlich stärker differenzierende Feststellungen getroffen hat, die ein teilweise anderes Bild zeigen. Die Revision weist im Übrigen zutreffend darauf hin, dass Länderberichte internationaler Organisationen - etwa des UNHCR - zur Sicherheits- und Versorgungslage im Irak vorliegen, die zu berücksichtigen gewesen wären (vgl. zur "Indizwirkung" der Richtlinien des UNHCR VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533) und die ebenfalls ein differenzierteres Bild der Sicherheitslage zeigen. Damit ist aber weder die Richtigkeit noch die Aktualität der Feststellungen zur Lage im Irak überprüfbar.
19 Der Mangelhaftigkeit der Feststellungen des BVwG zur Lage im Irak kommt - worauf die Revision hinweist - im vorliegenden Fall auch Relevanz zu. Dazu ist zunächst hinsichtlich der Entscheidung über die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten darauf hinzuweisen, dass - entgegen den Ausführungen des BVwG - der Verwaltungsgerichtshof in dem vom BVwG zitierten Erkenntnis vom 6. November 2018, Ra 2018/01/0106, die Frage, ob § 8 Abs. 1 AsylG 2005 einer dem Unionsrecht (im Sinn der zu Art. 15 Statusrichtlinie ergangenen Rechtsprechung des EuGH) Genüge tuenden Auslegung zugänglich ist, ausdrücklich dahingestellt gelassen hat (Rn. 60 der Entscheidungsgründe). 20 Zwischenzeitig hat sich der Verwaltungsgerichtshof mit dieser Frage in seinem Erkenntnis vom 21. Mai 2019, Ro 2019/19/0006, beschäftigt und dargelegt, dass eine Interpretation, mit der die Voraussetzungen der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 mit dem in der Judikatur des EuGH dargelegten Verständnis des subsidiären Schutzes nach der Statusrichtlinie in Übereinstimmung gebracht würde, unter Beachtung des klaren Wortlautes des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 sowie der Entstehungsgeschichte und der systematischen Stellung der Norm die Grenzen der Auslegung nach den innerstaatlichen Auslegungsregeln überschreiten und zu einer - unionsrechtlich nicht geforderten - Auslegung contra legem führen würde. Infolge dessen ist an der bisherigen Rechtsprechung, wonach eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat - auch wenn diese Gefahr nicht durch das Verhalten eines Dritten (Akteurs) bzw. die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht wird - die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 begründen kann, festzuhalten. Es wird insoweit gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG des Näheren auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen. 21 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist hinsichtlich der Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 6.9.2018, Ra 2018/18/0315, mwN). Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann etwa auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten und daher die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründen, wenn - wobei eine solche Situation allerdings nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen ist - der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also seine Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können (vgl. näher VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, mit weiteren Hinweisen).
22 Eine besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung mit der Situation, die eine solche Person bei ihrer Rückkehr vorfindet (vgl. VwGH 2.8.2019, Ra 2019/19/0150, mwN). Eine solche Prüfung ist insbesondere bei Familien mit minderjährigen Kindern durchzuführen (vgl. VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0038, mwN). 23 Dem werden die angefochtenen Erkenntnisse nicht gerecht. Das BVwG geht nicht darauf ein, dass es sich bei den dritt- bis achtrevisionswerbenden Parteien um Minderjährige im Alter zwischen drei und fünfzehn Jahren handelt. Zur Versorgungslage im Herkunftsstaat hat das BVwG überhaupt jegliche Feststellungen unterlassen. Damit vermögen die Feststellungen aber die im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der Abschiebung vorgenommene rechtliche Schlussfolgerung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in den Irak keine Verletzung ihrer Rechte nach Art. 3 EMRK drohe, nicht zu tragen.
24 Die Mangelhaftigkeit der Länderfeststellungen des BVwG hat - wie die Revision zutreffend aufzeigt - im vorliegenden Fall aber auch Relevanz für die Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich schon wiederholt darauf hingewiesen, dass von den Asylbehörden eine Einbeziehung des realen Hintergrundes der von einem Asylwerber vorgetragenen Fluchtgeschichte in das Ermittlungsverfahren zu erwarten ist und die Behauptungen des Asylwerbers auch im Vergleich zu der Berichtslage über die Ereignisse im Herkunftsstaat zu messen sind, von denen er betroffen gewesen sein will (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/18/0100; 28.1.2015, Ra 2014/18/0108; jeweils mwN).
25 Der Erstrevisionswerber hat eine Verfolgung aufgrund seiner Tätigkeit als Polizist und Angehöriger der sunnitischen Glaubensrichtung durch schiitische Milizen behauptet. Dieses Fluchtvorbringen steht in Zusammenhang mit den inneren politischen Verhältnissen im Irak bzw. Konflikten zwischen Sunniten und schiitischen Milizen. Aufgrund dieses Vorbringens hätte es auch einer Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation des irakischen Polizei- und Justizwesen und der Rolle der schiitischen Milizen bedurft. Erst auf dieser Grundlage kann fallbezogen eine Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens erfolgen. Das BVwG hat jedoch nur die genannten mangelhaften Feststellungen zur Sicherheitslage getroffen, jegliche Beschäftigung mit den sonstigen Verhältnissen im Herkunftsstaat aber unterlassen. 26 Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen vorrangig wahrzunehmender Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.
27 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung.
Wien, am 28. November 2019
Schlagworte
Definition von Begriffen mit allgemeiner Bedeutung VwRallg7 amtsbekanntParteiengehör Erhebungen ErmittlungsverfahrenSachverhalt SachverhaltsfeststellungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019190085.L01Im RIS seit
21.01.2020Zuletzt aktualisiert am
21.01.2020