Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer, Dr. Hargassner, Mag. Korn und Dr. Stefula als weitere Richter in der Unterhaltssache der minderjährigen A***** R*****, geboren am ***** 2003, *****, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, Wiener Kinder- und Jugendhilfe, Rechtsvertretung Bezirke 1, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 1060 Wien, Amerlingstraße 11, und der Mutter S***** Z*****, vertreten durch Dr. Frank Riel ua, Rechtsanwälte in Krems an der Donau, wegen Sonderbedarf, über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 3. Juli 2019, GZ 43 R 317/19i-102, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom 16. Mai 2019, GZ 25 Pu 128/17x-96, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Mutter hat die Kosten ihrer Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen.
Text
Begründung:
Die Minderjährige beantragte, die unterhaltspflichtige Mutter zur Leistung der Hälfte eines Sonderbedarfs von 1.466,26 EUR, daher 733,13 EUR, für die Kosten einer Zahnspange und der notwendigen kieferorthopädischen Behandlung zu verpflichten.
Die Mutter sprach sich dagegen aus, weil eine kieferorthopädische Behandlung im konkreten Fall nicht notwendig sei. Hätte die Minderjährige eine massive Zahnfehlstellung, würde die Gebietskrankenkasse die Kosten im Rahmen der „Gratis-Zahnspange“ übernehmen. Im Hinblick auf ihr Nettoeinkommen und ihre weitere Sorgepflicht wäre ihr nur ein Beitrag von maximal 134,28 EUR zumutbar.
Das Erstgericht wies das Begehren der Minderjährigen im zweiten Rechtsgang ab. Dabei stellte es fest, dass der Vater für die kieferorthopädische Behandlung der Minderjährigen insgesamt 1.466,25 EUR, bestehend aus 1.095,72 EUR für die Zahnspange, 320,53 EUR für die Planung und Therapiekosten sowie 50 EUR für die (erforderliche) Mundhygiene bezahlt hat. Der reguläre Preis der kieferorthopädischen Behandlung beträgt 1.737,62 EUR. Da der Vater in der Krankenanstalt ***** (dabei handelt es sich um eine *****) beschäftigt ist, in der die kieferorthopädische Behandlung der Minderjährigen durchgeführt wurde, erhielt er einen Mitarbeiterrabatt von 641,90 EUR. Dieser Mitarbeitertarif ist höher als ein allfälliger Kostenbeitrag, den die WGKK leisten würde.
Bei der Minderjährigen liegt ein Scherenbiss/Kreuzbiss vor. Der Schweregrad der Zahnfehlstellung bedingt einen geringen Behandlungsbedarf. Ob eine medizinische Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung gegeben war, konnte nicht festgestellt werden.
Die Unterhaltspflichtige erzielt ein monatliches durchschnittliches Einkommen von 1.548,89 EUR. Sie ist für eine weitere Tochter, geboren am ***** 2000, sorgepflichtig.
In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Erstgericht aus, dass bei der Minderjährigen eine Zahnfehlstellung vorliege, für die ein zumindest geringer Behandlungsbedarf bestehe. Bei einer intakten Familie würde unter den konkreten Einkommens- und Vermögensverhältnissen die Zahnfehlstellung der Minderjährigen behandelt werden. Da aber die Minderjährige mangels Vorlage entsprechender, ihr (über Auftrag des Rekursgerichts im ersten Rechtsgang) aufgetragener Unterlagen ihrer Beweispflicht für die medizinische Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlungen nicht nachgekommen sei, sei der Sonderbedarfsantrag abzuweisen gewesen.
Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs der Minderjährigen nicht Folge. Der vom Rekursgericht bereits im ersten Rechtsgang für erforderlich erachtete Nachweis einer medizinischen Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung sei von der Minderjährigen nicht erbracht worden.
Der dagegen von der Minderjährigen erhobene Revisionsrekurs wurde vom Rekursgericht nachträglich zugelassen, um im weiteren Rechtszug im Interesse der Rechtssicherheit eine allfällige Korrektur der bekämpften Entscheidung zu ermöglichen.
Rechtliche Beurteilung
Der – von der Mutter beantwortete – Revisionsrekurs der Minderjährigen ist zulässig und im Sinne einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung auch berechtigt.
1.1. Erwächst einem unterhaltsberechtigten Kind ein Mehrbedarf, der über den allgemeinen Durchschnittsbedarf („Regelbedarf“) eines gleichaltrigen Kindes in Österreich ohne Rücksicht auf die konkreten Lebensverhältnisse seiner Eltern hinausgeht, bilden diese Kosten einen Sonderbedarf (RS0109908). Der Sonderbedarf betrifft inhaltlich hauptsächlich die Erhaltung der (gefährdeten) Gesundheit, die Heilung einer Krankheit und die Persönlichkeitsentwicklung (insbesondere Ausbildung, Talentförderung und Erziehung) des Kindes (RS0107180). Der Bedarf muss dabei den Kriterien der Individualität, Außergewöhnlichkeit und Dringlichkeit entsprechen (RS0047539).
1.2. In der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs wurden bereits mehrfach gesundheitsbedingte Aufwendungen, die nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung getragen werden, als Sonderbedarf anerkannt (vgl Gitschthaler, Unterhaltsrecht4 Rz 630 ff). So wurden etwa die Kosten für medizinisch notwendige Kontaktlinsen eines Kindes als Sonderbedarf anerkannt (10 Ob 61/05a Pkt 1.). Nach ständiger Rechtsprechung können auch die Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung, die nicht von der Krankenversicherung getragen werden, einen Sonderbedarf begründen (8 Ob 72/17x Pkt 2.; RS0117791 [T5]; Gitschthaler, Unterhaltsrecht4 Rz 631). Dabei wird in der Regel davon ausgegangen, dass diese kieferorthopädische Behandlung auch medizinisch indiziert ist.
2. Ob dies auch hier der Fall ist, lässt sich den
– insoweit widersprüchlichen – Feststellungen des Erstgerichts nicht entnehmen. Zum einen stellte das Erstgericht fest, dass, bei der Minderjährigen eine Zahnfehlstellung vorliegt, deren Schweregrad einen (wenn auch geringen) Behandlungsbedarf erfordert. Zum anderen traf es zur Frage der medizinischen Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung eine negative Feststellung. Im ersten Fall läge nach den unter Punkt 1.1. und 1.2. dargelegten Grundsätzen ein medizinischer Sonderbedarf vor, der von der unterhaltspflichtigen Mutter, soweit es ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse zulassen, zu decken ist. Im zweiten Fall träfe die Minderjährige wegen des Ausnahmecharakters von Sonderbedarf hinsichtlich der diesen auch ohne medizinische Notwendigkeit begründenden Umstände die Behauptungs- und Beweispflicht (RS0111406).
3. Ein allfälliger Sonderbedarf ist nur bei einem „Deckungsmangel“ zuzusprechen, wenn er also nicht aus der Differenz zwischen dem bereits festgesetzten, den Allgemeinbedarf deckenden Unterhalt und dem Regelbedarf bestritten werden kann (RS0117791 [T2]). Dies ist hier der Fall, weil der festgesetzte, von der Mutter zu leistende monatliche Unterhalt der Minderjährigen erheblich unter dem Regelbedarf liegt.
4.1. Von der Frage der Qualifikation eines Aufwands als Sonderbedarf ist die Frage zu trennen, ob eine Deckungspflicht des geldunterhaltspflichtigen Elternteils besteht. Das hängt davon ab, ob diesem die Deckung angesichts seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse zumutbar ist (RS0107179). Bei angespannten finanziellen Verhältnissen ist die Rechtfertigung des Sonderbedarfs streng zu prüfen; zumal bereits die „Prozentsatzkomponente“ der Leistungsfähigkeit der Eltern Rechnung trägt (4 Ob 242/16s Pkt 3.1).
4.2. Auch bei Berücksichtigung eines Sonderbedarfs hat sich der Unterhalt im Rahmen der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen zu halten (RS0047543 [T1]). Dem Unterhaltspflichtigen muss stets ein zur Deckung der seinen Lebensverhältnissen angemessenen Bedürfnisse entsprechender Betrag verbleiben (RS0109907 [T9]).
4.3. Als Richtsatz für die Belastungsgrenze eines Unterhaltspflichtigen orientiert sich die Rechtsprechung am Unterhaltsexistenzminimum des § 291b EO, ohne dass dieses jedoch eine in jedem Fall starre Untergrenze bildete, sondern bei Bedarf in den Grenzen des § 292b EO noch unterschritten werden darf. Demnach ist eine genaue Berechnung der Belastungsgrenze nicht möglich; es ist vielmehr im Einzelfall eine nach den gegebenen Umständen für den Unterhaltsschuldner und den Unterhaltsberechtigten noch am ehesten tragbare Regelung zu treffen (2 Ob 82/12s Pkt 5. mwN).
4.4. Zur besseren Beurteilung der Zumutbarkeit ist darauf abzustellen, ob die Aufwendungen für den begehrten Sonderbedarf auch in einer intakten Familie unter Berücksichtigung der konkreten Einkommens- und Vermögenssituation getätigt worden wären (RS0107182; RS0109907 [T1]); dies auch unter Berücksichtigung der Frage, wodurch der Sonderbedarf verursacht wurde (vgl RS0047560). Je dringender oder existenzieller ein Sonderbedarf ist, desto eher ist der Unterhaltspflichtige zu belasten (RS0107181). Nach der Rechtsprechung ist die Deckung eines existenziellen Sonderbedarfs in der Regel eher zumutbar als sonstige Ausgaben (4 Ob 242/16s Pkt 3.2), zumal die Abgeltung von Sonderbedarf grundsätzlich immer Ausnahmecharakter hat (RS0109908 [T4]). Eine intakte Familie wird wohl auch bei angespannten finanziellen Verhältnissen im Regelfall danach trachten, existenznotwendige Ausgaben oder Aufwendungen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit zu tätigen (4 Ob 242/16s Pkt 3.2 mwN).
4.5. Sollte das Erstgericht den beantragten Sonderbedarf der Minderjährigen dem Grunde nach bejahen, wird es nach den unter Pkt 4.1. bis 4.4. dargelegten Grundsätzen der Rechtsprechung zu prüfen haben, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe es für die unterhaltspflichtige Mutter der Minderjährigen zumutbar ist, einen Kostenbeitrag zu bezahlen.
Aufgrund der vorliegenden widersprüchlichen Feststellungen des Erstgerichts zur medizinischen Notwendigkeit (Behandlungsbedarf) der kieferorthopädischen Aufwendungen, die eine abschließende rechtliche Beurteilung nicht ermöglichen, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen daher aufzuheben (vgl RS0042744 [T1]).
Gemäß § 101 Abs 2 AußStrG findet im Verfahren über den Unterhalt eines minderjährigen Kindes kein Kostenersatz statt.
Textnummer
E127093European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:0090OB00070.19P.1128.000Im RIS seit
22.01.2020Zuletzt aktualisiert am
22.01.2020