TE Bvwg Erkenntnis 2019/10/7 W136 2198675-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.10.2019
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Entscheidungsdatum

07.10.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W136 2198675-1/12E

W136 2198676-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Brigitte HABERMAYER-BINDER über die Beschwerde von 1. XXXX , geboren am XXXX , und 2. XXXX geboren am XXXX auch XXXX , beide Staatsangehörige Afghanistans, vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.05.2018, Zlen. 1. 1105165704-160226615 und 2. 1105165007-160226351, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.06.2019 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerden werden gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 3 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide als unbegründet abgewiesen.

II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. - VI. der angefochtenen Bescheide wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte bis zum 07.10.2020 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Zweitbeschwerdeführer, beide afghanische Staatsangehörige, schlepperunterstützt in die Republik Österreich ein und sie stellten am 12.02.2016 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

Bei der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung gab die Erstbeschwerdeführerin im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass sie ihre Heimat aufgrund der unsicheren Lage verlassen habe. Die Frauen dürften dort überhaupt nicht hinausgehen. Außerdem sei ihr Leben als Schiitin und Angehörige der Hazara durch die Taliban und den IS (Islamischer Staat) in Gefahr gewesen. Bei einer Rückkehr könnten ihr Angehörige beider Gruppierungen etwas antun.

Der Zweitbeschwerdeführer brachte zu seinen Ausreisegründen zusammenfassend vor, dass er Afghanistan wegen des Krieges und der unsicheren wirtschaftlichen Lage verlassen habe. Außerdem hätten ihm die Taliban und der IS Angst gemacht. Er sei nämlich Schiit und Hazara und deswegen ein potentielles Ziel dieser Terrorgruppen gewesen. Bei einer Rückkehr hätte er Angst vor den Angehörigen dieser beiden Gruppierungen, welche ihn töten könnten.

2. Am 05.03.2018 wurden die Erst- und der Zweitbeschwerdeführer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen.

Die Erstbeschwerdeführerin gab zu ihren Fluchtgründen befragt an, dass sie dort keine Sicherheit gehabt hätten. Kunduz sei von den Taliban erobert worden und die Frauen hätten keine Rechte gehabt. Man würde in Afghanistan keine Freiheit haben und niemand würde dort in Freiheit und zufrieden leben. Als die Taliban nach Kunduz gekommen seien, hätten sie immer die Schüsse gehört. Frauen hätten nicht nach draußen gehen dürfen. Die Taliban hätten alle Frauen mitnehmen und die Männer umbringen wollen. Als sie erfahren hätten, dass der Weg nach Kabul geöffnet wurde, seien sie geflohen. Außerdem habe sie ein älterer Mann heiraten wollen. Sie sei damals Schülerin und rund 18 Jahre alt gewesen. Sie und ihre Familie hätten Angst vor ihm gehabt. Ihre Familie sei bedroht worden. Ihr Vater sei streng dagegen, ihre Mutter nicht so dagegen gewesen, weil es ein wohlhabender Mann gewesen sei. Weiters berichtete sie vom Einmarsch der Taliban in Kunduz. Sie sei zu Hause gewesen, als diese gegen Mitternacht gekommen seien. Sie sei nie persönlich von den Taliban bedroht worden bzw. diese seien auch nie persönlich an sie herangetreten. Sie habe den älteren Mann, der sie heiraten habe wollen, bei sich zu Hause gesehen. Obwohl sie dessen Werben abgelehnt hätten, habe dieser sie immer wieder besucht. Als ihr Vater dann endgültig verneint habe, hätte dieser ihren Vater unter Druck gesetzt bzw. bedroht. Ihr Vater habe Angst gehabt und die Drohungen ernst genommen. Deshalb seien sie in einen anderen Stadtteil von Kabul gezogen. Auf die Frage, wie sie ihre Rechte in Österreich nun ausleben würde, erklärte sie, dass (hier) niemand bestimmen würde, wie sie sich kleiden soll. Weiters könnte sie hier Make-Up tragen und in die Schule gehen bzw. habe sie hier schon gearbeitet. Sie dürfte hier auch weiter studieren und überall hingehen. Ferner würde sie einkaufen gehen. In Afghanistan sei immer eine männliche Begleitung dabei. Ihr Gatte habe mit ihrer Veränderung kein Problem. Zu ihren Rückkehrbefürchtungen teilte sie mit, dass sie dort niemand hätte, der sie unterstützt. Außerdem habe sie vor dem Mann Angst, der sie heiraten habe wollen. Es würde in ihrer Heimat keine Sicherheit geben.

Der Zweitbeschwerdeführer gab im Wesentlichen an, dass die Taliban Kunduz im September oder Oktober 2015 erobert und geplant hätten, alle jungen Frauen, auch verheiratete, in den Dschihad mitzunehmen und mit Kämpfern zu verheiraten. Als die Straßen nach zwei bis drei Tagen Ausnahmezustand wieder geöffnet gewesen seien, sei er mit seiner Frau, seiner Schwester und seiner Mutter nach Kabul zu einem Onkel mütterlicherseits bzw. zu seinem älteren Bruder gereist. Sie hätten nicht mehr nach Hause zurückkehren und auch nicht in Kabul bleiben können, weil die Frauen bei seinem Bruder nicht zurechtgekommen seien. Sie hätten einen Monat gebraucht, bis die Reisedokumente fertig gewesen seien. Es habe auch andere Probleme in Afghanistan gegeben, von welchen seine Schwiegereltern betroffen gewesen seien, er jedoch nicht. Auf Nachfrage verneinte er weitere asylrelevante Bedrohungen in seiner Heimat und erklärte, dass die Unsicherheit in ihrem Wohnort ihr Hauptproblem gewesen sei bzw. dass man dort nicht leben könnte. Befragt, verneinte er, jemals persönlich Angehörige der Taliban oder des IS gesehen zu haben bzw. dass Angehörige dieser Gruppierungen ihn jemals persönlich bedroht haben oder bei ihm zu Hause waren. Nach den zwei bis drei Tagen seien die Taliban von Zusatzkräften aus Kabul vertrieben worden. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor den Taliban.

3. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden wurde der Antrag der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, dass die Erstbeschwerdeführerin nicht ansatzweise vorgebracht habe, dass sie einer asylrelevanten Verfolgungshandlung ausgesetzt gewesen sei. Vielmehr habe sie sogar selbst angegeben, dass sie niemals persönlich von den Taliban bedroht worden sei. Hinsichtlich des heiratswilligen, älteren Mannes könnte ebenfalls nicht von einem fluchtauslösenden Ereignis ausgegangen werden, da sie danach noch in ihrem Heimatland verblieben sei. Auch wenn sie in einen anderen Stadtteil Kabuls gezogen seien, sei es ihnen offensichtlich möglich gewesen, noch in Afghanistan zu leben. Ebenso sei es nicht glaubwürdig, dass dieser Mann sie tatsächlich heiraten hätte können, wenn ihr Vater als Familienoberhaupt strikt dagegen gewesen sei. Weiters sei aufgrund ihrer Angaben, ihres Erscheinungsbildes und ihres Verhaltens im Rahmen der Einvernahme am 05.03.2018 davon auszugehen, dass sie aufgrund einer der Tradition entgegenstehenden Einstellung als Frau in Afghanistan nicht verfolgt werden würde. Sie sei von ihrer persönlichen Wertehaltung her nicht an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert. Das (Nicht-)Tragen eines Kopftuches bzw. auch übriger Kleidung würde allein nämlich nicht ausreichen, um eine "westliche Orientierung" glaubhaft darzutun. Soweit sie vorgebracht hat, in Österreich einkaufen oder in den Park zu gehen, könnte daraus kein ausreichend tragfähiges Substrat für die Annahme eines "westlichen" Gesellschaftsbildes und eines freibestimmten Lebens gewonnen werden, das obigen Ausführungen entgegenstehen würde. Die von ihr aufgezeigte und obenstehend gewürdigte Lebenssituation in Österreich - und damit die in Österreich ständig geübte Verhaltensweise - würde zusammenschauend aufzeigen, dass sie keine Lebensweise angenommen habe, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde, sie (somit) keine "westliche Geisteshaltung", innerhalb derer eine selbstbestimmte Lebensweise einen unabdingbaren Aspekt darstellt, eingenommen habe und sie kein freibestimmtes Leben nach westlichen Normen führt. Insoweit sie seit ihrem Aufenthalt im Bundesgebiet ein selbständigeres Leben führen würde und arbeiten möchte, würde die Behörde davon ausgehen, dass ihr das auch in Kabul möglich wäre. Sie würde von ihren Eltern unterstützt werden und habe bereits in Kabul eine Schule bzw. sogar die Universität besuchen dürfen. Ferner habe sie angegeben, dass ihr Mann keine Probleme mit ihrer Lebensweise haben würde. Wie sich nämlich aus den Berichten und einer Anfragebeantwortung vom 18.09.2017 ergeben würde, habe sich die Lage der Frauen seit dem Ende der Talibanherrschaft deutlich gebessert bzw. würde es in Kabul keinen Zwang zum Tragen einer Burka mehr geben. Ferner seien Frauen in urbanen Zentren in einer Vielzahl beruflicher Felder aktiv. Zusammenfassend wäre es ihr daher möglich, gemeinsam mit ihrer Familie einen für afghanische Verhältnisse "modernen" Lebensstil in Kabul zu pflegen.

Zum Zweitbeschwerdeführer wurde zusammenfassend ausgeführt, dass er keine individuelle Bedrohung seiner Person vorgebracht, sondern sich lediglich auf die allgemeine, in Afghanistan vorherrschende Sicherheitslage beschränkt habe. Eine konkrete und direkte Bedrohung gegen ihn habe er weder selbst vorgebracht, noch sei eine solche aus seinem Vorbringen hervorgekommen.

Hinsichtlich der Nichtzuerkennung von subsidiären Schutz wurde ausgeführt, dass die Beschwerdeführer nicht glaubhaft dargelegt hätten, dass sie bei einer Rückkehr keine Lebensgrundlage mehr hätten. Es sei ihnen möglich und zumutbar, in ihrem Heimatland selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Weiters würde es Rückkehrhilfe geben und würde ihnen auch der Weg zu einer der in Afghanistan zahlreich tätigen internationalen Organisationen offen stehen.

4. Gegen diesen Bescheid brachten die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde ein.

Nach einer auszugsweisen Wiederholung des bisherigen Fluchtvorbringens wurde darauf verwiesen, dass der Erstbeschwerdeführerin aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen und dem Zweitbeschwerdeführer aus diesem Grund ebenso eine Verfolgung drohen würde, da Männer für das Verhalten ihrer Frauen und Kinder verantwortlich gemacht würden. Aber auch dem Zweitbeschwerdeführer würde aufgrund seiner mehrjährigen Abwesenheit aus Afghanistan und seines "westlichen Aussehens" eine asylrelevante Verfolgung drohen, zumal ihm von den Taliban eine gegen sie gerichtete politische Gesinnung unterstellt werden könnte. Er sei nicht gewillt, sich den sozialen Normen und Werten der Taliban zu unterwerfen, sodass er der Gefahr einer Verfolgung durch die Taliban aufgrund einer unterstellten politischen Gesinnung bzw. des Vorwurfs der Apostasie ausgesetzt wäre. Überdies würde dem Zweitbeschwerdeführer eine Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara drohen.

5. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 04.06.2019 wurden die Erst- und der Zweitbeschwerdeführer ausführlich zu ihren Fluchtgründen, ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie zu ihrer Lebenssituation und Integration in Österreich befragt.

6. Mit Schreiben vom 27.06.2019 erfolgte seitens des rechtsfreundlichen Vertreters der beiden Beschwerdeführer eine Stellungnahme samt Urkundenvorlage. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Familie der Erstbeschwerdeführerin durch einen älteren Mann, der sie heiraten habe wollen, bedroht worden sei und mehrmals umziehen habe müssen. Der Erstbeschwerdeführerin würde seitens ihrer Schwiegerfamilie die Schuld für einen Angriff dieses Mannes mit weiteren Personen auf zwei Brüder und zwei Neffen des Zweitbeschwerdeführers gegeben werden. Seine Familienangehörigen seien dabei geschlagen sowie mit dem Messer bedroht und es sei versucht worden, auf sie zu schießen. Dazu würde es ein Video der Verletzten aus einem Krankenhaus in Kabul geben. Dem Zweitbeschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Verfolgung und Tötung bzw. Blutrache (Pashtunwali) durch den Verehrer seiner Ehegattin drohen, da durch seine Verehelichung dessen Ehre verletzt worden sei. Wie den auszugsweise angeführten Länderberichten zu entnehmen sei, würden Blutfehden auch unter anderen ethnischen Gruppen, wie im gegenständlichen Fall zwischen Hazara erfolgen bzw. könnte sich die Blutrache gegen andre männliche Familienmitglieder der väterlichen Linie richten, wie hier gegen die Brüder und Neffen des Zweitbeschwerdeführers. Weiters hätte die Erstbeschwerdeführerin in der Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass sie in Österreich ein freies und selbstbestimmtes Leben - entgegen afghanischer Traditionen - führen würde. Sie habe ein eigenes Konto, würde Einkäufe selbst erledigen, schwimmen, spazieren, Radfahren sowie ins Fitnessstudio gehen und Arztbesuche sowie Behördenwege selbst erledigen. Zudem würde sie sich westlich kleiden und kein Kopftuch mehr tragen. Schließlich hätte sie konkrete Berufspläne, sich bezüglich Berufs- und Ausbildungsmöglichkeiten bereits erkundigt und würde auch die Arbeiten im Haushalt mit ihrem Ehegatten teilen. Die selbstbestimmte Lebensweise würde von der Erstbeschwerdeführerin als unverzichtbares Kernelement ihrer Identität empfunden werden und die Fortführung ihrer Lebensführung würde in Afghanistan eine Verfolgung nach sich ziehen. Außerdem würde ihr eine Verfolgung und Ermordung durch den Mann drohen, der sie heiraten habe wollen. Ferner würde es eine zunehmende Gewalt gegen - insbesondere berufstätige - Frauen geben. Aber auch dem Zweitbeschwerdeführer würde aufgrund seiner mehrjährigen Abwesenheit aus Afghanistan und seiner "westlichen" Einstellung eine Verfolgung durch regierungsfeindliche Kräfte bzw. durch die Taliban drohen. Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die Sicherheits- und Versorgungslage in ganz Afghanistan nach wie vor äußerst prekär sei und wird unter Anführung zahlreicher Berichte internationaler Organisationen die Notwendigkeit einer Erteilung von zumindest subsidiärem Schutz erörtert.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Qezelbash (die Erstbeschwerdeführerin) bzw. der Hazara an, sind schiitische Moslems und miteinander verheiratet.

1.2. Zur Person der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers, zu ihren persönlichen Umständen im Herkunftsstaat, zu ihrer Ausreise aus Afghanistan und zu ihren Fluchtgründen:

Die Erstbeschwerdeführerin ist in Kabul geboren und aufgewachsen. Sie hat am XXXX ihren Ehegatten, den Zweitbeschwerdeführer geheiratet und ist mit ihm in die Provinz Kunduz gezogen. Der Zweitbeschwerdeführer stammt aus der Provinz Kunduz, wo er sich nach seiner Hochzeit rund sieben bis acht Monate mit seiner Ehegattin aufgehalten hat. Anschließend sind sie nach Kabul gezogen, weil seine Heimatgegend von den Taliban erobert wurde. Nach ungefähr einem Monat sind sie aufgrund der schlechten Sicherheitslage von ihrer Heimat zunächst in den Iran und anschließend nach Europa gereist.

Die Familien der Erst- und des Zweitbeschwerdeführers leben großteils außerhalb von Afghanistan. Der Zweitbeschwerdeführer hat noch fünf Onkel und eine Tante mütterlicherseits in Kabul sowie einen Onkel väterlicherseits in Kunduz. Von zwei seiner Brüder kennt er den Aufenthaltsort nicht. Seine Familie macht ihm wegen eines körperlichen Übergriffs auf zwei seiner Brüder und auf zwei Neffen Vorwürfe und hat den Kontakt zu ihm aus diesem Grund eingeschränkt, bzw. weil er sich von seiner Ehefrau nicht trennt. Die Erstbeschwerdeführerin hat in der Heimat noch einen Onkel mütterlicherseits, dessen Aufenthaltsort sie jedoch nicht kennt.

Den Beschwerdeführern droht bei einer Rückkehr keine Verfolgung durch einen ehemaligen Verehrer bzw. Brautwerber der Erstbeschwerdeführerin, der sich durch die Ablehnung ihrer Familie in seiner Ehre verletzt fühlt. Ebenso droht keine Verfolgung aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit oder wegen einer ihnen unterstellten abweichenden politischen Gesinnung (insbesondere durch Angehörige der Taliban oder des IS).

Der Erstbeschwerdeführerin droht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch keine geschlechtsspezifische Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe "westlich-orientierter Frauen". Weiters ist weder die Erstbeschwerdeführerin auf Grund der Tatsache, dass sie sich mehrere Jahre in Europa aufgehalten und hier eine "westliche Wertehaltung" kennengelernt hat, noch ist jeder afghanische Staatsangehörige, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan allein aus diesem Grund zwangsläufig physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich nicht um eine auf Eigen- und Selbstständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Ihre aktuelle Lebensführung in Österreich unterscheidet sich insgesamt nicht wesentlich von jener, welche sie über Jahre in Afghanistan führte.

Insgesamt war bei der Erstbeschwerdeführerin keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung zu erkennen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines "westlichen Verhaltens" oder eine "westliche Lebensführung" als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden kann.

1.3. Zum Leben der Beschwerdeführer in Österreich:

Die Beschwerdeführer befinden sich seit ihrer Antragstellung am 12.02.2016 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Die Beschwerdeführer beziehen seither regelmäßig Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.

Die Erstbeschwerdeführerin hat die ÖIF Integrationsprüfung A2 positiv abgeschlossen und im Juli und August 2017 ehrenamtlich bei Baum- und Strauchschnitt- bzw. Reinigungsarbeiten in ihrer Heimatgemeinde mitgeholfen. Der Zweitbeschwerdeführer hat zwar Deutschkurse besucht, aber bisher (offenbar) keinen Deutschkurs positiv abgeschlossen, er spricht marginal deutsch (vgl. Verhandlung vom 04.06.2019). Er hat seit April 2017 gemeinnützig bei der Grünpflege und bei Reinigungsarbeiten in der Heimatgemeinde geholfen.

Die Beschwerdeführer waren bisher nicht erwerbstätig.

Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Im Vorfeld der mündlichen Verhandlung wurden den Parteien aktuelle Länderfeststellungen zur Lage in AFGHANISTAN zur Kenntnis gebracht und im Folgenden diesem Erkenntnis zugrunde gelegt.

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018 mit Aktualisierungen bis 26.03.2019:

Zur Herkunftsprovinz der Beschwerdeführer:

Kunduz

Kunduz liegt 337 km nördlich von Kabul und grenzt an die Provinzen Takhar im Osten, Baghlan im Süden, Balkh im Westen und Tadschikistan im Norden (NPS o.D.; vgl. Pajhwok o.D.a). Die Provinz hat folgende Distrikte: Imam Sahib/Emamsaheb, Dasht-e-Archi, Qala-e-Zal, Chahar Dara/Chardarah, Ali Abad/Aliabad, Khan Abad/Khanabad und Kunduz; die Hauptstadt ist Kunduz-Stadt (Pajhwok o.D.b; vgl. UN OCHA 4.2014). Gemäß einer Quelle wurden vor zwei Jahren in der Provinz drei neue Distrikte gegründet: Atqash, Gultapa, Gulbad (Pajhwok 11.2.2018).

Auch ist die Provinzhauptstadt Kunduz-Stadt etwa 250 km von Kabul entfernt (Xinhua 7.7.2017).

Als strategischer Korridor wird Kunduz als bedeutende Provinz in Nordafghanistan erachtet - Sher Khan Bandar, die Hafenstadt am Fluß Pandsch, an der Grenze zu Tadschikistan, ist beispielsweise von militärischer und wirtschaftlicher Bedeutung (Khabarnama 22.8.2016; vgl. Pajhwok 2.1.2018, AN 21.12.2017).

Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.049.249 geschätzt (CSO 4.2017). In der Provinz leben Paschtunen, Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Hazara und Paschai (NPS o.D.).

Strategisch wichtig ist die Stadt Kunduz nicht nur für Afghanistan (DW 30.9.2015; vgl. Xinhua 7.7.2017), denn Kunduz war bis zum Einmarsch der US-Amerikaner im Jahr 2001 die letzte Hochburg der Taliban (RFE/RL 9.2015). Wer die Stadt kontrolliert, dem steht der Weg nach Nordafghanistan offen. Kunduz liegt an einer wichtigen Straße, die Kabul mit den angrenzenden nördlichen Provinzen verbindet (DW 30.9.2015). Kunduz-Stadt ist eine der größten Städte Afghanistans und war lange Zeit ein strategisch wichtiges Transportzentrum für den Norden des Landes. Kunduz ist durch eine Autobahn mit Kabul im Süden, Mazar-e Sharif im Westen, sowie Tadschikistan im Norden verbunden (BBC News 3.10.2016). Die Regierung plant u.a. die Turkmenistan-Afghanistan-Tadschikistan-Eisenbahnlinie, die Andkhoy, Sheberghan, Mazar-e-Sharif, Kunduz und Sher Khan Bandar verbinden und als Anbindung an China über Tadschikistan dienen soll (TD 5.12.2017).

Um Ordnung und Normalität in die Stadt Kunduz zu bringen, hat die Kommunalverwaltung im Februar 2018 eine Massenaufräum-Aktion gestartet. Ebenso wurden weitere Projekte implementiert: im Rahmen dieser werden Landstraßen und Wege gewartet, vier neue Parks errichtet - die insbesondere von Frauen und Kindern genutzt werden sollen, etc. Diese Projekte führten zusätzlich zur Schaffung von 550 Jobs - auch für Frauen. Das Erscheinungsbild der Stadt hat sich u.a. aufgrund der Errichtung von Straßenbeleuchtung verbessert (Tolonews 17.2.2018).

In Kunduz gibt es zahlreiche Unternehmen, die verschiedene Produkte wie Fruchtsäfte, Klopapier, Taschentücher und Sojabohnen produzieren. Die Sicherheitslage hatte mit Stand März 2017 jedoch negative Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wachstum in der Provinz (UNAMA 26.3.2017). In der Provinz wird ein Projekt im Wert von 9.5 Mio. USD für den Ausbau der ANAInfrastruktur [Anmerkung: der Infrastruktur der Afghan National Army] implementiert (SIGAR 30.1.2018).

Kunduz gehörte im November 2017 zu den Opium-freien Provinzen Afghanistans (UNODC 11.2017).

Allgemeine Informationen zur Sicherheitslage in Kunduz

Kunduz zählt zu den relativ volatilen Provinzen Afghanistans, in der Aufständische aktiv sind (AJ 4.10.2017; vgl. Khaama Press 15.8.2017, Reuters 22.7.2017, Tolonews 24.5.2017). In den Jahren 2015 und 2016 fiel Kunduz-Stadt jeweils einmal an Taliban-Aufständische (Xinhua 8.7.2017); die Stadt konnte in beiden Fällen von den afghanischen Streitkräften zurückerobert werden (BBC 4.10.2016; vgl. Reuters 1.10.2015, NYT 14.1.2018, UNAMA 26.3.2017). Das deutsche Militär hat einen großen Stützpunkt in der Provinz Kunduz (Gandhara 7.3.2018; vgl. SZ 7.3.2018). Während des Jahres 2017 sank die Anzahl der zivilen Opfer in Folge von Bodenoffensiven u.a. in der Provinz Kunduz; ein Grund dafür war ein Rückgang von Militäroffensiven in von Zivilist/innen bewohnten Zentren durch die Konfliktparteien (UNAMA 2.2018).

Im Februar 2018 berichteten einige Quellen, die Sicherheitslage in der Provinzhauptstadt Kunduz hätte sich sehr verbessert; den Einwohnern in Kunduz-Stadt sei es aufgrund der Beleuchtung zahlreicher Straßen möglich, auch nachts in der Stadt zu bleiben (Tolonews 26.2.2018; vgl. Tolonews 17.2.2018).

Im gesamten Jahr 2017 wurden 377 zivile Opfer (93 getötete Zivilisten und 284 Verletzte) in der Provinz Kunduz registriert. Hauptursache waren Bodenangriffe, gefolgt von IEDs und gezielten Tötungen. Dies bedeutet einen Rückgang von 41% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).

Aufgrund von Terrorbekämpfungsoperationen in der Provinz sind zahlreiche Familien nach Kunduz-Stadt vertrieben worden (Pajhwok 23.1.2018; vgl. Pajhwok 20.1.2018).

Nach dem US-amerikanischen Luftangriff auf das Médecins Sans Frontières (MSF)-Krankenhaus im Jahr 2015 wurde im Juli 2017 wieder eine Klinik von MSF in Kunduz-Stadt eröffnet (AJ 4.10.2017; vgl. Reuters 22.7.2017).

Militärische Operationen in der Provinz Kunduz

In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien (Pajhwok 23.1.2018; vgl. Pajhwok 20.1.2018, Tolonews 25.10.2017, Xinhua 24.9.2017, Khaama Press 22.1.2017, Z News 12.1.2017, Khaama Press 9.1.2017). Auch werden regelmäßig Luftangriffe durchgeführt (LWJ 27.1.2018; vgl. Khaama Press 20.1.2018, Xinhua 14.2.2018, Khaama Press 7.6.2017, TG 4.11.2017, Tolonews 18.10.2017); dabei werden Aufständische - u.a. tadschikische Kämpfer - (Khaama Press 7.6.2017) und manchmal auch Talibankommandanten getötet (Xinhua 14.2.2018). Manchmal werden Talibankämpfer (Xinhua 4.3.2018) verhaftet. In der Provinz kommt es zu Zusammenstößen zwischen den Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften (UNGASC 27.2.2018; vgl. Pajhwok 23.2.2018, NYT 16.1.2018, Khaama Press 27.1.2018, Khaama Press 15.8.2017, Tolonews 4.7.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen in Kunduz

Talibankämpfer, insbesondere Mitglieder der "Red Unit", einer Taliban-Einheit, die in zunehmendem Ausmaß Regierungsstützpunkte angreift, sind in der Provinz Kunduz aktiv (NYT 16.1.2018; vgl. AT 17.1.2018; NYT 14.11.2017). Einige Distrikte, wie Atqash, Gultapa und Gulbad, sind unter Kontrolle der Taliban (Pajhwok 11.2.2018). Auch in Teilen der Distrikte Dasht-e-Archi und Chardarah sind Talibankämpfer zum Berichtszeitpunkt aktiv (UOL 9.3.2018; Pajhwok 16.1.2018; Xinhua 14.2.2018, Tolonews 25.10.2017, Xinhua 24.9.2017).

Im Zeitraum 1.1.2017 - 15.7.2017 wurden IS-bezogene Sicherheitsvorfälle registriert, während zwischen 16.7.2017 - 31.1.2018 keine sicherheitsrelevanten Ereignisse mit Bezug auf den IS gemeldet wurden (ACLED 23.2.2018).

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung aus (CIA Factbook 18.1.2018; CRS 12.1.2015). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden (BFA Staatendokumentation 7.2016); andererseits gehören ethnische Hazara hauptsäch dem schiitischen Islam an (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. AJ 27.6.2016, UNAMA 15.2.2018). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten (BFA Staatendokumentation 7.2016).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können (BFA Staatendokumentation 7.2016).

Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (BFA Staatendokumentation 7.2016). Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban- Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert (AA 5.2018; vgl. IaRBoC 20.4.2016); vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet (CRS 12.1.2015; vgl. GD 2.10.2017). Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht (BFA Staatendokumentation 7.2016). Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert (GD 2.10.2017).

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Einer Quelle zufolge existiert in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Einer weiteren Quelle zufolge, beschweren sich Mitglieder der Hazara-Ethnie über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft (IaRBoC 20.4.2016). So berichtet eine weitere Quelle, dass Arbeitsplatzanwerbung hauptsächlich über persönliche Netzwerke erfolgt (IaRBoC 20.4.2016; vgl. BFA/EASO 1.2018); Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke (IaRBoC 20.4.2016).

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018); soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen (USDOS 20.4.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (Brookings 25.5.2017).

Frauen

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft (BFA Staatendokumentation 4.2018). Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 23.3.2016). Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Trotzdem gilt Afghanistan weiterhin als eines der gefährlichsten Länder für Frauen weltweit (AF 13.12.2017). In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. AF 13.12.2017). Viel hat sich dennoch seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach (TET 15.3.2018). Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (AA 5.2018).

Bildung

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. IOM 2017). Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine der Herausforderungen für alle in Afghanistan tätigen Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich; speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind (BFA Staatendokumentation 4.2018).

In den Jahren 2016 und 2017 wurden durch den United Nations Children's Fund (UNICEF) mit Unterstützung der United States Agency for International Development (USAID) landesweit 4.055 Dorfschulen errichtet - damit kann die Bildung von mehr als 119.000 Kindern in ländlichen Gebieten sichergestellt werden, darunter mehr als 58.000 Mädchen. Weitere 2.437 Ausbildungszentren in Afghanistan wurden mit Unterstützung von USAID errichtet, etwa für Personen, die ihre Ausbildung in frühen Bildungsjahren unterbrechen mussten. Mehr als 49.000 Student/innen sind in diesen Ausbildungszentren eingeschrieben (davon mehr als 23.000 Mädchen). USAID hat mehr als 154.000 Lehrer ausgebildet (davon mehr als 54.000 Lehrerinnen) sowie 17.000 Schuldirektoren bzw. Schulverwalter (mehr als 3.000 davon Frauen) (USAID 10.10.2017).

Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (USAID 10.10.2017).

Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit

16.049 Schulen, insgesamt 8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert (CSO 2017). Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon 77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht (CSO 2017).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (TE 13.8.2016; vgl. MORAA 31.5.2016). Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können (Tolonews 17.8.2017).

Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. UNDP 10.7.2016). Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (UNDP 7.11.2017).

Berufstätigkeit

Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 5.2018). Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen (AF 11.2017). Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UNW o. D.).

Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. LobeLog 15.11.2017). Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MENA FN 19.12.2017).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent (BFA Staatendokumentation 4.2018) und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht (BFA Staatendokumentation; vgl. IWPR 18.4.2017). Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. WB 28.8.2017).

Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 20.4.2018).

Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. WD 21.12.2017). Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind (BFA Staatendokumentation 4.2018). In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden) (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. YM 11.12.2017). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden (BFA Staatendokumentation; vgl. USAID 26.9.2017). In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019 (BFA Staatendokumentation; vgl. AKDN 26.7.2017). In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist und in deren Filiale sogar ein eigener Spielbereich für Kinder eingerichtet wurde (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. GABV 26.7.2017).

Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. NZZ 23.4.2017). Dass etwa der afghanische Präsident dies seiner Ehefrau zugesteht, ist Zeichen des Fortschritts (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. WD 21.12.2017). Frauen in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Positionen sehen sich deshalb durchaus in einer gewissen Vorbildfunktion. So polarisiert die Talent-Show "Afghan Star" zwar einerseits das Land wegen ihrer weiblichen Teilnehmer und für viele Familien ist es inakzeptabel, ihre Töchter vor den Augen der Öffentlichkeit singen oder tanzen zu lassen. Dennoch gehört die Sendung zu den populärsten des Landes (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. NZZ 23.4.2017).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2% für das Jahr 2018 (AA 5.2018). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UNW o.D.). Im Winter 2017 wurde mit Khojesta Fana Ebrahimkhel eine weitere Frau zur afghanischen Botschafterin (in Österreich) ernannt (APA 5.12.2017). Dennoch sehen sich Frauen, die in Regierungspositionen und in der Politik aktiv sind, weiterhin mit Bedrohungen und Gewalt konfrontiert und sind Ziele von Angriffen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen. Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin ein. Der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis ist weiterhin gängig. Diese Faktoren sowie ein Mangel an Bildung und Arbeitserfahrung haben wahrscheinlich zu einer männlich dominierten Zusammensetzung der Zentralregierung beigetragen (USDOS 20.4.2018).

Kinder

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika) (AA 5.2018). Landesweit gehen in den meisten Regionen Mädchen und Buben in der Volksschule in gemischten Klassen zur Schule; erst in der Mittel- und Oberstufe werden sie getrennt (USDOS 3.3.2017).

Bildungssystem in Afghanistan

Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zur Unterstufe der Sekundarbildung Pflicht (die Grundschule dauert sechs Jahre und die Unterstufe der Sekundarbildung drei Jahre). Das Gesetz sieht kostenlose Schulbildung bis zum Hochschulniveau vor (USDOS 20.4.2018).

Aufgrund von Unsicherheit, konservativen Einstellungen und Armut haben Millionen schulpflichtiger Kinder keinen Zugang zu Bildung - insbesondere in den südlichen und südwestlichen Provinzen. Manchmal fehlen auch Schulen in der Nähe des Wohnortes (USDOS 3.3.2017). Auch sind in von den Taliban kontrollierten Gegenden gewalttätige Übergriffe auf Schulkinder, insbesondere Mädchen, ein weiterer Hinderungsgrund beim Schulbesuch. Taliban und andere Extremisten bedrohen und greifen Lehrer/innen sowie Schüler/innen an und setzen Schulen in Brand (USDOS 20.4.2018). Nichtregierungsorganisationen sind im Bildungsbereich tätig, wie z. B. UNICEF, NRC, AWEC und Save the Children. Eine der Herausforderungen für alle Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich - speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind. UNICEF unterstützt daher durch die Identifizierung von Dorfgemeinschaften, die mehr als drei Kilometer von einer ordentlichen Schule entfernt sind. Dort wird eine Dorfschule mit lediglich einer Klasse errichtet. UNICEF bezeichnet das als "classroom". Auf diese Art "kommt die Schule zu den Kindern". Auch wird eine Lehrkraft aus demselben, gegebenenfalls aus dem nächstgelegenen Dorf, ausgewählt - bevorzugt werden Frauen. Lehrkräfte müssen fortlaufend Tests des Provinzbüros des Bildungsministeriums absolvieren. Je nach Ausbildungsstand beträgt das monatliche Gehalt der Lehrkräfte zwischen US$ 90 und 120. Die Infrastruktur für diese Schulen wird von der Dorfgemeinschaft zur Verfügung gestellt, UNICEF stellt die Unterrichtsmaterialien. Aufgrund mangelnder Finanzierung sind Schulbücher knapp. Wenn keine geeignete Lehrperson gefunden werden kann, wendet sich UNICEF an den lokalen Mullah, um den Kindern des Dorfes doch noch den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. UNICEF zufolge ist es wichtig, Kindern die Möglichkeit zu geben, auch später einem öffentlichen Schulplan folgen zu können (BFA Staatendokumentation 4.2018).

In Afghanistan existieren zwei parallele Bildungssysteme; religiöse Bildung liegt in der Verantwortung des Klerus in den Moscheen, während die Regierung kostenfreie Bildung an staatlichen Einrichtungen bietet (BFA Staatendokumentation 4.2018). Nachdem in den meisten ländlichen Gemeinden konservative Einstellungen nach wie vor präsent sind, ist es hilfreich, wenn beim Versuch Modernisierungen durchzusetzen, auf die Unterstützung lokaler Meinungsträger zurückgegriffen wird - vor allem lokaler religiöser Würdenträger, denen die Dorfgemeinschaft vertraut. Im Rahmen von Projekten arbeiten unterschiedliche UN-Organisationen mit religiösen Führern in den Gemeinden zusammen, um sie in den Bereichen Frauenrechte, Bildung, Kinderehen und Gewalt, aber auch Gesundheit, Ernährung und Hygiene zu beraten. Eines dieser Projekte wurde von UNDP angeboten; als Projektteilnehmer arbeiten die Mullahs der Gemeinden, die weiterzugebenden Informationen in ihre Freitagpredigten ein. Auch halten sie Workshops zu Themen wie Bildung für Mädchen, Kinderehen und Gewalt an Frauen. Auf diesem Wege ist es ihnen möglich eine Vielzahl von Menschen zu erreichen. Im Rahmen eines Projektes hat UNICEF im Jahr 2003 mit rund 80.000 Mullahs zusammengearbeitet, mit dem Ziel Informationen zu Gesundheit, Ernährung, Hygiene, Bildung und Sicherheit in ihre Predigten einzubauen. Die tatsächliche Herausforderung dabei ist es, die Informationen in den Predigten zu vermitteln, ohne dabei Widerstand innerhalb der Gemeinschaft hervorzurufen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Der gewaltfreie Umgang mit Kindern hat sich in Afghanistan noch nicht als Normalität durchsetzen können (AA 9.2016). Körperliche Züchtigung und Übergriffe im familiären Umfeld (AA 9.2016; vgl. CAN 2.2018), in Schulen oder durch die afghanische Polizei sind verbreitet. Dauerhafte und durchsetzungsfähige Mechanismen seitens des Bildungsministeriums, das Gewaltpotenzial einzudämmen, gibt es nicht. Gerade in ländlichen Gebieten gehört die Ausübung von Gewalt zu den gebräuchlichen Erziehungsmethoden an Schulen. Das Curriculum für angehende Lehrer beinhaltet immerhin Handreichungen zur Vermeidung eines gewaltsamen Umgangs mit Schülern (AA 9.2016). Einer Befragung in drei Städten zufolge (Jalalabad, Kabul und Torkham), berichteten Kinder von physischer Gewalt - auch der Großteil der befragten Eltern gab an, physische Gewalt als Disziplinierungsmethode anzuwenden. Eltern mit höherem Bildungsabschluss und qualifizierterem Beruf wendeten weniger Gewalt an, um ihre Kinder zu disziplinieren (CAN 2.2018).

Zusammenfassung einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation:

"Afghanistan - Frauen in urbanen Zentren" vom 18.09.2017 sowie European Asylum Support Office, Individuals targeted under social and legal norms, Pkt. 3.2.:

Kleidungsvorschriften

Generell umfasst Frauenkleidung in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung - diese unterscheiden sich je nach Bevölkerungsgruppe. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat häufig den sogenannten "Manteau shalwar" tragen, d.h. Hosen und Mantel, mit verschieden Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservativere Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka (in Afghanistan chadri genannt) weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten. Es herrschen weiterhin Debatten über die angemessenste Art der Bekleidung von Frauen, vor allem auch darüber was letztendlich eine richtige "islamische" Körper- oder Kopfbedeckung darstellt. Die Vorstellungen, wie Frauen sich in der Öffentlichkeit zeigen sollen bzw. dürfen unterscheiden sich oft erheblich, je nach der Herkunft, Geschlecht und Bildungsstand der Befragten.

Der jährliche Bericht zu Afghanistan der Asia Foundation - einer internationalen Entwicklungs-NGO mit Sitz in San Francisco - beinhaltet auch eine Umfrage zum Thema Verschleierung und angemessener Kleidung von Frauen in der Öffentlichkeit. Im Jahr 2016 wurden 12,658 Afghaninnen und Afghanen zu verschieden Möglichkeiten der Kopf- und Körperbedeckung befragt. Nur 1.1% der Befragten fanden, dass es für eine Frau angemessen sei sich völlig unverschleiert in der Öffentlichkeit zu zeigen. Dagegen fanden 38% der befragten Männer und 30% der befragten Frauen, dass die Burka die angemessenste Form der Körperbedeckung für Frauen in der Öffentlichkeit sei. In den Antworten war jedoch ein starkes Gefälle in der Präferenz der Burka bei Befragten aus ländlichen und städtischen Gebieten zu verorten. Während 38,5% der Befragten aus ländlichen Gegenden die Burka bevorzugten, taten dies nur 20,3% der Befragten aus Städten. Ethnische Zugehörigkeit, sowie Bildung spielten ebenfalls eine erhebliche Rolle in der Bevorzugung und Akzeptanz der jeweiligen Kopf- bzw. Körperbedeckung. So bevorzugen Paschtunen die Burka, während Hazara zu weniger strengen Formen der Kopfbedeckung tendierten.

Auch Frauen in Kabul kleiden sich traditionell oder bescheiden (engl. "modestly") zur Vermeidung von Belästigungen.

Bewegungsfreiheit

Während Frauen in Afghanistan grundsätzlich einen männlichen Begleiter, Kollegen oder Bewacher benötigen, welcher sie außerhalb des Hauses begleitet, gilt dies nicht für die Großstädte Herat, Mazar und Kabul.

Beschäftigungsmöglichkeiten und Freizeitmöglichkeiten

Afghanische Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif in einer Vielzahl beruflicher Felder aktiv. Frauen arbeiten sowohl im öffentlichen Dienst, als auch in der Privatwirtschaft. Sie arbeiten im Gesundheitsbereich, in der Bildung, den Medien, als Polizistinnen und Beamtinnen, usw. Es bestehen mannigfaltigen Schwierigkeiten, mit denen Frauen auf dem Arbeitsmarkt und in der Berufswelt zu kämpfen haben. Diese reichen von Diskriminierung in der Rekrutierung und im Gehalt, über Schikane und Drohungen bis zur sexuellen Belästigung. Während es Frauen der afghanischen Elite seit dem Ende der Taliban-Herrschaft zuweilen möglich war eine Reihe erfolgreicher Unternehmen aufzubauen, mussten viele dieser Neugründungen seit dem Einsturz der afghanischen Wirtschaft 2014 wieder schließen. Frauen der Mittel- und Unterschicht kämpfen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt und Lohnungleichheit. Dazu müssen Frauen unverhältnismäßig oft unbezahlte Arbeit leisten. Die letzten Jahre sahen einen steigenden Druck auf Frauen in der Arbeitswelt und eine zunehmende Abneigung gegenüber Frauen im Beruf, vor allem in konservativen Kreisen. Trotzdem finden sich viele Beispiele erfolgreicher junger Frauen in den verschiedensten Berufen.

Was die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung für Frauen in afghanischen Städten betrifft, so gibt es auch hier, eine Vielzahl von Beispielen: So existiert etwa "Familienkino", das in Kabul zu bestimmten Tageszeiten Vorstellungen ausschließlich für Frauen anbietet. Es gibt auch einen sogenannten "Frauen-Garten" in Kabul - ein öffentlicher Park für Frauen mit verschiedenen Unterhaltungs-, Bildungs- und Sportmöglichkeiten. Der Garten, der sich über 13 Hektar Land streckt und vom Frauenministerium verwaltet wird, erlebt täglich einen großen Ansturm, vor allem am Wochenende. Er wurde nach der Taliban-Herrschaft durch finanzielle Unterstützung des US Entwicklungsministeriums und mit Hilfe von mehr als 600 afghanischen Arbeiterinnen und Arbeitern (großteils Frauen aus armen Verhältnissen) wiederaufgebaut. Neben den Gartenanlagen zählt auch ein Fitnesscenter, Buchgeschäft und Internetlokal zu den Einrichtungen des Gartens. Frauen können dort Computer benutzen und kostenfrei Sprachkurse belegen. Außerdem wird der Garten 24 Stunden/Tag von einem Sicherheitsteam bewacht.

Auszug aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.09.2018 zur Lage in Herat-Stadt und in Mazar-e Sharif auf Grund anhaltender Dürre (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

"1. Wie wirkt sich diese Dürre auf die Versorgungslage der Bevölkerung im Hinblick auf die Wasserversorgung sowie auf die Versorgung mit Lebensmitteln in den Städten Mazar-e Sharif (Hauptstadt der Provinz Balkh) und Herat (Hauptstadt der Provinz Herat) aus?

[...]

Zusammenfassung:

Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass es im Umland von Mazar-e-Sharif, Provinz Balkh, zu Wasserknappheit und einer unzureichenden Wasserversorgung kommt. Über die Situation in Mazar-e-Sharif selbst wird nicht berichtet. Zur Wasserversorgung in der Provinz Herat konnte ein Bericht gefunden werden, demzufolge Zahlungen an die Wasserversorgungsanstalt in der Höhe von 208 Mio. Afghanis ausstehen. Aufgrund der ausstehenden Zahlungen musste die Wasseranstalt Infrastrukturprojekte verschieben. Über die konkrete Versorgungslage in Herat-Stadt wurde nicht berichtet.

Aufgrund der Dürre wird die Getreideernte in Afghanistan dieses Jahr deutlich geringer ausfallen als in den vergangenen Jahren. Gemäß einer Quelle lagen die Getreidepreise auf den Märkten in Herat-Stadt und Mazar-e-Sharif aufgrund guter Ernten im Iran und Pakistan im Mai 2018 dennoch nicht über dem Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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