TE Vwgh Erkenntnis 2019/11/13 Ra 2019/18/0303

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Veröffentlicht am 13.11.2019
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103000
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
EURallg
FlKonv Art1 AbschnA Z2
MRK Art2
MRK Art3
32013L0033 Aufnahme-RL Art21

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2019/18/0304Ra 2019/18/0305Ra 2019/18/0306Ra 2019/18/0307

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision der revisionswerbenden Parteien 1. A K, 2. R F, 3. M K, 4. A K, und

5. Q K, alle in O und vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juni 2019, G306 2181885-1/13E, G306 2181880-1/13E, G306 2181888-1/10E, G306 2181886-1/10E, G306 2217292-1/2E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind Mitglieder einer Familie; der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind Ehegatten, die dritt- bis fünftrevisionswerbenden Parteien sind ihre minderjährigen Kinder; alle sind irakische Staatsangehörige, gehören zur arabischen Volksgruppe und bekennen sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben.

2 Die erst- bis viertrevisionswerbenden Parteien beantragten am 23. September 2015 internationalen Schutz; für die in Österreich nachgeborene Fünftrevisionswerberin wurde am 8. Februar 2019 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt. 3 Zur Begründung der Anträge brachten die revisionswerbenden Parteien zusammengefasst vor, der Erstrevisionswerber habe in Bagdad ein Friseurgeschäft betrieben und sei wiederholt von Angehörigen der schiitischen Miliz Asa'ib al-Haqq unter Todesdrohung aufgefordert worden, den Milizionären Informationen über seine (sunnitischen) Kunden zu geben. Er habe dem nicht entsprochen und die Flucht ergriffen. Bei Rückkehr fürchte er deshalb Verfolgung durch die Miliz. Die Zweitrevisionswerberin machte im Beschwerdeverfahren geltend, ihr und der Drittrevisionswerberin drohe im Irak Verfolgung wegen einer angenommenen "westlichen Lebensweise".

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - in Bestätigung entsprechender Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl - die Anträge auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen die revisionswerbenden Parteien Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Irak zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

5 Begründend schenkte das BVwG dem Fluchtvorbringen des Erstrevisionswerbers (Bedrohung durch schiitische Milizionäre) wegen mehrerer in der Beweiswürdigung des angefochtenen Erkenntnisses näher dargestellter Widersprüche in seiner Aussage (etwa zur angeblichen Sprengung seines Geschäftes oder dem Ablauf der behaupteten Bedrohungen) keinen Glauben. Den revisionswerbenden Parteien sei es auch nicht gelungen, die Annahme einer "westlichen Lebenseinstellung" durch die weiblichen Familienangehörigen glaubhaft zu machen. Zum subsidiären Schutz hielt das BVwG fest, es könne nicht erkannt werden, dass den revisionswerbenden Parteien im Falle der Rückkehr in den Irak die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin seien arbeitsfähige Personen, die grundsätzlich in der Lage seien, ein ausreichendes Einkommen zur Sicherstellung des Lebensunterhalts der Familie zu erwirtschaften. Darüber hinaus könne davon ausgegangen werden, dass ihnen auch im Rahmen des Familienverbandes eine ausreichende wirtschaftliche und soziale Unterstützung durch im Irak aufhältige weitere Familienangehörige zuteil würde. Eine die physische Existenz nur unzureichend sichernde Versorgungssituation im Herkunftsstaat, konkret im Großraum Bagdad, liege nicht vor.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Sie wendet sich zum einen gegen die Beweiswürdigung des BVwG im Zusammenhang mit dem Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien und macht zum anderen geltend, das BVwG habe bei der Nichtgewährung von subsidiärem Schutz die besondere Vulnerabilität der Familie mit mehreren minderjährigen Kindern nicht berücksichtigt. Im Folgenden führt die Revision aus, welche überaus schwierige Lebenssituation die Familie bei Rückkehr in den Herkunftsstaat vorfände.

7 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet. Zu Spruchpunkt I.:

9 Soweit sich die Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet, gelingt es ihr nicht, eine Rechtsfrage darzulegen, der - entgegen dem Ausspruch des BVwG - grundsätzliche Bedeutung zukäme. Nach der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung wirft eine im Einzelfall vorgenommene, nicht als grob fehlerhaft erkennbare Beweiswürdigung im Allgemeinen keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG auf. Eine solche liegt - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 1.3.2019, Ra 2018/18/0552, mwN). Letzteres vermag die Revision nicht aufzuzeigen.

10 Zur geltend gemachten drohenden Verfolgung wegen Annahme eines "westlichen Lebensstils" durch die weiblichen Familienmitglieder ist auf die hg. Rechtsprechung zu verweisen, wonach nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, dazu führt, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. etwa VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301 bis 0306, mwN). Fallbezogen verneinte das BVwG nach Durchführung des Beweisverfahrens, insbesondere auch einer mündlichen Verhandlung, die Annahme eines solchen Lebensstils durch die im gegenständlichen Fall betroffenen weiblichen Familienmitglieder. Dem vermag die Revision nichts Stichhaltiges entgegen zu setzen, zumal sie nicht aufzuzeigen vermag, dass die Zweit- und die Drittrevisionswerberinnen tatsächlich bereits einen schützenswerten Lebensstil im Sinne der höchstgerichtlichen Leitlinien angenommen haben, den sie im Irak nicht leben könnten.

Zu Spruchpunkt II.:

11 Zulässig und berechtigt ist die Revision hingegen mit ihrem Vorbringen, das BVwG habe die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten im gegenständlichen Fall nur unzureichend und abweichend von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geprüft.

12 Bei den revisionswerbenden Parteien handelt es sich um eine Familie mit drei minderjährigen Kindern und somit - im Hinblick auf die Minderjährigkeit der dritt- bis fünftrevisionswerbenden Parteien - um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe. Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die revisionswerbenden Parteien - fallbezogen im Irak - tatsächlich vorfinden (vgl. dazu etwa VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0336, mwN). 13 Die rudimentären Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses (insbesondere zur individuellen Lage, welche die revisionswerbenden Parteien bei Rückkehr vorfänden) werden diesen in der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen nicht gerecht. Sie vermögen die rechtlichen Schlussfolgerungen des BVwG zur fehlenden Rückkehrgefährdung der Familie nicht zu tragen.

14     Die Länderfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis

(vgl. zur Sicherheitslage in Bagdad etwa S. 15 des Erkenntnisses:

"Darüber hinaus sind die sunnitischen Bewohner der Gefahr von

Übergriffen durch schiitische Milizen ausgesetzt ... In Bezug auf

die Opferzahlen war Bagdad ... 2018 die am schwersten betroffene

Provinz des Landes; zur Grundversorgung etwa S. 45 des

Erkenntnisses: "Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung

... von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung,

Gesundheitsversorgung, Bildung, ... erlebt"; zur Wasserversorgung

etwa S. 46f des Erkenntnisses: "Der Irak befindet sich inmitten

einer schweren Wasserkrise ... Die Wasserknappheit dürfte sich

kurz- bis mittelfristig noch verschärfen") zeichnen ein prekäres Bild der Sicherheits- und Versorgungslage im Herkunftsstaat der revisionswerbenden Parteien. Diese Feststellungen werden vom BVwG in keinen Bezug zur konkreten Rückkehrsituation der gegenständlichen Familie mit kleinen Kindern gesetzt. Das BVwG legt auch nicht dar, wo die Familie wohnen soll, inwieweit die Arbeitsfähigkeit der erwachsenen Familienmitglieder die Versorgungssituation der Familie im Lichte der getroffenen Länderfeststellungen konkret verbessern könnte, und welche im Irak verbliebenen Familienangehörigen in der Lage sein sollen, die Familie so zu unterstützen, dass ihnen keine dem Art. 3 EMRK widersprechende Lebenssituation drohen würde.

15 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten jedoch gemäß § 34 Abs. 1 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.

16 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20

14. Das Kostenmehrbegehren der Revision findet darin keine Deckung.

Wien, am 13. November 2019

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180303.L01

Im RIS seit

03.01.2020

Zuletzt aktualisiert am

03.01.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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