TE Vfgh Erkenntnis 2019/10/3 E490/2018 ua

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Veröffentlicht am 03.10.2019
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und Erlassung von Rückkehrentscheidungen betreffend eine Familie afghanischer Staatsangehöriger; mangelnde Auseinandersetzung mit - als gegeben angenommener - konkreter Unterstützungsmöglichkeit durch Familienangehörige angesichts der UNHCR-Richtlinien zu Kabul

Spruch

I. 1. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerden gegen die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen werden und die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln sowie die Erlassung von Rückkehrentscheidungen und die Aussprüche der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise zu Recht erkannt bzw bestätigt werden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreter die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.       Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.       Die Beschwerdeführer sind aus der Stadt Kabul stammende Staatsangehörige von Afghanistan, gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und sind sunnitische Moslems. Der Erstbeschwerdeführer wurde am 1. Juni 1984, die Zweitbeschwerdeführerin am 6. März 1988 geboren und sie sind miteinander verheiratet. Sie stellten nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 17. Mai 2015 Anträge auf internationalen Schutz. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer wurde am 11. Juni 2016 im Bundesgebiet geboren und ist der gemeinsame Sohn des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin. Er stellte am 7. Juli 2016 durch den Erstbeschwerdeführer als gesetzlichen Vertreter einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Im Zuge der polizeilichen Erstbefragung und der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gaben die Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass der Erstbeschwerdeführer in Kabul auf Grund seiner ehemals guten finanziellen Situation der Gefahr von Übergriffen Dritter ausgesetzt gewesen sei und die Polizei ihn vor diesen nicht habe schützen können. Konkret habe es Drohanrufe gegeben und das Haus der Beschwerdeführer sei angegriffen worden. Bei einem Überfall im Dezember 2013 sei der Erstbeschwerdeführer angeschossen und seines Autos und Bargeldes beraubt worden, woraufhin die Beschwerdeführer zunächst in einen anderen Landesteil verzogen und anschließend ins Ausland geflüchtet seien.

3.       Mit Bescheiden vom 20. bzw 23. Mai 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurden die Anträge auf Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Weiters wurden Aufenthaltstitel gemäß §§57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt, aber – auf Grund der Schwangerschaft der Zweitbeschwerdeführerin – gemäß §9 Abs3 BFA-VG ausgesprochen, dass die Erlassung von Rückkehrentscheidungen vorübergehend unzulässig sei.

4.       Mit Bescheid vom 26. April 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Drittbeschwerdeführers gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß §46 FPG zulässig sei. Gleichzeitig wurde eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt.

5.       Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 17. Jänner 2018 als unbegründet ab. Betreffend den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurde jeweils der letzte Spruchpunkt der bekämpften Bescheide dahingehend abgeändert, dass Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt wurde, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Afghanistan gemäß §46 FPG zulässig sei. Gleichzeitig wurde eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen gesetzt.

Im Hinblick auf die (Nicht-)Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten führte das Bundesverwaltungsgericht unter Heranziehung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 2. März 2017 aus, dass sich aus den Feststellungen zur persönlichen Situation der Beschwerdeführer keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Hindernisses der Rückverbringung nach Afghanistan ergäben. Nach den Ergebnissen des Verfahrens könne davon ausgegangen werden, dass sie im Falle der Rückkehr keiner realen Gefahr im Sinne des Art2 oder 3 EMRK ausgesetzt wären, die subsidiären Schutz notwendig machen würde. Denn auch unabhängig vom individuellen Vorbringen seien keine außergewöhnlichen Umstände hervorgekommen, die ihnen im Falle der Rückkehr drohen und ein Abschiebungshindernis darstellen könnten, wie etwa eine schlechte Versorgungslage, eine massive Beeinträchtigung der Gesundheit oder gar der Verlust des Lebens.

Eine Rückkehr in die Stadt Kabul sei den Beschwerdeführern jedenfalls möglich und zumutbar: Kabul sei eine für Normalbürger ausreichend sichere und auf dem Luftweg gut erreichbare Stadt. Nach den Länderberichten sei die allgemeine Lage als vergleichsweise sicher und stabil zu bezeichnen. Die durch vereinzelte Anschläge bestehenden Gefährdungsquellen seien in reinen Wohngebieten nicht anzunehmen, da sich die verzeichneten Anschläge hauptsächlich im Nahebereich staatlicher Einrichtungen ereigneten. Die afghanische Regierung behalte jedoch die Kontrolle über die Stadt, größere Transitrouten, Provinzhauptstädte und fast alle Distriktzentren. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin stammten aus der Stadt Kabul, hätten sich dort seit ihrer Geburt aufgehalten, seien somit mit den örtlichen Gegebenheiten und kulturellen Gepflogenheiten vertraut und verfügten über ein soziales Netzwerk. Sie sprächen die Landessprachen sowie (ein wenig) Englisch und könnten langjährige Schulausbildungen von sieben bzw zwölf Jahren vorweisen. Der Erstbeschwerdeführer habe zudem langjährige Berufserfahrung als selbstständiger Händler (für Handywertkarten) und damit vor seiner Ausreise den Lebensunterhalt für sich und seine Ehefrau verdienen können. Seine finanzielle Lage habe sich sehr gut dargestellt. Es sei ihm daher möglich und zumutbar, im Falle der Rückkehr erneut eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu verdienen. Auf Grund ihrer Schulausbildung erscheine es aber auch für die Zweitbeschwerdeführerin nicht ausgeschlossen, in Kabul einen weiteren Bildungsweg anzustreben oder einen Beruf zu ergreifen. Beide Beschwerdeführer seien dafür ausreichend gesund.

Die Beschwerdeführer könnten zudem Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Darüber hinaus hielten sich die Eltern der Zweitbeschwerdeführerin und deren Bruder in Kabul auf, mit welchen regelmäßiger Kontakt bestehe, sodass die Beschwerdeführer auch auf diesem Weg finanzielle Unterstützung erlangen könnten, um erneut Fuß zu fassen. Insbesondere besitze der Bruder der Zweitbeschwerdeführerin ein Lebensmittelgeschäft. Auch die Ehefrau und zwei Kinder des verstorbenen Bruders des Erstbeschwerdeführers lebten bei den Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin in Kabul. Daneben bestünden noch andere private Anknüpfungspunkte. Es sei daher nicht zu befürchten, dass die Beschwerdeführer auch als Familie mit einem Kleinkind noch bevor sie nach ihrer Rückkehr in der Lage wären, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen, in eine existenzbedrohende bzw wirtschaftlich ausweglose Situation geraten könnten.

Betreffend den minderjährigen Drittbeschwerdeführer sei auszuführen, dass diesem eine Rückkehr im Familienverband möglich und zumutbar sei, da seine Eltern jedenfalls den Lebensunterhalt der Familie verdienen und entsprechend für ihr Kind sorgen könnten. Auch unter Berücksichtigung der Länderberichte, wonach sich die Situation von Kindern in Afghanistan gebessert habe, drohe dem Drittbeschwerdeführer keine Verletzung seiner gemäß Art2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte. Die Ausübung von Gewalt (an Schulen) an Kindern komme vor allem in ländlichen Gebieten vor; Anzeichen dafür, dass der Drittbeschwerdeführer körperliche Übergriffe innerhalb seiner Familie zu erwarten habe, seien nicht hervorgekommen. Die Gefahr, Opfer von Kinderarbeit zu werden, sei unter Berücksichtigung der Bildung und Arbeitsfähigkeit seiner Eltern sowie der darüber hinaus bestehenden familiären Unterstützungsmöglichkeiten nicht wahrscheinlich.

Was die gesundheitlichen Beschwerden der Beschwerdeführer betreffe sei nicht ersichtlich, dass diese in jener besonderen Schwere vorlägen, die eine Abschiebung nach Afghanistan und eine Wiederansiedlung in der Stadt Kabul als unmenschliche Behandlung erscheinen ließen. Der Erstbeschwerdeführer leide an einer Beinlängendifferenz und damit einhergehenden Rückenbeschwerden, müsse aber keine Medikamente nehmen und Behandlungs- bzw Therapiemöglichkeiten seien in Kabul gesichert. Die Zweitbeschwerdeführerin leide an Diabetes und Hepatitis B, wogegen nach Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation ebenfalls ausreichende Behandlungsmöglichkeiten in Kabul offenstünden. So seien alle Diabetesarten behandelbar und auch (nicht komplexe) hepatologische Behandlungen möglich. Der minderjährige Drittbeschwerdeführer leide an einem gutartigen Hämangiom unterhalb des rechten Auges. Die Kontrolle und medikamentöse Therapie, die er im Bundesgebiet erhalten habe, sei in Kabul ebenfalls gesichert. Insgesamt werde durch die vorliegenden Krankheitsbilder die Eingriffsschwelle des Art3 EMRK nicht überschritten, wobei auch eine Gesamtschau und die aus den Behandlungen allenfalls resultierende Belastung der Familie zu keiner anderen Einschätzung führe.

6.       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht dadurch Willkür geübt habe, dass es ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren durchgeführt und das Parteivorbringen außer Acht gelassen habe. Konkret habe es die Gefährdung der Beschwerdeführer auf Grund ihres ehemaligen Profils als Geschäftsleute bzw wohlhabendere Personen und auf Grund ihrer westlichen Orientierung iSd der UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016, ihren Krankheitszustand sowie ihre Integration als Familie im Bundesgebiet außer Acht gelassen.

7.       Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen und die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II.      Erwägungen

1.       Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht gegen die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln sowie gegen die erlassenen Rückkehrentscheidungen und gegen die Aussprüche der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet.

2.       Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg. cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3.       Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1.    Aus den – zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen – UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 geht hervor (S 10), dass Familien mit besonderem Schutzbedarf nach Auffassung des UNHCR nur dann eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul offenstand, wenn sie Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie hatten und davon ausgegangen werden konnte, dass diese willens und in der Lage seien, die Zurückkehrenden tatsächlich zu unterstützen (vgl zur Indizwirkung der UNHCR-Richtlinien VwGH 22.11.2016, Ra 2016/20/0259 mwN). Inzwischen ist der UNHCR der Auffassung, dass "angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist" (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, S 129).

3.2.    Zwar werden die Beschwerdeführer im vorliegenden Fall nicht im Rahmen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in die Stadt Kabul verwiesen, sondern stammen von dort. Das Bundesverwaltungsgericht stützt seine Entscheidung jedoch maßgeblich auf die Annahme, dass die Beschwerdeführer – eine Familie mit einem Kleinkind – von den Eltern bzw dem Bruder der Zweitbeschwerdeführerin, die sich in Kabul aufhielten, (finanziell) unterstützt werden könnten. Soweit ersichtlich gelangt das Bundesverwaltungsgericht zu diesem Schluss, weil regelmäßig Kontakt zu den Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin bestehe, ihr Bruder ein Lebensmittelgeschäft besitze und auch die Ehefrau und zwei Kinder des verstorbenen Bruders des Erstbeschwerdeführers bei den Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin in Kabul lebten. Zudem hätten die Beschwerdeführer noch andere private Anknüpfungspunkte in Kabul.

3.3.    Das Bundesverwaltungsgericht begründet nicht näher, warum es davon ausgeht, dass die Eltern bzw der Bruder der Zweitbeschwerdeführerin – zusätzlich zu den bereits bei diesen lebenden weiteren Familienangehörigen – eine dreiköpfige Familie ausreichend unterstützen könnten bzw wollten. Es verabsäumt insbesondere, die Zweitbeschwerdeführerin zur konkreten Lebenssituation ihrer Eltern bzw ihres Bruders zu befragen. Aus der Niederschrift der mündlichen Verhandlung ergibt sich lediglich, dass der Vater alt, krank und seither zuhause sei, und dass der Bruder, der selbst vier Kinder habe, ein kleines Geschäft besitze, in dem er Lebensmittel verkaufe. Auf die Frage nach dem Befinden ihrer Familie antwortet die Zweitbeschwerdeführerin nur: "Es geht ihnen gut, sie leben, sie sind dazu gezwungen."

3.4.    Wenngleich das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchführt und seine Entscheidung ansonsten sorgfältig begründet, verabsäumt es damit, Fragen zu den konkreten Lebensumständen der Eltern bzw des Bruders der Zweitbeschwerdeführerin zu stellen. Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt es sohin, zu ermitteln, ob die Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin willens und in der Lage sind, die Beschwerdeführer – eine Familie mit einem Kleinkind – tatsächlich zu unterstützen. Da das Bundesverwaltungsgericht damit Ermittlungen in einem entscheidenden Punkt unterlassen hat, hat es seine Entscheidung mit Willkür belastet (vgl zB VfGH 12.12.2018, E667/2018 ua; 12.3.2019, E2314/2018 ua).

3.5.    Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes erweist sich im Hinblick auf die Beurteilung einer den Beschwerdeführern im Falle der Rückkehr drohenden Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 und 3 EMRK schon aus diesen Gründen als verfassungswidrig. Soweit sich die Entscheidung auf die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten an die Beschwerdeführer und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie auf die erlassenen Rückkehrentscheidungen und die Aussprüche der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, ist sie somit mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben.

4.       Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

4.1.    Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

4.2.    Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.

4.3.    Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde – soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet – abzusehen und sie gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).

III.    Ergebnis

1.       Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihre Beschwerden gegen die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen werden und – daran anknüpfend – die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie die erlassenen Rückkehrentscheidungen und die Aussprüche der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise zu Recht erkannt bzw bestätigt werden, in dem durch ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2.       Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten.

3.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten sind Umsatzsteuer in der Höhe von € 356,– sowie die entrichteten Eingabengebühren gemäß §17a VfGG in der Höhe von jeweils € 240,– enthalten. Ein Streitgenossenzuschlag wurde nicht beantragt.

Schlagworte

Asylrecht, Kinder, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E490.2018

Zuletzt aktualisiert am

23.12.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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