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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §11 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 21. Mai 2019 verkündete und am 25. Juni 2019 ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W210 2195254-1/15E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: M M, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Spruchpunkte II. bis IV.) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 29. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 28. März 2018 zur Gänze abwies. Dem Mitbeteiligten wurde auch kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) erteilt, gegen ihn wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen, es wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und es wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
2 Die dagegen erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom 21. Mai 2019, schriftlich ausgefertigt am 25. Juni 2019, in Bezug auf die Nichtgewährung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Im Übrigen gab es der Beschwerde des Mitbeteiligten statt, erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.) und behob die restlichen den Mitbeteiligten belastenden Aussprüche im angefochtenen Bescheid des BFA ersatzlos (Spruchpunkt IV.). Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3 Begründend führte das BVwG - soweit für das gegenständliche Revisionsverfahren von Bedeutung ist - aus, der Mitbeteiligte gehöre zur Volksgruppe der Hazara, sei ledig, kinderlos, spreche seine Muttersprache Dari sowie Farsi und mittlerweile auch Deutsch. Er sei in einem näher genannten Dorf der Provinz Ghazni geboren worden und dort bei seiner Familie aufgewachsen. Er habe fünf Jahre die Schule besucht und in der familieneigenen Landwirtschaft gearbeitet. Im Jahr 2012 sei er im Alter von 12 Jahren von seinem Vater in den Iran zu einem dort lebenden Onkel mütterlicherseits geschickt worden. Im Iran sei der Mitbeteiligte drei Jahre in die Schule gegangen, ehe er auf Anraten seines Vaters nach Europa (Österreich) gereist sei. Die Eltern des Mitbeteiligten und vier (allesamt jüngere Geschwister) hätten Afghanistan im Jahr 2016 verlassen und lebten jetzt im Iran. In Afghanistan lebe noch der Großvater des Mitbeteiligten mütterlicherseits; weitere Verwandte habe er dort nicht. Es gebe für ihn weder familiäre noch soziale Anknüpfungspunkte in Mazare Sharif oder Herat. Der Mitbeteiligte habe sich dort auch noch nie aufgehalten. In Österreich habe der Mitbeteiligte im Juli 2017 die Pflichtschule abgeschlossen, er sei zwei Jahre Schüler einer Handelsakademie in Salzburg gewesen und absolviere seit September 2018 eine Lehre als Metalltechniker mit Schwerpunkt Werkzeugbau.
4 Im Folgenden beschäftigte sich das BVwG insbesondere mit der Frage, ob der Mitbeteiligte die Voraussetzungen für subsidiären Schutz erfülle. Es hielt zusammengefasst fest, dass eine Rückkehr des Mitbeteiligten in die Herkunftsprovinz Ghazni wegen der dortigen instabilen und volatilen Sicherheitslage nicht in Betracht komme. Das BFA habe ihn jedoch auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Mazar-e Sharif verwiesen. Dem stimme das BVwG nicht zu: Der Mitbeteiligte sei zwar jung, gesund und arbeitsfähig, er habe Afghanistan aber im Alter von zwölf Jahren verlassen und sich fortan bis zu seiner Ausreise nach Europa im Iran aufgehalten. In Afghanistan habe er zwar eine Schule besucht, verfüge dort aber - abgesehen von Tätigkeiten in der familieneigenen Landwirtschaft - über keine Berufserfahrung, an die er im Falle seiner Rückkehr anknüpfen könne. Im Iran habe er ebenso nur die Schule besucht und verfüge nur über Erfahrung in Form von Gelegenheitsarbeiten auf Baustellen und Hühnerfarmen. Er habe sich in seinem bisherigen Leben somit keine nennenswerten Qualifikationen aneignen können, die ihm im Falle einer Ansiedlung in Afghanistan das Überleben sichern könnten. Aus den Länderfeststellungen gehe jedoch hervor, dass die Arbeitslosigkeit insbesondere gering qualifizierte, bildungsferne Personen betreffe; diese seien auch am meisten armutsgefährdet. Hinzu komme, dass der Mitbeteiligte bis zu seinem Umzug in den Iran ausschließlich in der Heimatprovinz aufhältig gewesen sei. Er verfüge in den (als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht kommenden) Städten Mazar-e Sharif oder Herat über keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte. Den Länderberichten sei zu entnehmen, dass es sogar für gut ausgebildete und gut qualifizierte Personen schwierig sei, ohne ein Netzwerk einen Arbeitsplatz zu bekommen. Unter Berücksichtigung dessen erscheine es insgesamt nicht zumutbar, den Mitbeteiligten auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat zu verweisen. Ihm sei daher subsidiärer Schutz zu gewähren. 5 Gegen die Spruchpunkte II. bis IV. des Erkenntnisses wendet sich die vorliegende Amtsrevision. Sie macht zur Zulässigkeit und in der Sache geltend, das BVwG sei mit der Gewährung von subsidiärem Schutz an den Mitbeteiligten von der - näher zitierten - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, die in sachverhaltsmäßig ähnlich gelagerten Fällen eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative für die betroffenen Asylwerber in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat bejaht habe. Das BVwG lege nicht überzeugend dar, dass dem Mitbeteiligten, der ein junger, gesunder Mann mit Schulbildung und Berufserfahrung sei (den in Österreich erworbenen Schulabschluss und die aktuelle Berufsausbildung des Mitbeteiligten lasse das BVwG in seinen Überlegungen vollkommen außer Acht), der die Landessprache beherrsche und mit den kulturellen Gepflogenheiten des Herkunftsstaates vertraut sei, keine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat offen stehe. 6 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er den Erwägungen des BVwG im angefochtenen Erkenntnis beitrat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und begründet.
8 Im gegenständlichen Fall ist strittig, ob dem Mitbeteiligten
in den afghanischen Städten Mazar-e Sharif oder Herat eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 Abs. 1 AsylG 2005 zur Verfügung steht, die eine Zuerkennung von subsidiärem Schutz nicht rechtfertigt.
9 Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
10 Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).
11 Im vorliegenden Fall hat das BVwG zwar eine einzelfallbezogene Abwägung der für und gegen das Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative sprechenden Gründe vorgenommen, dabei aber wesentliche Umstände außer Acht gelassen bzw. mangelhaft begründet:
12 So ging das BVwG davon aus, dass der Mitbeteiligte in Afghanistan und im Iran keine Schulbildung und berufliche Qualifikation erworben hat, die ihm bei der Ansiedlung in den in Rede stehenden Städten dienlich wären, um einen Arbeitsplatz zu erhalten. Wie die Amtsrevision zutreffend aufzeigt, blieben bei dieser Beurteilung der Schulabschluss in Österreich und die seither erworbenen Kenntnisse sowie beruflichen Fähigkeiten des Mitbeteiligten außer Betracht.
13 § 11 Abs. 2 AsylG 2005 verlangt aber, dass bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, unter anderem auf die persönlichen Umstände des Asylwerbers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen ist. Im vorliegenden Fall wären daher die persönlichen Umstände des Mitbeteiligten im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG zu berücksichtigen gewesen. Da nicht auszuschließen ist, dass bei Vermeidung dieses Verfahrensmangels ein anderes Ergebnis erzielt worden wäre, ist das angefochtene Erkenntnis mit einem wesentlichen Verfahrensmangel belastet.
14 Daran ändert auch nichts, dass das BVwG an anderer Stelle seiner Entscheidungsgründe argumentiert, es sei selbst für gut ausgebildete und gut qualifizierte Personen in Afghanistan schwierig, ohne ein soziales Netzwerk einen Arbeitsplatz zu bekommen. Schwierigkeiten bei der Arbeitsplatzfindung bedeuten nämlich noch nicht, dass es für den Mitbeteiligten unter vollständiger Bedachtnahme auf seine persönlichen Umstände nicht möglich wäre, Arbeit zu finden.
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher - im Anfechtungsumfang - wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Wien, am 18. November 2019
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180292.L00Im RIS seit
18.12.2019Zuletzt aktualisiert am
18.12.2019