TE OGH 2019/11/19 22Bs255/19i

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Veröffentlicht am 19.11.2019
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Das Oberlandesgericht Wien hat in der Übergabesache des Jacek Jerzy S***** zur Strafvollstreckung an die Republik Polen über dessen Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 3. September 2019, GZ 314 HR 24/19p-24, nach der am 19. November 2019 unter dem Vorsitz des Richters Mag. Hahn, im Beisein des Richters Mag. Gruber und der Richterin Mag. Körber als weitere Senatsmitglieder, in Gegenwart der Oberstaatsanwältin Mag. Riener sowie in Anwesenheit des Betroffenen und seiner Verteidigerin Mag. Hahn durchgeführten öffentlichen Übergabeverhandlung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Aufgrund SIS-Ausschreibung leitete die Staatsanwaltschaft Wien gegen den ***** polnischen Staatsangehörigen Jacek Jerzy S***** gemäß § 16 EU-JZG ein Übergabeverfahren ***** ein.

Nach dem in weiterer Folge übermittelten Europäischen Haftbefehl des Kreisgerichts Kielce vom 1. August 2017, AZ III Kop 62/17, wurde S***** aufgrund des in seiner Abwesenheit ergangenen, den Voraussetzungen nach § 11 Abs 1 Z 1 EU-JZG entsprechenden Urteils des Bezirksgerichts Kielce vom 16. März 2009 wegen der Straftat gegen die Familie und Pflege gemäß Artikel 209 § 1 polnisches Strafgesetzbuch zu einjähriger Freiheitsstrafe verurteilt.

Darnach entzog er sich im Zeitraum September 2003 bis 15. Dezember 2008 in Siodly hartnäckig der Erfüllung der ihm kraft Gesetzes auferlegten Pflicht der Pflege, seinen minderjährigen Kindern Monika und Dawid S***** Unterhalt zu leisten, wodurch er diese der Gefahr aussetzte, ihre grundlegenden Lebensbedürfnisse nicht zu befriedigen (ON 3, 7, 20).

Mit dem angefochtenen Beschluss bewilligte das Erstgericht die Übergabe des Betroffenen an die polnischen Behörden.

Dagegen richtet sich die rechtzeitig angemeldete (ON 25) und fristgerecht ausgeführte Beschwerde des Betroffenen, mit der er seine Übergabe wegen seit fünf Jahren bestehenden rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts in Österreich für nicht gerechtfertigt, jedenfalls aber als unverhältnismäßig im Sinne von Artikel 8 MRK erachtet (ON 26).

Rechtliche Beurteilung

Dem Rechtsmittel kommt keine Berechtigung zu.

Von der im Hoheitsgebiet der Republik Polen erfolgten Verurteilung sind noch mehr als vier Monate zu vollstrecken und stellt die zugrundeliegende Handlung nach den österreichischen Strafbestimmungen das Vergehen der Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 198 Abs 1 StGB dar, sodass die für eine Übergabe zur Strafvollstreckung erforderlichen Voraussetzungen nach § 4 Abs 2 EU-JZG erfüllt sind.

Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zum Vollzug einer Freiheitsstrafe gegen einen Unionsbürger, der nach fünf Jahren rechtmäßigem und ununterbrochenem Aufenthalt im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt erworben (§ 53a Abs 1 und Abs 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG) und dieses Recht nicht aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verwirkt hat, ist unzulässig (§ 5a iVm § 5 Abs 4 EU-JZG). Nach den Materialien zu § 5a EU-JZG soll unmittelbar an das Recht auf Daueraufenthalt angeknüpft werden, das nach Artikel 16 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, Abl. L 2004/158, 77, dann entsteht, wenn sich der Unionsbürger rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Angeknüpft werden soll unmittelbar an das Recht auf Daueraufenthalt, nicht etwa daran, dass der Unionsbürger über eine Bescheinigung seines Daueraufenthalts verfügt. Nach Artikel 27 f dieser Richtlinie sind Beschränkungen der Freizügigkeit und des Aufenthaltsrechts von Unionsbürgern nur in sehr engen Grenzen, eine Ausweisung nur unter außergewöhnlichen Umständen zulässig; vgl. die innerstaatlichen Regelungen in § 55 NAG und § 66 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG, BGBl I Nr. 100/2005; EBRV 2379 BlgNR 24. GP 5).

Es ist daher im Folgenden die Frage zu überprüfen, ob der Aufenthalt des Betroffenen in Österreich rechtmäßig ist.

Ein Unionsbürger, der nicht in Österreich wirtschaftlich tätig ist, hat aufgrund des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger gemäß Artikel 20 AEUV unter bestimmten Bedingungen und Beschränkungen einen primärrechtlichen Anspruch auf Aufenthalt in Österreich. Die obzitierte Richtlinie regelt die näheren Bedingungen dieses Freizügigkeitsrechts. Nach Artikel 7 Abs 1 lit b der Richtlinie hat jeder Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen. Jedoch darf nach Artikel 14 Abs 3 der Richtlinie die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat nicht automatisch zu einer Ausweisung führen.

Nach Artikel 24 Abs 1 der Richtlinie genießt vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats.

So sind nach § 51 Abs 1 Z 2 NAG aufgrund der Freizügigkeitsrichtlinie EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, sodass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen. Nach § 53 Abs 2 Z 2 NAG sind zum Nachweis des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ein gültiger Personalausweis oder Reisepass sowie Nachweise über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz vorzulegen.

Nach Artikel 14 Abs 2 erster Satz der Richtlinie steht den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Aufenthaltsrecht nach den Artikel 7, 12 und 13 NAG zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen. Diese Regelung wurde in § 55 Abs 1 NAG übernommen, wonach das Aufenthaltsrecht von EWR-Bürgern und deren Angehörigen für mehr als drei Monate nur so lange besteht, als die Voraussetzungen erfüllt bleiben. Die in Artikel 14 Abs 2 zweiter Satz der Richtlinie eingeräumte Möglichkeit, den Fortbestand der Ausstellungsvoraussetzungen zu überprüfen, wurde durch § 55 Abs 2 NAG umgesetzt. Besteht das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 NAG nicht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs 2 oder § 54 Abs 2 NAG nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht mehr vorliegen, hat die Behörde gemäß § 55 Abs 3 NAG unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit dem Antragsteller, auch die zuständige Fremdenpolizeibehörde vom Vorliegen eines solchen Umstands zu verständigen, damit diese im Hinblick auf eine mögliche Beendigung des Aufenthalts des betreffenden EWR-Bürgers oder dessen Angehörigen tätig werden kann (10 ObS 152/13w mwN).

Eine Gleichbehandlung mit Inländern steht jedoch nur jenen wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern zu, deren Aufenthalt die Voraussetzungen der Unionsbürger-RL erfüllt, also über ausreichende Existenzmittel und einen Krankenversicherungsschutz verfügen, sodass sie während ihres Aufenthalts für sich und ihre Angehörigen keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen (10 ObS 15/16b, 10 ObS 31/16f, 10 ObS 107/18k, 10 ObS 73/19m). Der Betroffene kam eigenen Angaben zufolge am 3. März 2012 mit Ersparnissen von ungefähr EUR 400,-- aus Polen nach Österreich (S 2 in ON 23). Von 2. August 2014 bis 25. November 2017 wurde er in einem Haus für Obdachlose (§ 14 WSHG) des Fonds Soziales Wien gemäß § 34 Abs 3 WSHG betreut (vgl. S 5 in ON 23). Von 1. Oktober 2017 bis 31. Mai 2019 war er geringfügig gemäß § 4 Abs 4 ASVG beschäftigt und bezog monatlich EUR 438,-- (S 3 in ON 19; S 1 in ON 14). Seit 1. Juni 2019 ist er als Mindestsicherungsbezieher angemeldet (S 1 in ON 19). Da das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nach § 51 Abs 1 Z 2 NAG nur EWR-Bürgern zukommt, die für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, sodass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen (Abermann in Abermann/Czech/Kind/Peyrl NAG § 51 Rz 12), liegt kein rechtmäßiger Aufenthalt des Betroffenen aufgrund obbeschriebener persönlicher und finanzieller Situation vor.

Zwar dürfen EWR-Bürger nicht allein deshalb ausgewiesen werden, weil sie Sozialhilfe vom Aufnahmemitgliedstaat erhalten, ist jedoch wesentliches Kriterium bei dieser Überprüfung, ob die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch genommen werden (Abermann aaO Rz 14). Der Ansicht des Beschwerdeführers liegt eine Abhängigkeit von Sozialleistungen in einem unangemessenen Ausmaß vor, sodass trotz seiner Erkrankung wegen der de facto von Anfang an fehlenden Existenzmittel die Voraussetzungen nach § 5a ***** EU-JZG mangels rechtmäßigen Aufenthalts nicht gegeben sind. Das Bemühen zur Erlangung einer Beschäftigung reicht ebensowenig aus wie die Notwendigkeit der Bezahlung laufender Kosten für die Wohnung, in der er mit seiner Partnerin lebt. Gerade diese Kosten würden auch während eines Gefängnisaufenthalts in Österreich auflaufen.

Die Abhängigkeit seiner Lebenspartnerin von diesen laufenden Zahlungen und die Tatsache, dass nach der Bestätigung von Obdach Wien diese ebenso in dieser Einrichtung betreut worden ist, zeigt, dass die Voraussetzungen nach § 52 Abs 1 Z 4 NAG genausowenig vorliegen.

Aber auch die Berufung auf Artikel 8 MRK (im Zusammenhang mit § 19 Abs 4 EU-JZG) und der Verweis auf sein im Inland verfestigtes Familienleben geht fehl. Der Schutz des Familienlebens kann einer Ausweisung oder Abschiebung entgegenstehen, wenn der Betroffene im Aufenthaltsstaat persönliche oder familiäre Bindungen hat, die ausreichend stark sind und durch eine Übergabe beeinträchtigt würden. Ein Eingriff begründet dann eine Verletzung von Artikel 8 MRK, wenn er nicht gesetzlich vorgesehen ist oder kein legitimes Ziel verfolgt oder nicht als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden kann (RIS-Justiz RS0123230). Familiäre Beziehungen zwischen Erwachsenen können eine Übergabe unter dem Aspekt des Artikel 8 MRK nur hindern, wenn über die sonst üblichen (emotionalen) Bindungen hinaus Merkmale einer Abhängigkeit bestehen (13 Os 156/11g), wofür jedoch fallbezogen keine Hinweise vorliegen.

Die vom Beschwerdeführer zitierte Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom 2. Dezember 2014, AZ 22 Bs 284/14x, steht dieser Einschätzung nicht entgegen, weil jener Betroffene bereits seit circa 14 Jahren seinen Lebensmittelpunkt in Österreich hatte und mit seiner Lebensgefährtin und gemeinsamen Kindern im Alter von zehn und 21 Jahren im gemeinsamen Haushalt lebte.

Die Erkrankung des Jacek Jerzy S***** steht zwar einer Übergabe nicht entgegen, kann aber unter Umständen einen Aufschubsgrund nach § 25 Abs 1 Z 1 EU-JZG darstellen.

Der angefochtene Beschluss entspricht sohin der Sach- und Rechtslage, sodass der Beschwerde ein Erfolg zu versagen war.

Textnummer

EW0001008

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2019:0220BS00255.19I.1119.000

Im RIS seit

12.12.2019

Zuletzt aktualisiert am

12.12.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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