TE Bvwg Erkenntnis 2019/8/8 W105 2215035-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.08.2019
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Entscheidungsdatum

08.08.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

W105 2215035-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald BENDA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.01.2019, Zl. 1131458702-161376939/BMI-BFA-BGLD-RD nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 30.07.2019, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, § 8 Abs. 1 AsylG 2005, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, § 57 AsylG 2005 sowie §§ 46, 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islam, stellte am 05.10.2016 nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Der Antragsteller wurde am 05.10.2016 erstmalig niederschriftlich einvernommen und tätigte er hierbei Angaben zu seiner Person sowie seinem familiären Umfeld. Inhaltlich bezog sich der Antragsteller darauf, dass sein Vater Staatsbeamter gewesen sei und sei dieser von den Taliban ermordet worden. Die Taliban hätten auch ihn dann noch weiter bedroht und habe er aus Angst beschlossen das Land zu verlassen. Er habe Angst vor der terroristischen Gruppierung der Taliban.

Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab der Antragsteller auf Befragung zu Protokoll, dass seine Mutter und seine Geschwister in Pakistan leben würden und habe er Kontakt zu diesen. Die Frage nach seinem Gesundheitszustand beantwortete der Antragsteller damit, dass er gesund sei.

Inhaltlich gab der Antragsteller zu Protokoll, dass sein Vater in der Provinz Helmand beim afghanischen Militär tätig gewesen sei. Vor etwa fünf Jahren (gerechnet vom Zeitpunkt der Einvernahme vor dem BFA) sei auch er mit seiner Familie vom Herkunftsort aus nach der Provinz Helmand übersiedelt. Es habe dort eine Kampfhandlung zwischen der Armee und den Taliban gegeben und sei dabei sein Vater ums Leben gekommen. Das sei Anfang 2015 gewesen. Der Wohnort sei sodann unter Kontrolle der Taliban geraten und hätten diese Leute umgebracht, die für die Regierung gearbeitet hätten. Ebenfalls hätten sie ohne Grund Hazara-Angehörige getötet, weshalb der Antragsteller mit seiner Familie nach Pakistan habe flüchten müssen. Er habe dann vom August 2015 vier Monate in Quetta/Pakistan gelebt. Wegen der schlechten Sicherheitslage habe er Quetta verlassen. Auch dort würden Taliban-Angehörige "Hazara-Leute" töten. Für Frauen und Jugendliche bestehe keine Gefahr. Auf Befragen gab der Antragsteller sodann zu Protokoll, dass sein Vater in der Armee als einfacher Soldat gedient habe. Er befürchte allein schon aufgrund seiner Volkszugehörigkeit zu den Hazara von den Taliban getötet zu werden. Auf Vorhalt einer sich allenfalls bietenden Fluchtalternative innerhalb Afghanistans gab der Antragsteller zu Protokoll, dass in seiner Gegend Krieg herrsche und sei die Sicherheitslage schlecht und hätten sie nicht daran gedacht innerhalb Afghanistans zu verziehen. Auf weiteres Befragen gab der Antragsteller an von den Taliban bedroht worden zu sein. Weiteres, konkretisierendes Vorbringen erstattete der Antragsteller nicht.

3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV). Es wurde gemäß I 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.) Schließlich wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

4. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und zentral ausgeführt, dass der Antragsteller im Herkunftsstaat Verfolgung von Seiten nicht staatlicher Akteure, nämlich der Taliban aufgrund einer ihm unterstellten politischen Gesinnung, seiner Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der Hazara zu befürchten habe. Die afghanischen Sicherheitsbehörden seien überdies nicht in der Lage, ihn vor dieser Verfolgung zu schützen. Er habe bereits im Rahmen seiner Einvernahme angegeben, dass er aufgrund der Tätigkeit seines Vaters bei der afghanischen Armee ins Blickfeld der mächtigen Taliban geraten sei. Das Risiko der Verfolgung liege im Wesentlichen darin, dass dem Beschwerdeführer von Seiten der Taliban eine oppositionelle politische Gesinnung zugeschrieben werde, die darauf beruhe, dass der Vater des Beschwerdeführers aus deren Sicht für Ungläubige gearbeitet habe. Nachdem die Taliban den Vater des Antragstellers ermordet hätten, habe er mit dem Rest der Familie aus Angst um sein Leben beschlossen sein Herkunftsland zu verlassen. In Afghanistan würden weiters keine effizienten staatlichen Schutzmechanismen für Bürger existieren. Des weiteren seien schiitische Hazara in Afghanistan nach wie vor massiver ethnischer sowie religiöser Verfolgung ausgesetzt. Die nichtstaatliche Verfolger- Gruppierung der Taliban und auch andere regierungsfeindliche Kräfte würden Hazara landeweit verfolgen und massakrieren. Zudem würden Hazara als Minderheit gegenüber der afghanischen Mehrheitsbevölkerung staatlich benachteiligt und unterdrückt. Im Weiteren wurde auf die schlechte Sicherheitslage in der Provinz Kabul verwiesen. Die Behörde verweise den Beschwerdeführer auf das Vorlegen verschiedener innerstaatlicher Relokationsalternativen und gebe hierbei lediglich rudimentär an, dass sich der Beschwerdeführer auch in Mazar-e Sharif oder auch Kabul als Tagelöhner niederlassen könne. Der Antragsteller verfüge jedoch in Kabul beispielsweise über keinerlei soziale familiärer Anknüpfungspunkte. Im Weiteren wurde auf die schlechte Versorgungslage der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Arbeit, Wohnraum und Gesundheitsversorgung verwiesen. Eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan sei in dieser Zusammenschau nicht zumutbar.

5. Im Weiteren wurde dem Antragsteller Gelegenheit gegeben zur aktuellen Länderinformationsunterlagen Stellung zu nehmen und brachte der Antragsteller mit Schriftsatz vom 19.06.2019 eine Stellungnahme ein, in welcher er die Sicherheitslage in Afghanistan als höchst volatil beschreibt. In diesem Zusammenhang verweist der Antragsteller auf einzelne Ereignisse sowie auf Quellen, wie das Länderinformationsblatt Afghanistan vom 29.06.2018 sowie auf einen Bericht Amnesty International vom Februar 2018, worin dringen auf die äußerst prekäre Sicherheitslage im ganzen Land hingewiesen werde. Im Weiteren bezog sich der Antragsteller auf ein Urteil des französischen Nationalgerichts für Asylrecht, worin mit Begründung auf die Berichterstattung von Unama einem afghanischen Staatsangehörigen aufgrund der allgemeinen prekären Sicherheitssituation in Kabul der Status der Status eines subsidiär Schutzberechtigten gewärt wurde; sowie weiterhin auf das Gutachten Friederike Stahlmann vom 28.03.2018 mit auszugsweiser Darstellung zur Sicherheitssituation. Der Beschwerdeführer verwies des weiteren auf UNHCR vom 30.08.2018 hinsichtlich der Verschlechterung der allgemeinen Situation in Afghanistan und insbesondere in Kabul; sowie weiters auf die schlechte Versorgungssituation in Afghanistan.

Zur Lage in Herat und Mazar-e Sharif wurde auf die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.09.2018 verwiesen und sei dieser entnehmbar, dass es im Umland von Mazar-e Sharif zu einer unzureichenden Wasserversorgung und daraus folgend zu einer geringeren Getreideernte gekommen sei. In diesem Zusammenhang wurde auf eine drohende Lebensmittelkriese verwiesen.

Während des anhängigen Beschwerdeverfahrens legte der Antragsteller des Weiteren eine Reihe von Referenzschreiben, Unterstützungserklärungen sowie diverse Zeugnisse zum Spracherwerb sowie zum Erwerb des Pflichtschulabschlusses vor sowie weitere Unterlagen wie eine Anmeldung für Handelsakademie für Berufstätige mit Unterrichtsbeginn September 2019 sowie einem bedingten Arbeitsvertrag.

6. Im Rahmen der anberaumten öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 30.07.2019 wurde dem Antragsteller neuerlich Gelegenheit geboten zu seinen Fluchtgründen Stellung zu nehmen sowie legte er hierbei eine Reihe von weiteren Unterlagen wie Unterstützungserklärungen vor.

Das Beschwerderechtsgespräch stellt sich wie nachstehend dar:

Beginn der Befragung

I. Zum aktuellen Zustand des BF:

R: Wie geht es Ihnen gesundheitlich (sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht [die Begriffe werden mit dem BF abgeklärt, sodass ihm diese geläufig sind]): Sind Sie insbesondere in ärztlicher Behandlung, befinden Sie sich in Therapie, nehmen Sie Medikamente ein?

BF: Es geht mir ganz gut und ich nehme auch keine Medikamente.

II. Zum Verfahren vor dem BFA bzw. den Organen des öffentlichen

Sicherheitsdienstes:

R: Sie wurden bereits beim BFA bzw. vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Polizei) niederschriftlich einvernommen. Haben Sie dort immer die Wahrheit gesagt oder möchten Sie etwas richtig stellen? Wurden Ihnen die Niederschriften, die die Polizei im Rahmen der Erstbefragung und das BFA im Zuge Ihrer Einvernahme mit Ihnen aufgenommen haben, rückübersetzt?

BF: Ich habe die Wahrheit angegeben und halte alles aufrecht. Bei der ersten Einvernahme wurde das nicht rückübersetzt. Beim BFA wurde rückübersetzt.

RV: Bei der Ersteinvernahme war kein Rechtsberater beigezogen, weshalb beantragt wird, die Aussagen unberücksichtigt zulassen.

III. Zur persönlichen Situation des BF:

a) in Österreich:

R: Leben Sie in Österreich alleine oder leben Sie mit jemandem zusammen? Wie ist Ihre aktuelle Wohnsituation? Leben Sie in einer Flüchtlingspension?

BF: Ich lebe in einem Heim, aber es gibt auch andere Flüchtlinge dort. Ich bin nicht alleine. Es geht mir gut.

R: Welches Niveau haben Sie in Deutschkursen gemacht und können Sie dazu Abschlüsse vorlegen?

BF: B1 habe ich bereits hinter mir und von B2 habe ich einen Teil hinter mir und einen Teil vor mir.

R: Habe Sie in Österreich familiäre Bindungen?

BF: Nein.

R: Wie sieht Ihr Kontakt zu Ihren Familienangehörigen aus?

BF: Ja, telefonisch mit meiner Mutter, die zurzeit in Pakistan in der Stadt Quetta aufhältig ist.

R: Haben Sie in Afghanistan noch verwandtschaftliche Bindungen?

BF: Nein. Bei meiner Einvernahme beim BFA hat man vermerkt, dass meine Großeltern beide in Afghanistan leben würde, das ist falsch. Ich habe keine Großeltern, die sind bereits verstorben.

R: Gehen Sie in Österreich einer Beschäftigung nach?

BF: Vor einem Monat bin ich mit der Schule fertig geworden. Im September werde ich mit der Lehre anfangen.

R: Haben Sie in Österreich schon einmal Probleme mit der Polizei oder Staatsanwaltschaft gehabt?

BF: Nein.

R: Das Gericht kann sich auf Grund Ihrer Angaben nunmehr ein Bild über ihre privaten sowie familiären Bindungen in Österreich machen und erscheinen hierzu seitens des Gerichts keine weiteren Fragen offen. Wollen Sie sich noch weitergehend zu Ihren privaten und familiären Bindungen in Österreich bzw. ihrer Integration äußern?

BF: Von meiner aus möchte ich nichts vorbringen, aber ich beantworte gerne Fragen.

RV: Der BF ist vorbildlich integriert, er hat den B1 Kurs bereits absolviert und durchläuft derzeit den B2 Kurs. Er hat auch bereits eine Arbeitszusage, wobei er bei positiver Entscheidung im September schon beginnen kann. Er hat sehr viele Freunde in Österreich, die auch schriftlich für den weiteren Aufenthalt in Österreich unterstützen und die VP, Herr XXXX hat sich seiner angenommen und begleitet ihn in alltäglichen und freizeitlichen Aktivitäten.

b) im Herkunftsstaat:

R: Im angefochtenen Bescheid des BFA wurde u.a. bereits festgestellt, dass Sie aus Afghanistan stammen. Geben Sie bitte nochmals an, welcher Volksgruppe und Religionsgemeinschaft Sie angehören? Welche Sprachen sprechen Sie?

BF: Ich stamme aus der Provinz Ghazni, ich bin Hazara und Schiit und spreche Dari.

R: Erzählen Sie mir über Ihr Familienleben bzw. etwas von Ihrem Leben in Afghanistan?

BF: Wir hatten ein relativ normales Leben gehabt. Als ich klein war, hat mein Vater als Schneider gearbeitet. Als ich älter wurde, musste er zum Militär gehen, um dort zu arbeiten. Als Mitglied der afghanischen Verteidigung kann man seinen Wohnort nicht aussuchen, deshalb hat er in der Provinz Helmand gearbeitet und wir sind mit ihm etwas später dort hingezogen. Der Weg war schwer und gefährlich.

R: Können Sie in ein zwei Sätzen grob angeben, warum Sie weggegangen sind?

BF: Der Grund war, dass mein Vater als Mitglied der Armee gegen die Taliban kämpfen musste und er hat auch auf diesen Weg sein Leben gelassen. Als ich mein Vater verloren habe, hat die Familie das Oberhaupt verloren. Wir hatten keine schützende Hand mehr gehabt. Zu diesem Zeitpunkt haben wir in Lashkagar/Helmand gelebt, die Taliban haben diesen Ort immer angegriffen, aus diesem Grund war dieser Ort umkämpft. Ich hatte zwei gute Freunde, die von der Taliban verschleppt wurden und dass waren so die Gründe, die uns Angst gemacht haben. Wir waren nicht über andere Orte in Afghanistan nicht informiert und diese waren auch gefährlich. Deshalb musste ich meine Heimat verlassen.

R: Sie sind dann mit Ihrer Familie nach Pakistan gegangen. Wie ging es weiter?

BF: Wir sind nach Quetta gezogen. Ich habe ca. vier Monate dort gelebt. Anfangs wusste ich nicht, dann habe ich bemerkt, dass Quetta genauso gefährlich war wie Afghanistan. Ich habe es selbst erlebt, dass es sehr schwer war, einkaufen zu gehen, so gefährlich war die Situation. Man kann überhaupt nicht über einen Job oder eine Jobsuche nachdenken.

R: Warum sind Sie konkret aus Quttea weggegangen?

BF: Das war der Grund, weil es so unsicher war. Ich dachte mir, dass es keine Möglichkeit mehr gäbe. Ich bin der älteste Sohn. Meine Mutter und die Geschwister sind nach wie zuvor in Quetta aufhältig.

R: Wissen Sie, welchen Dienst Ihr Vater in der Armee bekleidete?

BF: Er war ein einfacher Soldat, aber sehr engagiert. Er hat an den Fronten teilgenommen.

R: Während Ihres Aufenthalts in Afghanistan: Waren Sie dort einer persönlichen Bedrohung ausgesetzt?

BF: Nicht direkt, aber indirekt. Wie ich bereits von meinen besten Freunden erzählt habe. Das würde ich auch als Bedrohung bezeichnen, wenn die besten Freunde verschleppt werden.

R: Hatten Sie zu irgendeinem Zeitpunkt eine Bedrohung bezüglich Ihrer Volkszugehörigkeit zu bezeichnen?

BF: Ja. Im Allgemeinen, weil alle bewaffneten Gruppierungen haben als erstes Ziel die Hazara und die Schiiten zu vernichten.

R: Welche konkrete Befürchtungen haben Sie für den Fall einer theoretischen Rückkehr nach Afghanistan?

BF: Mein Gefühl ist, dass man als junger Mensch und als Hazara noch schwerer Fuß fassen kann.

R: Was würde Beispielsweise, ganz konkret gegen eine Rückkehr etwa nach Herat oder Mazar-e-Sharif sprechen?

BF: Noch einmal. Ich werde dort auch alleine sein und für mich wird es schwierig sein. Außerdem stelle ich mir vor, dass diese genannte Städte auch nicht sehr sicher sind. Ich muss hinausgehen, Einkaufen und mir einen Job suchen und das wird schwierig sein.

R verweist auf die eingebrachte Stellungnahme der Vertretung vom 19.06.2019 und wird diese kursorisch durchbesprochen.

RV: Ich beziehe mich auf eine ACCORD Anfragebeantwortung zu AFG. Der erste Punkt ist zu Bedrohungen von Polizisten durch die Taliban, Bedrohungen in Baglan und Kabul. Informationen zu einer Website/Datenbank, wo getötete PolizistInnen/Mitglieder der AMSF aufgelistet werden und Drittens; mit Mindestalter für die Ausbildung der Polizei. Es ist vom 15.09.2017. Kurzinformation dazu, ist in manchen Fällen, sind Taliban so weit gegangen, die Mitglieder der Sicherheitskräfte und die Familien zu exekutieren. Derartige Personen und ihre Familien seien Großteiles mit der Zeit gezwungen gewesen, in sichere Gebiete unter Regierungskontrolle umzusiedeln. Obwohl die Taliban auch dort in gewissen Ausmaßen ins Visier nehmen könnten, selbst die, die umgesiedelt seien, seien einem Risiko ausgesetzt, beim Fahren auf den Straßen, an einem Taliban Checkpoint, aufgegriffen zu werden. Berichte der UNAMA enthielten nur zivile Opfer, Mitglieder der Polizei und Armee seien nicht darin inkludiert, obwohl sie ein wesentliches Ziel der Taliban seien. Der Vater des BF war beim afghanischen Militär beschäftigt und verlor sein Leben in einer kriegerischen Auseinandersetzung. Wie die Berichte sagen, musste der BF und seine Familie AFG verlassen, um nicht ins Visier der Taliban zu kommen. Er hat seine Fluchtgründe glaubhaft dargestellt. Ghazni war damals, zum Fluchtzeitpunkt, ein von Taliban schwer umkämpftes Gebiet und er Minderjährig. Ich ersuche um Stattgabe der Beschwerde.

Die zeugenschaftliche Einvernahme vom Herrn XXXX (VP) ziehen wir zurück.

R: Haben Sie in Ihrem Heimatland die Schule besucht, wenn ja, wie lange? Welche weitere Ausbildung haben Sie? Wo, wie lange?

BF: Ja. Ich bin insgesamt neun Jahre zur Schule gegangen, die ersten sechs Jahre in XXXX und die drei Jahre in XXXX . Gearbeitet habe ich in Afghanistan aber noch nicht.

R: Was hat Ihre Flucht gekostet und wer hat die Flucht finanziert?

BF: Bis nach Österreich ca. 5000 Euro. Dieses Geld hatten wir von meiner Mutter, die das über Jahre hinweg angespart hatte.

R gibt RV die Gelegenheit, Fragen zu stellen.

RV: Was würde passieren, wenn Sie heute nach AFG zurückkehren müssten?

BF: Was ich schon bereits gesagt habe und noch dazu, wenn ich hingehen muss, würde man an mein Äußeres bemerken, dass ich aus dem Ausland komme und meine Gesichtszüge zeigen, dass ich Hazara bin.

RV: Warum ist es gefährlich, wenn Sie aus Europa kommen und Hazara sind?

BF: Die Gefahr besteht darin, dass die jungen Menschen, besonders als Hazara, die Taliban haben sich gezeigt, besonderes Interesse an diese Personen zu haben. Sie wollen diese Leute rekrutieren.

RV: Ich möchte noch eine abschließende Stellungnahme abgeben: Bei einer Rückkehr würde der BF aufgrund fehlender sozialer Netzwerke (Siehe EASO Bericht "Soziale Netzwerke") in eine existenzielle Notlage geraten. Seine Familie lebt in Pakistan und in Afghanistan hat er keine Verwandte, die ihn bei der Neuansiedlung unterstützen könnten, auch als gebildeter Hazare würde er auffallen und ins Visier der Fundamentalisten geraten. Es besteht daher bei einer Rückkehr Lebensgefahr für den BF. Ich ersuche um Stattgabe der Beschwerde.

R: Möchten Sie anschließend etwas sagen?

BF: Ich habe nichts mehr zu sagen außer, dass Sie mir die Möglichkeit geben, hier weiter zu leben.

BF (auf Deutsch): Ich bitte Sie, schützen Sie mein Leben. Ich gehöre nicht nur zu einer, sondern zu zwei Minderheiten, als Hazara und Schiit werde ich nicht einmal zwei Wochen überleben.

R: Der Dolmetsch wird Ihnen jetzt die gesamte Verhandlungsschrift rückübersetzen. Bitte passen Sie gut auf, ob alle Ihre Angaben korrekt protokolliert wurden. Sollten Sie einen Fehler bemerken oder sonst einen Einwand haben, sagen Sie das bitte.

BF: Ich bitte um eine Rückübersetzung.

Die vorläufige Fassung der bisherigen Niederschrift wird durch den D dem BF rückübersetzt.

Keine Einwendungen.

Ende der Befragung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Person

Der männliche, volljährige, ledige, gesunde, und arbeitsfähige Beschwerdeführer (ohne Obsorgepflichten) wurde am XXXX geboren, ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum islamischen Glauben schiitischer Richtung. Er spricht Dari.

Der Antragsteller verfügt über eine neunjährige Schulbildung. Der Vater des Antragstellers war als einfacher Soldat im afghanischen Militär im Kampfeinsatz gegen die Taliban in der Provinz Helmand tätig, wo die Familie des Antragstellers zuletzt jahrelang auch ihren Wohnsitz hatte. Der Vater des Antragstellers wurde im Rahmen von Kampfhandlungen von den Taliban getötet und verließen daraufhin die Mutter des Antragstellers gemeinsam mit dem Antragsteller und weiteren jüngeren Geschwistern Afghanistan Richtung Pakistan, wo sich der Antragsteller zuletzt vier Monate aufgehalten hat.

Der Beschwerdeführer hatte keine Probleme mit den Behörden im Heimatland. Auch hatte er keine höchstpersönlichen Probleme aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit.

1.2. Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Seit seiner Antragstellung befindet sich der Beschwerdeführer auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet.

Der Beschwerdeführer hat Deutschkurse bis zu dem Niveau B1 besucht und entsprechende Sprachdiplome erworben. Dem Antragsteller wird von einer Reihe von Privatpersonen ein gutes Wohlverhalten sowie ein hohes Maß an Integrationsfähigkeit und Integrationswilligkeit bescheinigt. Der Antragsteller hat den Grundschulabschluss absolviert und verfügt über eine Einstellungszusage bei einem österreichischen Kleinunternehmen. Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten. Er nimmt aktuell Leistungen der Grundversorgung in Anspruch.

1.3. mögliche Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat

Der Beschwerdeführer wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Er war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Antragsteller mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in der Region Balkh, in concreto Mazar-e Sharif oder auch in anderen Großstädten wie etwa Herat oder auch Kabul einer wahrscheinlichen Verfolgung ausgesetzt wäre. Dem Antragsteller ist eine Rückkehr in seine ursprüngliche Herkunftsprovinz Ghazni bzw. auch in die Provinz seines letzten gewöhnlichen Aufenthaltes Helmand unzumutbar. Der Beschwerdeführer hat die Möglichkeit, in Mazar-e-Sharif sowie Herat Zuflucht zu nehmen und liefe er nicht Gefahr, bei einer Rückkehr und einer Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif oder Herat grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer kann die Stadt Mazar-e Sharif oder Herat von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.

Die Stadt Mazar-e Sharif liegt an der Autobahn zwischen Maimana [Anm.: Provinzhauptstadt Faryab] und Pul-e-Khumri [Anm.:

Provinzhauptstadt Baghlan]; sie ist gleichzeitig ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region. Viele der Straßen, vor allem in den gebirgigen Teilen des Landes, sind in schlechtem Zustand, schwer zu befahren und im Winter häufig unpassierbar (BFA Staaatendokumentation 4.2018). In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen.

Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen des Landes. Das Harirud-Tal, eines der fruchtbarsten Täler des Landes, wo Baumwolle, Obst und Ölsaat angebaut werden, befindet sich in der Provinz. Bekannt ist Herat auch wegen seiner Vorreiterrolle in der Safran-Produktion. Es sollen Regierungsprogramme und ausländische Programme zur Unterstützung der Safran-Produktion implementiert werden. Safran soll eine Alternativ zum Mohnanbau werden. Die Stadt Herat ist eine vergleichsweise sichere und über den jeweiligen Flughafen gut erreichbare Stadt. Sie ist relativ sicher. Die Taliban konnten die Stadt Herat nicht einnehmen, da sie von den Sicherheitskräften sehr gut bewacht ist. In Herat ist nach den vorliegenden Länderberichten die allgemeine Lage als vergleichsweise sicher und stabil zu bezeichnen, auch wenn es dort zu vereinzelten Anschlägen kommt. Insgesamt ist die Sicherheitslage in der Stadt Herat als ausreichend sicher zu bewerten.

Hilfeleistungen für Rückkehrer durch die afghanische Regierung konzentrieren sich auf Rechtsbeistand, Arbeitsplatzvermittlung, Land und Unterkunft (wenngleich sich das Jangalak-Aufnahmezentrum bis September 2017 direkt in der Anlage des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung in Kabul befand, wurde dieses dennoch von IOM betrieben und finanziert). Seit 2016 erhalten die Rückkehr/innen nur Hilfeleistungen in Form einer zweiwöchigen Unterkunft (siehe Jangalak-Aufnahmezentrum). Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.

Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke schwach ausgeprägt bzw. - wie fallbezogen vom Beschwerdeführer angegeben - nicht vorhanden sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden.

Da der Beschwerdeführer gesund ist, kann auch nicht festgestellt werden, dass er im Falle der Rückkehr nach Mazar e Sharif oder Herat Gefahr liefe, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten. Es sind auch sonst keine Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

Hervorzuheben ist, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines persönlichen Profils als besonders gewandt, flexibel und anpassungsfähig zu qualifizieren ist, was ihn gerade gegenüber anderen Asylwerbern bzw. Rückkehrern gleicher Provenienz in eine privilegierte Position versetzt, weshalb eine positive Rückkehrprognose indiziert ist. Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Herat bzw. Mazar-e Sharif ausschließen könnten, konnten nicht festgestellt werden. Die kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates sind dem Beschwerdeführer bekannt.

Dem Antragsteller ist es durchaus zumutbar, sich allenfalls in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, eine Existenz aufbauen und diese - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten zu sichern, wobei ihm seine frühere berufliche Tätigkeit zu Gute kommt. Seine Existenz in Mazar-e Sharif oder Herat könne er - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif oder Herat Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Es kann daher nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen wurde. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018:

Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016)

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).

Kabul

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa, im Osten an Laghman, an Nangarhar im Südosten, an Logar im Süden und an (Maidan) Wardak im Südwesten. Kabul ist mit den Provinzen Kandahar, Herat und Mazar durch die sogenannte Ringstraße und mit Peshawar in Pakistan durch die Kabul-Torkham Autobahn verbunden. Die Provinz Kabul besteht aus folgenden Einheiten (Pajhwok o.D.z): Bagrami, Chaharasyab/Char Asiab, Dehsabz/Deh sabz, Estalef/Istalif, Farza, Guldara, Kabul Stadt, Kalakan, Khak-e Jabbar/Khak-i-Jabar, Mirbachakot/Mir Bacha Kot, Musayi/Mussahi, Paghman, Qarabagh, Shakardara, Surobi/Sorubi (UN OCHA 4-2014; vgl. Pajhwok o.D.z).

Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.679.648 geschätzt (CSO 4.2017).

In der Hauptstadt Kabul leben unterschiedliche Ethnien: Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem sunnitischen Glauben an, dennoch lebt eine Anzahl von Schiiten, Sikhs und Hindus nebeneinander in Kabul Stadt (Pajhwok o.D.z). Menschen aus unsicheren Provinzen, auf der Suche nach Sicherheit und Jobs, kommen nach Kabul - beispielsweise in die Region Shuhada-e Saliheen (LAT 26.3.2018). In der Hauptstadt Kabul existieren etwa 60 anerkannte informelle Siedlungen, in denen 65.000 registrierte Rückkehrer/innen und IDPs wohnen (TG 15.3.2018).

Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen: den Hamid Karzai International Airport (HKIR) (Tolonews 25.2.2018; vgl. Flughafenkarte der Staatendokumentation; Kapitel 3.35). Auch soll die vierspurige "Ring Road", die Kabul mit angrenzenden Provinzen verbindet, verlängert werden (Tolonews 10.9.2017; vgl. Kapitel 3.35.).

Allgemeine Information zur Sicherheitslage

Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen (Reuters 14.3.2018), die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben (Reuters 14.3.2018; vgl. UNGASC 27.2.2018). Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen (Khaama Press 26.3.2018; vgl. FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018). Im Jahr 2017 und in den ersten Monaten des Jahres 2018 kam es zu mehreren "high-profile"-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte (DW 27.3.2018; vgl. VoA 19.3.2018 SCR 3.2018, FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018).

Informationen und Beispiele zu öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen (HPA) können dem Kapitel 3. "Sicherheitslage (allgemeiner Teil)" entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.

Im Zeitraum 1.1.2017- 30.4.2018 wurden in der Provinz 410 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.

Im gesamten Jahr 2017 wurden 1.831 zivile Opfer (479 getötete Zivilisten und 1.352 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Selbstmordanschläge, gefolgt von IEDs und gezielte Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 4% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Für Kabul-Stadt wurden insgesamt 1.612 zivile Opfer registriert; dies bedeutet eine Steigerung von 17% im Gegensatz zum Vorjahr 2016 (440 getötete Zivilisten und 1.172 Verletzte) (UNAMA 2.2018).

Im Jahr 2017 war die höchste Anzahl ziviler Opfer Afghanistans in der Provinz Kabul zu verzeichnen, die hauptsächlich auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren; 16% aller zivilen Opfer in Afghanistan sind in Kabul zu verzeichnen.

Selbstmordangriffe und komplexe Attacken, aber auch andere Vorfallsarten, in denen auch IEDs verwendet wurden, erhöhten die Anzahl ziviler Opfer in Kabul. Dieser öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriff im Mai 2017 war alleine für ein Drittel ziviler Opfer in der Stadt Kabul im Jahr 2017 verantwortlich (UNAMA 2.2018).

Militärische Operationen und Maßnahmen der afghanischen Regierung in der Provinz Kabul

Regelmäßig werden in der Hauptstadt Sicherheitsoperationen durch die Regierung in unterschiedlichen Gebieten ausgeführt (Tolonews 31.1.2018; vgl. AT 18.3.2018, RS 28.2.2018; vgl. MF 18.3.2018). Im Rahmen des neuen Sicherheitsplanes sollen außerdem Hausdurchsuchungen ausgeführt werden (MF 18.3.2018). Um die Sicherheitslage in Kabul-Stadt zu verbessern, wurden im Rahmen eines neuen Sicherheitsplanes mit dem Namen "Zarghun Belt" (der grüne Gürtel), der Mitte August 2017 bekannt gegeben wurde, mindestens 90 Kontrollpunkte in den zentralen Teilen der Stadt Kabul errichtet. Die afghanische Regierung deklarierte einen Schlüsselbereich der afghanischen Hauptstadt zur "Green Zone" - dies ist die Region, in der wichtige Regierungsinstitutionen, ausländische Vertretungen und einige Betriebe verortet sind (Tolonews 7.2.2018). Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt (Reuters 6.8.2017). Die neue Strategie beinhaltet auch die Schließung der Seitenstraßen, welche die Hauptstadt Kabul mit den angrenzenden Vorstädten verbinden; des Weiteren, werden die Sicherheitskräfte ihre Präsenz, Personenkontrollen und geheimdienstlichen Aktivitäten erhöhen (Tolonews 7.2.2018). Damit soll innerhalb der Sicherheitszone der Personenverkehr kontrolliert werden. Die engmaschigen Sicherheitsmaßnahmen beinhalten auch eine erhöhte Anzahl an Sicherheitskräften und eine Verbesserung der Infrastruktur rund um Schlüsselbereiche der Stadt (Tolonews 1.3.2018). Insgesamt beinhaltet dieser neue Sicherheitsplan 52 Maßnahmen, von denen die meisten nicht veröffentlicht werden (RFE/RL 7.2.2018). Auch übernimmt die ANA einige der porösen Kontrollpunkte innerhalb der Stadt und bildet spezialisierte Soldaten aus, um Wache zu stehen. Des Weiteren soll ein kreisförmiger innerer Sicherheitsmantel entstehen, der an einen äußeren Sicherheitsring nahtlos anschließt - alles dazwischen muss geräumt werden (Reuters 14.3.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen in der Provinz Kabul

Sowohl die Taliban als auch der IS verüben öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriffe in der Stadt Kabul (UNGASC 27.2.2018; vgl. RFE/RL 17.3.2018, Dawn 31.1.2018), auch dem Haqqani-Netzwerk wird nachgesagt, Angriffe in der Stadt Kabul zu verüben (RFE/RL 30.1.2018; vgl. NYT 9.3.2018, VoA 1.6.2017). So existieren in der Hauptstadt Kabul scheinbar eine Infrastruktur, Logistik und möglicherweise auch Personal ("terrorists to hire"), die vom Haqqani-Netzwerk oder anderen Taliban-Gruppierungen, Splittergruppen, die unter der Flagge des IS stehen, und gewaltbereiten pakistanischen sektiererischen (anti-schiitischen) Gruppierungen verwendet werden (AAN 5.2.2018).

Zum Beispiel wurden zwischen 27.12.2017 und 29.1.2018 acht Angriffe in drei Städten ausgeführt, zu denen neben Jalalabad und Kandahar auch Kabul zählte - fünf dieser Angriffe fanden dort statt. Nichtsdestotrotz deuten die verstärkten Angriffe - noch - auf keine größere Veränderung hinsichtlich des "Modus Operandi" der Taliban an (AAN 5.2.2018).

Für den Zeitraum 1.1.2017 - 31.1.2018 wurden in der Provinz Kabul vom IS verursachte Vorfälle registriert (Gewalt gegenüber Zivilist/innen und Gefechte) (ACLED 23.2.2018).

Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh. Mazar-e Sharif liegt an der Autobahn zwischen Maimana und Pul-e-Khumri und ist gleichzeitig ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst (LIB 11.09.2018, S. 71).

In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen, durch den die Stadt sicher zu erreichen ist (LIB 11.09.2018, S. 71).

Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften (LIB 11.09.2018, S. 72).

Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.382.155 geschätzt (LIB 11.09.2018, S. 61f).

Herat

Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans und liegt im Westen des Landes. Herat grenzt im Norden an die Provinz Badghis und Turkmenistan, im Süden an die Provinz Farah, im Osten an die Provinz Ghor und im Westen an den Iran. Die Provinz ist in 16 Bezirke eingeteilt, die gleichzeitig auch die administrativen Einheiten bilden. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.967.180 geschätzt. In der Provinz leben Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Uzbeken und Aimaken (LIB 11.09.2018, S. 107).

Provinzhauptstadt ist Herat-Stadt, welche sich im gleichnamigen Distrikt befindet und eine Einwohnerzahl von 506.900 hat. In der Provinz befinden sich zwei Flughäfen: ein internationaler in Herat-Stadt und ein militärischer in Shindand, sodass die Stadt sicher erreichbar ist (LIB 11.09.2018, S. 107, 228 f).

Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen des Landes. Bekannt ist Herat auch wegen seiner Vorreiterrolle in der Safran-Produktion. Die Safran-Produktion garantierte z.B. auch zahlreiche Arbeitsplätze für Frauen in der Provinz (LIB 11.09.2018, S. 107).

Herat wird als eine der relativ friedlichen Provinzen gewertet, dennoch sind Aufständische in einigen Distrikten der Provinz, wie Shindand, Kushk, Chisht-i-Sharif und Gulran, aktiv. Die Provinz Herat zählt zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen des Landes zählt, wenngleich sich in den abgelegenen Distrikten die Situation in den letzten Jahren aufgrund der Taliban verschlechtert hat (LIB 11.09.2018, S. 108).

Nach zehn Jahren der Entminung sind nun 14 von 16 Distrikten der Provinz sicher. In diesen Gegenden besteht keine Gefahr mehr, Landminen und anderen Blindgängern ausgesetzt zu sein. In der Provinz leben u.a. tausende afghanische Binnenflüchtlinge (LIB 11.09.2018, S. 108).

Im gesamten Jahr 2017 wurden in der Provinz Herat 495 zivile Opfer (238 getötete Zivilisten und 257 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Selbstmordanschlägen/komplexen

Attacken und gezielten Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 37% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (LIB 11.09.2018, S. 109).

Regierungsfeindliche Aufständische griffen Mitte 2017 heilige Orte, wie schiitische Moscheen, in Hauptstädten wie Kabul und Herat, an. Dennoch erklärten Talibanaufständische ihre Bereitschaft, sich am Friedensprozess zu beteiligen. Es kam zu internen Konflikten zwischen verfeindeten Taliban-Gruppierungen (LIB 11.09.2018, S. 110).

Rechtsschutz / Justizwesen

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. (Casolino 2011). Die wichtigste religiöse Institution des Landes ist der Ulema-Rat (Afghan Ulama Council - AUC, Shura-e ulama-e afghanistan, Anm.), eine nationale Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. den Präsidenten in islamrechtlichen Angelegenheiten berät und Einfluss auf die Rechtsformulierung und die Auslegung des existierenden Rechts hat (USDOS 15.8.2017; vgl. AB 7.6.2017, AP o.D.).

as afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.:

Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (NYT 26.12.2015; vgl. AP o.D.).

Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen, einschließlich Menschenrechtsverträge, vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (AP o.D.; vgl. vertrauliche Quelle 10.4.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle als auch das islamische Recht anzuwenden (AP o.D.).

Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten umgesetzt. Die Umsetzung der rechtlichen Bestimmungen ist innerhalb des Landes uneinheitlich. Dem Gesetz nach gilt für alle Bürger/innen die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Bürger/innen sind bzgl. ihrer Verfassungsrechte oft im Unklaren und es ist selten, dass Staatsanwälte die Beschuldigten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informieren. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt, sich von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt (USDOS 20.4.2018). In Afghanistan existieren keine Strafverteidiger nach dem westlichen Modell; traditionell dienten diese nur als Mittelsmänner zwischen der anklagenden Behörde, dem Angeklagten und dem Gericht. Seit 2008 ändert sich diese Tendenz und es existieren Strafverteidiger, die innerhalb des Justizministeriums und auch außerhalb tätig sind (NYT 26.12.2015). Der Zugriff der Anwälte auf Verfahrensdokumente ist oft beschränkt (USDOS 3.3.2017) und ihre Stellungnahmen werden während der Verfahren kaum beachtet (NYT 26.12.2015). Berichten zufolge zeigt sich die Richterschaft jedoch langsam respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern (USDOS 20.4.2018).

Gemäß einem Bericht der New York Times über die Entwicklung des afghanischen Justizwesens wurden im Land zahlreiche Fortbildungskurse für Rechtsgelehrte durch verschiedene westliche Institutionen durchgeführt. Die Fortbildenden wurden in einigen Fällen mit bedeutenden Aspekten der afghanischen Kultur (z. B. Respekt vor älteren Menschen), welche manchmal mit der westlichen Orientierung der Fortbildenden kollidierten, konfrontiert. Auch haben Strafverteidiger und Richter verschiedene Ausbildungshintergründe: Während Strafverteidiger rechts- und politikwissenschaftliche Fakultäten besuchen, studiert der Großteil der Richter Theologie und islamisches Recht (NYT 26.12.2015).

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll (USIP 3.2015; vgl. USIP o.D.). Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht. Dazu zählen unter anderem das Frauenrecht, Strafrecht und -verfahren, die Verbindlichkeit von Rechten gemäß internationalem Recht und der gesamte Bereich der Grundrechte (USIP o. D.).

Laut dem allgemeinen Islamvorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Trotz großer legislativer Fortschritte in den vergangenen 14 Jahren gibt es keine einheitliche und korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht) (AA 9.2016; vgl. USIP o.D., NYT 26.12.2015, WP 31.5.2015, AA 5.2018). Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, so ist nicht festgelegt, welches Gesetz im Fall eines Konflikts zwischen dem traditionellen islamischen Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und eine fehlende Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen (AA 5.2018).

Das kodifizierte Recht wird unterschiedlich eingehalten, wobei Gerichte gesetzliche Vorschriften oft zugunsten der Scharia oder lokaler Gepflogenheiten missachteten. Bei Angelegenheiten, wo keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht (welches auch nicht einheitlich ist, Anm.) durch (USDOS 20.4.2018).

Gemäß dem "Survey of the Afghan People" der Asia Foundation (AF) nutzten in den Jahren 2016 und 2017 ca. 20.4% der befragten Afghan/innen nationale und lokale Rechtsinstitutionen als Schlichtungsmechanismen. 43.2% benutzten Schuras und Jirgas, währed 21.4% sich an die Huquq-Abteilung [Anm.: "Rechte"-Abteilung] des Justizministeriums wandten. Im Vergleich zur städtischen Bevölkerung bevorzugten Bewohner ruraler Zentren lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Schuras und Jirgas (AF 11.2017; vgl. USIP o.D., USDOS 20.4.2018). Die mangelnde Präsenz eines formellen Rechtssystems in ruralen Gebieten führt zur Nutzung lokaler Schlichtungsmechanismen. Das formale Justizsystem ist in den städtischen Zentren relativ stark verankert, da die Zentralregierung dort am stärksten ist, während es in den ländlichen Gebieten - wo ungefähr 76% der Bevölkerung leben - schwächer ausgeprägt ist (USDOS 3.3.2017; vgl. USDOS 20.4.2018). In einigen Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle setzen die Taliban ein paralleles auf der Scharia basierendes Rechtssystem um (USDOS 20.4.2018).

Die Unabhängigkeit des Justizwesens ist gesetzlich festgelegt; jedoch wird die afghanische Judikative durch Unterfinanzierung, Unterbesetzung, inadäquate Ausbildung, Unwirksamkeit und Korruption unterminiert (USDOS 20.4.2018). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent angewandt (AA 9.2016). Dem Justizsystem mangelt es weiterhin an der Fähigkeit die hohe Anzahl an neuen und novellierten Gesetzen einzugliedern und durchzuführen. Der Zugang zu Gesetzestexten wird zwar besser, ihre geringe Verfügbarkeit stellt aber für einige Richter/innen und Staatsanwälte immer noch eine Behinderung dar. Die Zahl der Richter/innen, welche ein Rechtsstudium absolviert haben, erhöht sich weiterhin (USDOS 3.3.2017). Im Jahr 2017 wurde die Zahl der Richter/innen landesweit auf 1.000 geschätzt (CRS 13.12.2017), davon waren rund 260 Richterinnen (CRS 13.12.2017; vgl. AT 29.3.2017). Hauptsächlich in unsicheren Gebieten herrscht ein verbreiteter Mangel an Richtern und Richterinnen. Nachdem das Justizministerium neue Richterinnen ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen in unsichere Provinzen versetzen wollte und diese protestierten, beschloss die Behörde, die Richterinnen in sicherere Provinzen zu schicken (USDOS 20.4.2018). Im Jahr 2015 wurde von Präsident Ghani eine führende Anwältin, Anisa Rasooli, als erste Frau zur Richterin des Obersten Gerichtshofs ernannt, jedoch wurde ihr Amtsantritt durch das Unterhaus [Anm.: "wolesi jirga"] verhindert (AB 12.11.2017; vgl. AT 29.3.2017). Auch existiert in Afghanistan die "Afghan Women Judges Association", ein von Ri

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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