Entscheidungsdatum
29.08.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W261 2209105-1/27E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Dr. Helmut BLUM, Rechtsanwalt in Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.10.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.03.2019 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der nunmehrige Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 05.12.2015 gemeinsam mit seinem Bruder und dessen Familie und seiner Schwester in die Republik Österreich ein und stellte am selben Tag gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Bei der Erstbefragung am 08.12.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass er aus der Provinz Baghlan stamme und wegen Familienstreitigkeiten das Land verlassen habe. Der Sohn namens XXXX sei von der eigenen Familie umgebracht worden, die Familie hätte jedoch der Familie des BF vorgeworfen, ihn umgebracht zu haben.
Am 31.01.2018 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari. Er gab an, er sei Tadschike habe acht Jahre lang die Grundschule in seinem Heimatdorf besucht und sei Landwirt gewesen. Seine Eltern und eine Schwester würden im Iran bei einer Tante väterlicherseits leben. Er führte zu seinem Fluchtvorbringen im Detail aus. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.
Die belangte Behörde setzte am 24.04.2018 das Ermittlungsverfahren zur Abklärung der Frage der Obsorge der minderjährigen Schwester des BF aus, und setze dieses nach Abschluss des Obsorgeverfahrens am17.09.2018 wieder fort.
Mit Schreiben vom 17.09.2018 übermittelte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer aktuelle Länderinformationen und räumte diesem eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme ein.
Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.) und erließ gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).
Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, dass der BF keine individuelle Verfolgungsgefahr glaubhaft gemacht habe. Er habe Afghanistan wegen eines Privatkonfliktes seines Vaters und seines Bruders sowie aufgrund der wirtschaftlichen Lage verlassen. Eine Rückkehr sei für den BF möglich und zumutbar.
Der BF erhob mit Eingabe vom 06.11.2018, bevollmächtigt vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich gemeinsam mit seinem Bruder, seiner Schwägerin und seinen Nichten und Neffen, gegen diesen Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und führte begründend aus, dass der angefochtene Bescheid vollumfänglich bekämpft werde. Der BF sei aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung aus Afghanistan geflohen, weswegen ihm der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen sei. In eventu sei dem BF jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren, die Sicherheitslage, insbesondere in der Stadt Kabul, lasse eine Rückkehr nicht zu. Zudem habe der BF keine Familie mehr in Afghanistan, weswegen er im Falle seiner Rückkehr auf sich alleine gestellt sei. Die Grundversorgung sei in Afghanistan nicht sichergestellt. Es werde daher zusammengefasst beantragt, der Beschwerde stattzugeben.
Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 08.11.2018 beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.
Mit Eingabe vom 11.02.2019 gab Dr. BLUM, Rechtsanwalt in Linz, bekannt, dass er den BF rechtsfreundlich vertrete und legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor. Der Verein Menschenrechte Österreich informierte das BVwG mit Eingabe vom 13.03.2019 von der Niederlegung der Vollmacht.
Das BVwG führte am 13.03.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Der BF wurde im Beisein seines Vertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt und wurde ihm Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Das BVwG vernahm den Bruder des BF, XXXX , als Zeugen. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.
Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 01.03.2019, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018, eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 13.09.2018 zur Dürre in Herat und Mazar-e Sharif und Auszüge aus den aktuellen EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 und die Schnellrecherche der SFH Länderanalyse vom 07.06.2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist von drei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.
Das BVwG veranlasste am 14.03.2019 eine Anfrage an die Staatendokumentation zur Nordallianz, deren Tätigkeiten in den Provinzen Baghlan und Balkh und zu deren Kommandanten und zu den Personen im Zusammenhang mit dem Fluchtvorbringen des BF.
Die belangte Behörde führte in deren Stellungnahme vom 22.03.2019 aus, dass eine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative in Kabul für den BF möglich wäre, zumal der BF angab, dort Freunde zu haben. Es wäre jedoch in Anbetracht der derzeitigen Sicherheitslage in Kabul jedoch den Städten Herat oder Mazar-e Sharif der Vorzug zu geben. In beiden Städten wäre es dem BF möglich, Fuß zu fassen. Er verfüge über ein soziales Netzwerk aus Freunden und Verwandten, weswegen seitens der belangten Behörde die Abweisung der Beschwerde beantragt werde.
Der BF gab mit Eingabe vom 02.04.2019 eine Stellungnahme ab, wonach er in Afghanistan von Blutrache bedroht sei und damit zu jenem Personenkreis gehöre, der auch nach den UNHCR Richtlinien in Afghanistan als asylrelevant bedroht werde. Müsste der Beschwerdeführer nach Afghanistan zurückkehren würden er das Ziel der Angriffe sein, weil sich seine Eltern im Iran und sein Bruder in Österreich befinden würde. Der BF verfüge über kein soziales Netzwerk, weswegen er dieser Bedrohung schutzlos ausgesetzt sei. Staatliche Hilfe käme nicht zum Tragen. Da der BF über kein soziales Netzwerk verfüge, gebe es keine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative. Auch Herat und Mazar-e Sharif seien nicht sicher, wie auch im Gutachten von Fredericke Stahlmann bestätigt werde, auf welches vollinhaltlich verwiesen werde.
Das BVwG übermittelte den Parteien des Verfahrens mit Schreiben vom 09.05.2019 die jeweiligen Stellungnahmen ebenso im Rahmen des Parteiengehörs, wie die eingeholte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN: Nordallianz, ehemalige Kommandanten, Tod des Mullah Abdul Rauf und einem siebenjährigen Mädchen vom 30.04.2019, und räumte diesen die Möglichkeit ein, hierzu eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.
Die belangte Behörde führte in deren Stellungnahme vom 10.05.2019 aus, dass das Gutachten Stahlmann lediglich auf subjektiven Einschätzungen beruhe, nicht den Standards für Länderinformationen entspreche und daher im gegenständlichen Verfahren nicht brauchbar sei. Es werde die Abweisung der Beschwerde beantragt.
Diese Stellungnahme übermittelte das BVwG am 15.05.2019 an den BF zur Information.
Der BF gab am 27.05.2019 durch seinen anwaltlichen Vertreter eine Stellungnahme ab, wonach die Familie und die Verwandten des BF nicht in der Lage seien, diesen finanziell zu unterstützen. Rückkehrer seien laut zitierten Afghanistanexperten auf ein familiäres und/oder soziales Netzwerk angewiesen, welches der BF nicht habe. Die Anfragebeantwortung bestätige zwar nicht direkt das Fluchtvorbringen des BF, bestätige jedoch zumindest, dass die meisten Mitglieder der ehemaligen Führungskader der Nordallianz heute in Schlüsselpositionen der Regierung, des Militär und des Geheimdienstes stehen, und über die Möglichkeit verfügen würden, Kämpfer und Personal zu rekrutieren. Insofern bestätige sich, dass Hilfe von Seiten der Behörden nicht zu erwarten sei, im Gegenteil aufgrund der Vernetzung der Feinde würde der BF überall in Afghanistan ausfindig gemacht werden können. Er ersuche, ihm aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie aufgrund der Blutracheproblematik Asyl zu gewähren, jedenfalls aber subsidiären Schutz aufgrund der fehlenden Lebensgrundlage. Nochmals werde auf die gelungene Integration des BF verwiesen.
Das BVwG übermittelte diese Stellungnahme der belangten Behörde am 29.05.2019 zur Information.
Mit Eingabe vom 24.06.2019 übermittelte der BF durch seinen anwaltlichen Vertreter Zeitungsberichte über den geschilderten Vorfall in Dari und eine unterschriebene Anzeige an die Polizei, ebenfalls in Dari, beides ohne Übersetzung ins Deutsche, und bat um entsprechende Berücksichtigung. Gleichzeitig teilte der BF mit, dass sein Bruder in der Verhandlung am 06.06.2019 Asyl erhalten habe. Er ersuchte auch dies bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigten.
Das BVwG übermittelte auch diese Unterlagen am 27.06.2019 der belangten Behörde zur Information.
Das BVwG führte am 23.08.2019 eine Abfrage im GVS System durch, wonach der BF seit 09.12.2015 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung bezieht.
Aus dem vom BVwG am 23.08.2019 eingeholten Auszug aus dem Strafregister ist ersichtlich, dass im Strafregister der Republik Österreich für den BF keine Verurteilungen aufscheinen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1 Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers
Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Bgahlan, ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an, ist sunnitischer Moslem, gesund, kinderlos und ledig. Die Muttersprache des BF ist Dari. Der BF spricht neben seiner Muttersprache Deutsch auf Niveau B1 und etwas Englisch. Der BF ist Zivilist.
Der BF wuchs in seinem Heimatdorf auf. Er besuchte acht Jahre lang die Schule. Seine Familie besitzt ein Haus und Grundstücke im Heimatdorf. Der BF arbeitete in der familieneigenen Landwirtschaft.
Der Vater des BF heißt XXXX . Seine Mutter heißt XXXX . Der BF hat Geschwister, einen Bruder und zwei Schwestern. Die Eltern und eine Schwester, XXXX , sie ist ca. 16 Jahre alt, leben in Teheran, im Iran. Der Vater des BF besaß eine Landwirtschaft und war auch Händler, er kauft und verkaufte Kleidung und Stoffe.
Ein Bruder des BF, XXXX , lebt mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen drei ehelichen minderjährigen Kindern als anerkannter Flüchtling in Österreich. Der Ehefrau des Bruders des BF wurde im Verfahren W260 XXXX vom BVwG internationaler Schutz aufgrund ihrer westlichen Orientierung gewährt, der Bruder erhielt internationalen Schutz im Rahmen des Familienverfahrens als deren Ehemann.
Die zweite Schwester des BF, XXXX , IFA Zl. XXXX , sie ist 18 Jahre alt, erhielt von der belangten Behörde aufgrund ihrer westlichen Orientierung internationalen Schutz.
Der BF hat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verwandte in Afghanistan, ein Cousin mütterlicherseits seines Vaters lebt im Dorf
XXXX .
Der BF reiste Anfang September 2015 aus Afghanistan aus und gelangte über den Iran, die Türkei über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien nach Österreich, wo er spätestens am 08.12.2015 illegal einreiste und am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
1.2 Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers
Das vom BF dargelegte Fluchtvorbringen betreffend die Gefahr, aufgrund von Blutrache verfolgt und getötet zu werden, ist nicht glaubhaft.
Der BF war in seinem Heimatland Afghanistan keiner psychischen oder physischen Gewalt aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt, noch hat er eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten.
Der BF wurde in Afghanistan nie persönlich bedroht oder angegriffen, es droht ihm auch künftig keine psychische und/oder physische Gewalt von staatlicher Seite, und/oder von Aufständischen, und/oder von sonstigen privaten Verfolgern in seinem Herkunftsstaat.
Auch sonst haben sich keine Hinweise für eine dem BF in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.
1.3 Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung im Dezember 2015 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Er bezieht seit seiner Einreise Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.
Die jüngere Schwester, der ältere Bruder samt Ehefrau und den drei ehelichen minderjährigen Kindern lebt in Österreich. Es besteht zwischen dem BF und seinen Geschwistern kein Abhängigkeitsverhältnis.
Der BF besuchte Deutschkurse, zuletzt auf Niveau B1, und verfügt über gute Kenntnisse der deutschen Sprache. Er arbeitet freiwillig und ehrenamtlich für CARITAS, das ROTE KREUZ und die DIAKONIE, wo er als Dolmetscher und Lernassistent tätig ist, und einmal pro Woche am Bauhof der Gemeinde, in welcher er derzeit lebt. Er absolvierte die Pflichtschulabschlussprüfung am 25.02.2019 und besucht die Abendschule, ein Gymnasium in XXXX . In seiner Freizeit spielt der BF Fußball. Der BF nahm am 05.12.2017 am Werte- und Orientierungskurs des ÖIF gemäß § 5 Integrationsgesetz teil. Er absolvierte im März 2018 einen Computerkurs (Word Grundlagen) der VHS XXXX .
Der BF wird von seinen Vertrauenspersonen als außerordentlich teamfähig, sehr offen für Mitarbeit in einem interkulturellen Team, mit großem Potential, engagiert, freundlich, anpassungsfähig, als ernster junger Mann, sehr zuverlässig, ausgeglichen, höflich, fleißig, zielstrebig, pflichtbewusst und uneigennützig beschrieben.
Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.4 Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Überstellung in seine Herkunftsprovinz Baghlan aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.
Dem BF steht als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF droht bei seiner Rückkehr in diese Stadt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.
Der BF ist jung und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen Ressourcen - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise. Er hat eine achtjährige Schulausbildung, weiters hat er bereits Berufserfahrung in der Landwirtschaft gesammelt, die er auch in Mazar-e Sharif wird nutzen können.
Der BF ist gesund. Der BF läuft im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten, oder dass sich eine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern wird. Es sind auch sonst keine objektivierten Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere schwerwiegende körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des BF in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.
1.5 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 01.03.2019 (LIB), in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR), den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 (EASO 2018, der Schnellrecherche der SGH-Länderanalyse vom 07.06.2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde (SFH) und der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN, Nordallianz, ehemalige Kommandanten, Tod des Mullah Abdul Rauf und einem siebenjährigen Mädchen vom 30.04.2019 (Staatendokumentation) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:
1.5.1 Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren. (LIB)
1.5.1.1 Herkunftsprovinz Baghlan
Baghlan, die Herkunftsprovinz des BF, liegt in Nordostafghanistan und gilt als eine der industriellen Provinzen Afghanistans. Sie befindet sich auf der Route der Autobahn Kabul-Nord, welche neun Provinzen miteinander verbindet. Ihre Hauptstadt heißt Pul-i-Khumri und ist als Wirtschaftszentrum bekannt. Die Provinz besteht aus folgenden Distrikten: Andarab, Baghlan-e-Jadid/Baghlan-e Markazi, Burka, Dahana-e-Ghori, Dehsalah/Banu, Doshi, Fereng Wa Gharu, Guzargah-e-Nur, Khenjan, Khost Wa Fereng, Nahrin, Pul-e-Hasar, Pul-e-Khumri, Tala Wa Barfak/Barfak, Jalga/Khwajahejran. Im Nordosten grenzt Baghlan an die Provinzen Panjsher, Takhar und Kunduz, im Westen an Samangan und Bamyan, im Süden grenzt sie an die Provinz Parwan. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 943.394 geschätzt.
Im Februar 2017 galt Baghlan als eine der am schwersten umkämpften Provinzen des Landes. Die Sicherheitslage hatte sich seit Anfang 2016 verschlechtert, nachdem die Taliban anfingen, koordinierte Angriffe in Schlüsseldistrikten in der Nähe der Hauptstadt auszuführen. Dies führte zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften. Quellen zufolge versuchen regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen ihre Aktivitäten in einigen Schlüsselprovinzen des Nordens und Nordostens zu verstärken. Nichtsdestotrotz gehen die afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräfte mit Anti-Terrorismus-Operationen gegen diese Gruppierungen vor. Als einer der Gründe für die sich verschlechternde Sicherheitslage wird vom Gouverneur der Provinz die Korruption angegeben, die er gleichzeitig zu bekämpfen versprach. Baghlan zu jenen Provinzen, in denen eine hohe Anzahl an Zivilisten aufgrund explosiver Kampfmittelrückstände und indirekter Waffeneinwirkung ums Leben kam. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von Blindgängern/Landminen und gezielten Tötungen.
In Baghlan werden militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden der Provinz von Aufständischen zu befreien. Bei diesen Militäroperationen werden Aufständische und in manchen Fällen auch ihre Anführer getötet.
Berichten zufolge waren im August 2017 die Taliban im Nordwesten der Provinz aktiv. Anfang 2017 fiel der Distrikt Tala Wa Barfak an die Taliban; später wurde er jedoch von den Regierungsmächten wieder eingenommen.
In Baghlan stellen Kohlenbergwerke, nach der Drogenproduktion, eine der Haupteinnahmequellen der Taliban dar, nachdem im Jahr 2017 einige Bergwerke der Provinz unter Kontrolle aufständischer Gruppierungen gekommen war. Berichtet wurde von Vorfällen, in denen die Gruppierung Check-Points errichtete, um Geld von Kohle-transportierenden Fahrzeugen. (LIB)
Bei der Provinz Baghlan handelt es laut den EASO Richtlinien vom Juni 2018 um einen Landesteil Afghanistans, wo willkürliche Gewalt stattfindet und allenfalls eine reelle Gefahr festgestellt werden kann, dass der BF ernsthaften Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie nehmen könnte - vorausgesetzt, dass er aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse von derartigen Risikofaktoren konkret betroffen ist. (EASO)
1.5.1.2 Provinz Balkh
Hingegen handelt es sich bei der Provinz Balkh, mit deren Hauptstadt Mazar-e Sharif, laut EASO um einen jener Landesteile, wo willkürliche Gewalt ein derart niedriges Ausmaß erreicht, dass für Zivilisten im Allgemeinen keine reelle Gefahr besteht, von willkürlicher Gewalt im Sinne von Art 15 (c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen zu sein. (EASO 2018)
Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften, oder auch zu Angriffen auf Einrichtungen der Sicherheitskräfte. Regierungsfeindliche Gruppierungen versuchen ihren Aufstand in der Provinz Balkh voranzutreiben. (LIB)
1.5.2 Sichere Einreise
Die Stadt Mazar-e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher erreichbar. Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher. (EASO 2018)
1.5.3 Wirtschafts- und Versorgungslage
Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut auch im Jahr 2018 weiterhin zu.
In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Über 40% der erwerbstätigen Bevölkerung gelten im Jahr 2018 als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.
Die afghanische Regierung hat Bemühungen zur Armutsreduktion gesetzt und unterstützt den Privatsektor weiterhin dabei, nachhaltige Jobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Die Ausstellung von Gewerbeberechtigungen soll gesteigert, steuerliche Sanktionen abgeschafft und öffentlich-private Partnerschaften entwickelt werden; weitere Initiativen sind geplant. (LIB)
1.5.3.1 Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif
Mazar-e Sharif ist ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region. (LIB)
In Mazar-e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Als Alternative dazu stehen ferner günstige Unterkünfte in "Teehäusern" zur Verfügung. Generell besteht in Mazar-e Sharif laut EASO, trotz der im Umland herrschenden Dürre, keine Lebensmittelknappheit. In Mazar-e Sharif haben die meisten Leute laut EASO Zugang zu erschlossenen Wasserquellen sowie auch zu besseren Sanitäreinrichtungen. Schulische Einrichtungen sind in Mazar-e Sharif vorhanden. (EASO 2018)
1.5.4 Medizinische Versorgung
Medizinische Versorgung ist in Afghanistan insbesondere in größeren Städten wie etwa auch in Mazar-e Sharif sowohl in staatlichen als auch privaten Krankenhäusern verfügbar. In Mazar-e Sharif zählt dazu das privat geführte Alemi Krankenhaus. Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände - die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden - sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar. (LIB)
1.5.5 Ethnische Minderheiten
In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.
Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.
Die Dari-sprachige Minderheit der Tadschiken ist die zweitgrößte; und zweitmächtigste Gemeinschaft in Afghanistan. Sie machen etwa 30% der afghanischen Gesellschaft aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan bilden Tadschiken in weiten Teilen Afghanistans ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten:
In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. Aus historischer Perspektive identifizierten sich Sprecher des Dari-Persischen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa Siedlungsgebiet oder Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel kaboli (aus Kabul), herati (aus Herat), mazari (aus Mazar-e Scharif), panjsheri (aus Pajshir) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name tajik (Tadschike) bezeichnete traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert. (LIB)
1.5.6 Religion
Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten, wie es auch der BF ist. (LIB)
1.5.7 Blutrache und Blutfehde
Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat. (UNHCR)
Staatliche Prozesse und traditionelle Bräuche wie Blutrache laufen unabhängig voneinander ab; ein Urteil eines staatlichen Gerichts beendet eine Blutrache nicht. Bei staatlichen Prozessen und traditionellen Bräuchen wie der Blutrache handelt es sich gemäß Angaben von Thomas Ruttig (30. Mai 2017) um " zwei völlig verschiedene Welten". Laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) hat Blutrache keinen Zusammenhang mit formalen rechtlichen Abläufen, sondern ist illegal. Ein Freispruch durch ein Gericht kann gemäss Angaben von Thomas Barfield und Noah Coburn eine Blutrache nicht beenden. Für eine Tat inhaftierte Personen bleiben laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) daher über die Inhaftierung hinaus Ziel einer Blutrache, da es nach ihrer Freilassung möglich sei, sie anzugreifen. Eine Blutrache könne durch die Tötung einer Person beendet werden, wobei eine solche Tötung andererseits auch einen neuen Racheakt der Gegenseite auslösen könne. Üblicherweise ende eine Blutrache, wenn beide Seiten einer förmlichen Beendigung durch einen Versöhnungsprozess zustimmten, bei dem Blutgeld gezahlt würde. Gemäß UNHCR (19. April 2016) können Akte der Blutrache auch dann ausgeübt werden, wenn ein Täter bereits im Rahmen des staatlichen Rechtssystems bestraft wurde. Laut Landinfo (1. November 2011) schließt eine Entscheidung im Rechtssystem der Regierung das Risiko einer gewaltsamen Vergeltung nicht notwendigerweise aus. Von der Opferfamilie könne immer noch erwartet werden, dass sie den Mörder nach seiner Entlassung tötet, außer die Fehde sei beigelegt worden. Eine lokale Gemeinschaft betrachte eine Tötung aus Rache, die durch die Tradition legitimiert ist, nicht als ein Verbrechen.
Staatliche Institutionen bieten kaum Schutz vor Blutrache; Zugang zu staatlichem Schutz hängt von finanziellen Mitteln und vom Einfluss der betroffenen Familie ab. Staatliche Gerichte und die Polizei in Afghanistan können gemäß Thomas Ruttig (30. Mai 2017) wegen der oben beschriebenen weit verbreiteten Straflosigkeit und Korruption eine Blutrache nicht verhindern oder beenden und seien oft auch nicht willens, dies zu tun. Es sei sogar möglich, dass auch Richter und Polizeiangehörige "eine Blutrache als ein legitimes - weil "traditionelles" - Vorgehen betrachteten". Noah Coburn gab am 31. Mai 2017 gegenüber der SFH an, der Zugang zu staatlichem Schutz hänge von den finanziellen Mitteln und dem Einfluss der betroffenen Familie ab. Wenn die Familie für genügend bedeutend erachtet würde oder ausreichende Bestechungsgelder zahlen könne, könnten die Behörden sich unter Umständen für den Fall interessieren. Generell könne die Polizei von einer Blutrache betroffene Personen jedoch nicht wirksam schützen. (SFH)
1.5.8 Nordallianz, ehemalige Kommandanten und Tod des Mullah Abdul Rauf und eines siebenjährigen Mädchens
Es handelte sich bei der "Vereinigten Islamischen Front zur Rettung des Vaterlandes", der sogenannten Nordallianz, um ein im Herbst 1996 entstandenes Bündnis einer Gegnerschaft gegenüber den Taliban, in welcher sich unterschiedlichste Akteure wie Mudjahedin und Warlords zusammenfanden. Die Mitglieder der Nordallianz setzten sich überwiegend aus den Minderheiten der Tadschiken, Usbeken und Hazara aus Nord- und Zentralafghanistan zusammen.
Ahmad Shah Massoud und Abdul Rashid Dostum, ehemalige Feinde, gründeten die Vereinigte Front (Nordallianz) gegen die Taliban, welche ihrerseits Offensiven gegen Gebiete, welche unter der Kontrolle von Massoud und Dostum standen, vorbereiteten.
Ahmad Shah Massoud kontrollierte das Panjshir-Gebiet, sowie Teile der Provinzen Parwan und Thakar. Einige Teile von Badakshan standen ebenso unter seinem Einfluss, andere wurden von Burhanuddin Rabbani kontrolliert.
Diese Vereinigte Front umfasste neben den dominanten tadschikischen Truppen von Massoud und den usbekischen Truppen von Dostum auch Truppen der Hazara, die von Haji Mohammad Mohaqiq angeführt worden sind. Auch kämpften Paschtunen unter der Führung von Kommandanten wie Abdul Haq und Haji Abdul Qadir für die Nordallianz.
Seit der Eroberung Kabuls durch die Taliban im September 1996 bis November 2001 kontrollierte die Vereinigte Front rund 30 Prozent der afghanischen Bevölkerung in Provinzen wie Badakhshan, Kapisa, Takhar und Teilen von Parwan, Kunar, Nuristan, Laghman, Samangan, Kunduz, Ghor und Bamyan.
Die Partei Shuria-e Nazar wurde von Ahmed Shah Masood gegründet, um die Macht der paschtunischen ethnischen Mehrheit in Afghanistan auszugleichen. Die Shuria-e-Nezar Gruppe war nach dem antisowjetischen Dschihad ein wichtiger Akteur im afghanischen Bürgerkrieg. Nachdem den Taliban 2001 die Macht genommen wurde, tauchte dieselbe Gruppe wieder in der afghanischen Politik auf und hat fortan weiterhin versucht, Macht für ihre ehemaligen Gönner innerhalb der Nordallianz zu erhalten.
Nach dem Sturz des Talibanregimes wurden durch Vertreter der Nordallianz wichtige Positionen in den afghanischen Interimsregierungen eingenommen. Seit der Eroberung Kabuls durch die Taliban im September 1996 bis November 2001 kontrollierte die Nordallianz rund 30 Prozent der afghanischen Bevölkerung in Provinzen wie Badakhshan, Kapisa, Takhar und Teilen von Parwan, Kunar, Nuristan, Laghman, Samangan, Balkh, Kunduz, Ghor, Bamyan Jowzjan, Faryab und Baghlan. Nach bereits im Jahre 2002 aufgetretenen Spannungen und Kämpfen zwischen einzelnen Gruppierungen der "Vereinigten Islamischen Front zur Rettung des Vaterlandes", kam es zur Auflösung der Nordallianz.
Die meisten Mitglieder der ehemaligen Führungskader der Nordallianz sind heute in Schlüsselpositionen der Regierung, des Militärs und im Geheimdienst. Auch bekleiden sie Positionen mit weitreichenden Machtbefugnissen in der Provinz Balkh.
Doch zählen diese Personen, welche von deren Kritikern auch als Warlords bezeichnet werden und allesamt über jene Ressourcen und Druckmittel verfügen, welche es ihnen erlauben, ihre politischenwie ökonomische Ziele auch mit Gewalt durchzusetzen, auch zu den Hauptkritikern von Präsident Ghani und seiner Politik. Sie sind gut untereinander vernetzt und koalieren - auch wenn die Lebensdauer solcher Bündnisse meist nur von kurzer Dauer ist - zur Durchsetzung gemeinsamer Ziele miteinander.
Präsident Ghani hat in den letzten Monaten deutlich gemacht, gegen bestimmte Kriegsfürsten, wie etwa dem Tadschiken Noor Mohammad Atta, dem langjährigen Gouverneur der Provinz Balkh, sowie dem Usbeken Abdul Rashid Dostum, Ghanis eigenen Vizepräsidenten, vorzugehen.
Die überwiegende Mehrheit der Kommandanten des Distrikts Baghlan in der Provinz Baghlan sind mit der Jamiat-e Islami verbunden. Diese Partei wird von Salahuddin Rabbani, [Anmerkung d.
Staatendokumentation: Sohn des Burhanuddin Rabbani] angeführt. Burhanuddin Rabbani war im antisowjetischen Dschihad aktiv und einer der wichtigen politischen Akteur innerhalb der Nordallianz.
Zur Frage, ob es in der Provinz Baghlan, genauer in den Distrikten Andarab und Pul-e-Khumri, ehemalige Kommandanten der Nordallianz gibt, ist anzuführen, dass als Reaktion auf die Einnahme von Kunduz durch die Taliban (2015) sich eine große Gruppe ehemaliger Dschihad-Kommandanten in Pul-e Khumri bereit erklärte, die Regierungstruppen im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen. Dabei soll es sich um etwa zehn ehemalige Dschihad-Kommandanten mit etwa tausend Kämpfern gehandelt haben. Die Mehrzahl dieser Milizenkommandanten stammt aus dem Distrikt Andarab und sind mit der Jamiat-e Islami und mit der lokalen Regierungs- und Sicherheitseinrichtung verbunden. Diese jahrzehntelange Dominanz der lokalen Verwaltungs- und Sicherheitskräfte durch Andarabis hat im Laufe der Jahre zu schweren Misshandlungen und Missständen unter der lokalen Bevölkerung und zu latenten Spannungen zwischen den Andarabis und lokalen paschtunischen Politikern geführt. Das hat dazu beigetragen, den Weg für den Taliban-Aufstand zu ebnen.
Es konnten Namen/Namensteile der Personen ausfindig gemacht werden, welche auf die in der Fragestellung angeführten Namen Sayeed Jan, Mullah Abdul Rauf und Lange Rasul zugeordnet werden können.
Dabei geben die Quelle durchaus widersprüchliche Angaben zu den Personen. So berichtet eine Quelle am 25.5.2016 davon, dass der ranghohe Taliban-Kommandeur Mullah Abdul Rauf, den Tod eines Taliban Anführers in Pakistan bestätigt hat, während andere Quellen über den Tod des Mullah Abdul Rauf am 9.2.2015 im Zuge eines Drohnenangriffs berichten. (Staatendokumentation)
1.5.9 Rückkehrer/innen
In der Zeit von 2012 bis 2017 sind 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei der Großteil der Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran kommen. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück. In der Provinz Balkh ließen sich von den insgesamt ca. 1,8 Millionen Rückkehrer/innen in der Zeit von 2012 bis 2017 109.845 Personen nieder.
Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen besteht auch für zurückkehrende Flüchtlinge das Risiko, in die Armut abzurutschen. Sowohl das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations World Food Programme) als auch andere UN-Organisationen arbeiten mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Kapazität humanitärer Hilfe zu verstärken, rasch Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und Hygiene- und Nahrungsbedürfnisse zu stillen.
Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (BFA Staatendokumentation 4.2018). Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.
Die Großfamilie ist für Zurückkehrende die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten.
Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Quellen zufolge haben aber alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen. Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.
Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen "professionellen" Netzwerken (Kolleg/innen, Kommilitonen etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen.
Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. (LIB)
2. Beweiswürdigung:
2.1 Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit sowie zu den Aufenthaltsorten, Familienangehörigen, Sprachkenntnissen, der Schulbildung und Berufserfahrung des BF beruhen auf dessen plausiblen, im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben im Laufe des Asylverfahrens. Die Angaben dienen zur Identifizierung im Asylverfahren.
Lediglich hinsichtlich des Berufs des Vaters des BF, dass dieser Landwirt und Händler war, stützt sich das BVwG auf die Aussage der Schwägerin des BF in deren Beschwerdeverfahren vor dem BVwG, bei welchem diese in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 07.06.2019 auf die Frage des Richters: "Wissen Sie, womit ihr Schwiegervater (das ist der Vater des BF) sein Geld verdient hat?", ausführt: "Mein Schwiegervater war Händler, er hat zB Kleidung gekauft und verkauft und auch Stoffe." (vgl. S 9 der Niederschrift der Beschwerdeverhandlung im Verfahren Zl. W260 XXXX -1/8Z). Der BF selbst verwies in seiner Stellungnahme vom 24.06.2019 auf dieses Verhandlungsprotokoll, weswegen dieses auch im gegenständlichen Verfahren, dessen Antrag auf Berücksichtigung im Verfahren des BF folgend, in die Entscheidungsfindung miteinbezogen wird. Auffallend ist, dass der BF selbst auf die Frage der erkennenden Richterin:
"Womit haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?", angab: "Mein Vater hatte eine Landwirtschaft" (vgl. S 6 der Niederschrift der mündlichen Beschwerdeverhandlung), den Umstand, dass dessen Vater auch Händler war, erwähnt er, aus nicht nachvollziehbaren Gründen, mit keinem Wort. Jedenfalls wird zum Beruf des Vaters der Aussage des BF und seiner Schwägerin folgend festgestellt, dass dieser Landwirt und Händler war.
2.2 Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 145/2017, (in der Folge: AsylG 2005) liegt es auch am BF, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Das Asylverfahren bietet, wie der VwGH erst jüngst in seinem Erkenntnis vom 27.05.2019, Ra 2019/14/0143-8, wieder betonte, nur beschränkte Möglichkeiten, Sachverhalte, die sich im Herkunftsstaat des Asylwerbers ereignet haben sollen, vor Ort zu verifizieren. Hat der Asylwerber keine anderen Beweismittel, so bleibt ihm lediglich seine Aussage gegenüber den Asylbehörden, um das Schutzbegehren zu rechtfertigen. Diesen Beweisschwierigkeiten trägt das österreichische Asylrecht in der Weise Rechnung, dass es lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt. Um den Status des Asylberechtigten zu erhalten, muss die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt jedoch nicht. Dabei hat der Asylwerber im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen.
Mit der Glaubhaftmachung ist demnach die Pflicht der Verfahrenspartei verbunden, initiativ alles darzulegen, was für das Zutreffen der behaupteten Voraussetzungen spricht und diesbezüglich konkrete Umstände anzuführen, die objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser Voraussetzung liefern. Insoweit trifft die Partei eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Allgemein gehaltene Behauptungen reichen für eine Glaubhaftmachung nicht aus (vgl. VwGH 17.10.2007, 2006/07/0007).
Die Glaubhaftmachung hat das Ziel, die Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit bestimmter Tatsachenbehauptungen zu vermitteln. Glaubhaftmachung ist somit der Nachweis einer Wahrscheinlichkeit. Dafür genügt ein geringerer Grad der Wahrscheinlichkeit als der, der die Überzeugung von der Gewissheit rechtfertigt (VwGH 29.05.2006, 2005/17/0252). Im Gegensatz zum strikten Beweis bedeutet Glaubhaftmachung ein reduziertes Beweismaß und lässt durchwegs Raum für gewisse Einwände und Zweifel am Vorbringen des Asylwerbers. Entscheidend ist, ob die Gründe, die für die Richtigkeit der Sachverhaltsdarstellung sprechen, überwiegen oder nicht. Dabei ist eine objektivierte Sichtweise anzustellen.
Unter diesen Maßgaben ist das Vorbringen eines Asylwerbers also auf seine Glaubhaftigkeit hin zu prüfen. Dabei ist vor allem auf folgende Kriterien abzustellen: Das Vorbringen des Asylwerbers muss - unter Berücksichtigung der jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten - genügend substantiiert sein; dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Das Vorbringen hat zudem plausibel zu sein, muss also mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen; diese Voraussetzung ist u.a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen. Schließlich muss das Fluchtvorbringen in sich schlüssig sein; der Asylwerber darf sich demgemäß nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.
Der BF gibt als Fluchtgrund im Wesentlich an, dass XXXX , der Vater der Schwägerin des BF, XXXX , das ist die Frau seines in Österreich lebenden Bruders XXXX , von einem Sohn des XXXX , namens XXXX , vor ca. acht oder neun Jahren (2011 oder 2010) in einem Taxi getötet worden sei.
Mullah XXXX sei einer der Kommandanten der Dschihadisten gewesen, welche XXXX , einen der Gründer der Nordallianz, unterstützt hätten. Mullah XXXX soll vor Jahren einen gewissen XXXX , der ebenfalls ein einflussreicher Dschihadisten Kommandant gewesen war, getötet haben. XXXX und XXXX seien Cousins väterlicherseits gewesen.
Die Leute, die Mullah XXXX getötet hätten, seien danach geflüchtet und seien vor ca. drei Jahren wieder in das Heimatdorf des BF zurückgekehrt. XXXX , der Bruder des BF, sei mit seinem Schwager, XXXX , dem Bruder seiner Frau, nach XXXX gegangen, um dort eine Anzeige bei den örtlichen Behörden zu erstatten, dass die Mörder des Vaters bzw. Schwiegervaters wieder zurückgekehrt seien.
Im Dorf XXXX seien die beiden von den Dorfbewohnern gesehen worden. Als diese nach Hause zurückgekehrt seien, sei der Bruder des BF von der Familie des XXXX , welche ebenfalls im Dorf XXXX lebe, bedroht worden. Sie hätten dem Bruder des BF vorgehalten, weswegen er seinen Schwager bei der Erstattung der Anzeige begleitet hätte.
Der Vater des BF und sein Bruder seien in weiterer Folge bei der Maisernte auf ihren Feldern von den Söhnen des XXXX , der ein Schwager des XXXX ist, bedroht worden. In einer Arbeitspause, welche diese in einer Eisenhütte in der Nähe der Felder verbracht hätten, sei auf sie geschossen worden.
Am selben Abend sei der Vater des BF in die Moschee gegangen, um das Gebet zu verrichten. Er habe XXXX gefragt, weswegen seine Söhne auf ihn und den Bruder des BF geschossen hätten. XXXX und seine Söhne hätten den Vater des BF daraufhin verprügelt. Der Bruder des BF habe dies gehört und sei von zu Hause aus seinem Vater zu Hilfe gekommen und hätte diesen verteidigt. Der BF sei zu diesem Zeitpunkt zu Hause gewesen. Ein Sohn des XXXX habe von einem Dach auf die Männer geschossen und hätte seinen eigenen Bruder, XXXX , verletzt. Der Bruder des BF sei verängstigt nach Hause geflohen. Der Vater des BF sei weiter verprügelt worden und Dorfbewohner hätten ihn nach Hause gebracht.
Der verletzte Sohn des XXXX sei von den Dorfältesten ins Krankenhaus gebracht worden, wobei er auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben sei. Noch in derselben Nacht sei die gesamte Familie des BF aus deren Heimatdorf geflohen. Die Familie des XXXX habe den BF und seinen Bruder wegen dem Tod des XXXX angezeigt.
Die Familie habe nach einem kurzen Zwischenstopp bei der Schwiegermutter des Bruders des BF in XXXX für ca. zwei Monate im XXXX beim Cousin mütterlicherseits des Vaters des BF gelebt, bevor sie schlepperunterstützt geflohen sei. Die Familie des BF habe erfahren, dass deren Haus mit einer Handgranate zerstört worden sei.
Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 dient die Erstbefragung zwar "insbesondere" der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden und hat sich nicht auf die "näheren" Fluchtgründe zu beziehen (vgl. hierzu auch VfGH 27.06.2012, U 98/12), ein Beweisverwertungsverbot ist damit jedoch nicht normiert; die Verwaltungsbehörde bzw. das BVwG können in ihrer Beweiswürdigung also durchaus die Ergebnisse der Erstbefragung in ihre Beurteilung miteinbeziehen.