TE Vfgh Erkenntnis 2019/10/10 E28/2019 ua

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Veröffentlicht am 10.10.2019
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und Erlassung von Rückkehrentscheidungen betreffend eine sechsköpfige Familie afghanischer Staatsangehöriger; keine Bezugnahme auf das Nichtbestehen einer internen Schutzalternative für die Familie in Kabul nach der UNHCR-Richtlinie

Spruch

I. 1. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§57 Asylgesetz 2005), gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und gegen die Festsetzung einer vierzehntägigen Frist zur freiwilligen Ausreise, abgewiesen wird, in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das angefochtene Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Erstbeschwerdeführerin ist Ehepartnerin des Zweitbeschwerdeführers. Sie sind Eltern der minderjährigen Dritt- und Sechstbeschwerdeführer sowie der minderjährigen Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen. Die beschwerdeführenden Parteien sind afghanische Staatsangehörige, stammen aus der Provinz Baghlan und haben vor ihrer Ausreise in den Iran, wo sie von 2007 bis 2014 gelebt haben, ein Jahr in Kabul verbracht. Sie gehören der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensgemeinschaft an. Die minderjährigen Kinder sind im Alter zwischen zwei und dreizehn Jahren. Die Erstbeschwerdeführerin stellte für sich und ihre drei minderjährigen Kinder (dritt- bis fünftbeschwerdeführende Parteien) am 18. Jänner 2015, der Zweitbeschwerdeführer stellte am 19. Februar 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Für den in Österreich während des laufenden Asylverfahrens geborenen Sechstbeschwerdeführer wurde am 4. Juli 2017 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 11. August 2016 wurden die Anträge der erst- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien und mit Bescheid vom 6. Oktober 2017 der Antrag des Sechstbeschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Asylstatus und des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen, kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei; für die freiwillige Ausreise wurde eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

3. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16. Juni 2017, fortgesetzt am 7. Mai 2018 mit Erkenntnis vom 20. November 2018 als unbegründet ab.

3.1. Den beschwerdeführenden Parteien sei es nicht gelungen, ihre Angaben zum Fluchtgrund glaubhaft zu machen. Sie seien weder einer Verfolgung durch die Familie der Erstbeschwerdeführerin ausgesetzt, noch drohe ihnen mangels Aktualität im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung seitens der Familie. Sie seien auch keiner Verfolgung wegen ihrer Angehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Glaubensrichtung des Islam in ihrem Herkunftsstaat Afghanistan ausgesetzt. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Erst-, Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen eine Lebensweise angenommen hätten, die einen deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Ihr Tagesablauf weise auf kein Verhalten hin, das in Afghanistan verpönt sei, vielmehr entspreche die Lebensweise jener, die sie bereits in Afghanistan bzw im Iran gepflegt hätten. Es drohe den minderjährigen Beschwerdeführern keine Zwangsrekrutierung und den minderjährigen Beschwerdeführerinnen keine potentielle Gefahr einer Zwangsheirat.

3.2. Bei der Heimatprovinz der beschwerdeführenden Parteien handle es sich um eine der am schwersten umkämpften Provinzen des Landes, weshalb eine Rückkehr dorthin ihnen nicht zuzumuten sei. Vor dem Hintergrund der individuellen Situation der beschwerdeführenden Parteien sei diesen jedoch die Rückkehr in die Stadt bzw die Provinz Kabul möglich und zumutbar. Es handle sich beim Zweitbeschwerdeführer um einen hinreichend gesunden, arbeitsfähigen, jungen Mann, der die Landessprache beherrsche und keinem Personenkreis angehöre, der schutzbedürftiger wäre als die übrige Bevölkerung. Zudem verfüge der Zweitbeschwerdeführer über Kontakte in Kabul, die ihn bei einer Rückkehr unterstützen könnten. Auch unter der Beachtung der besonderen Vulnerabilität auf Grund der vier minderjährigen Kinder bestehe keine reale Gefahr einer Verletzung der in §8 AsylG 2005 genannten Rechte, da die Familie im Familienverband zurückkehre und die Eltern über Ortskenntnisse in Kabul verfügten.

3.3. Die von Seiten des UNHCR geäußerte Auffassung, wonach angesichts der gegenwärtigen Sicherheitslage sowie der menschenrechtlichen und humanitären Situation in Kabul eine interne Flucht- und Neuansiedlungsalternative in dieser Stadt allgemein nicht zur Verfügung stehe, stelle eine dem BFA und im Falle der Erhebung einer Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht obliegende rechtliche Beurteilung dar, der im Einzelfall gefolgt oder nicht gefolgt werden könne. UNHCR gehe davon aus, dass eine innerstaatliche Flucht- und Neuansiedlungsalternative nur zumutbar sei, wenn die Person Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk habe, das bereit und in der Lage ist, dem Antragsteller in der Praxis echte Unterstützung zu leisten. Die beschwerdeführenden Parteien würden über Familienangehörige und auch sonstige soziale Unterstützung in Kabul verfügen, die sie bei einer Rückkehr, insbesondere im Hinblick auf eine Unterkunft, unterstützen könnten. Es könne nicht festgestellt werden, dass die beschwerdeführenden Parteien im Falle der Rückkehr in die Stadt Kabul Gefahr laufen würden, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw existenzbedrohende Situation zu geraten. Ebenso wenig könne festgestellt werden, dass den viert- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien ein Schulbesuch in Afghanistan nicht möglich sein sollte, da den Eltern die Bildung ihrer Kinder wichtig sei. Der Schulbesuch sei bis zur Unterstufe der Sekundarbildung Pflicht und eine kostenlose Schulbildung sei bis zum Hochschulniveau gesetzlich vorgesehen. Der Zweitbeschwerdeführer leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, sei aber ansonsten gesund und arbeitsfähig. Die Erstbeschwerdeführerin habe eine mediane Laparatomienarbe vom Oberbauch bis zur Symphyse, die von einer Operation im Iran herrühre. Sie benötige derzeit keine Behandlung und eine Narbenkorrektur sei derzeit nicht vorgesehen. Sie sei arbeitsfähig.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, wie insbesondere die Verletzung des Rechtes auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) und des Rechtes, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Art2 und Art3 EMRK), behauptet sowie die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Äußerung unter Hinweis auf die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses abgesehen und die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan richtet, ist sie auch begründet:

3. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg. cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

4. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

4.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

4.2. Laut den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 ist "eine vorgeschlagene interne Schutzalternative nur dann zumutbar […], wenn die Person Zugang zu (i) Unterkunft, (ii) grundlegender Versorgung wie sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und Bildung und (iii) Lebensgrundlagen hat oder über erwiesene und nachhaltige Unterstützung verfügt, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht. UNHCR ist ferner der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative nur dann als zumutbar angesehen werden kann, wenn die Person im voraussichtlichen Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft hat und man sich vergewissert hat, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen. Die einzige Ausnahme von diesem Erfordernis der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne die oben beschriebenen besonderen Gefährdungsfaktoren dar. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen" (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, 124 f.; vgl zur Indizwirkung der UNHCR-Richtlinien VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533 mwN).

4.3. Zur Situation in Kabul führt das Bundesverwaltungsgericht unter anderem aus, dass Gefährdungsquellen wie insbesondere Anschläge "in reinen Wohngebieten nicht in einem solchen Ausmaß anzunehmen [sind], dass die Lage in der Stadt Kabul nicht insgesamt als ausreichend sicher bewertet werden könnte." Diese Feststellungen und, dass "[g]erade in den Wohn- und Arbeitsvierteln der einheimischen Bevölkerung […] keine erhöhte Anzahl von Anschlägen zu erkennen [ist]", finden zum einen keine Deckung in den der Entscheidung zugrunde gelegten Länderberichten und widersprechen zum anderen den Feststellungen von UNHCR zum Sonderfall Kabul als vorgeschlagenem Gebiet einer internen Schutzalternative: Demnach laufen gerade "Zivilisten, die in Kabul tagtäglich ihren wirtschaftlichen oder sozialen Aktivitäten nachgehen, Gefahr […], Opfer der allgegenwärtigen in der Stadt bestehenden Gefahr zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe; sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen." Daher ist UNHCR der Auffassung, "dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist" (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, 127 ff.; vgl ua VfGH 30.11.2018, E3870/2018; 11.12.2018, E4154/2018; 12.12.2018, E4118/2018, und vom selben Tag, E3930/2018).

4.4. Daran vermag auch die Begründung des Bundesverwaltungsgerichtes, dass "[d]ie undifferenzierte Ansicht des UNHCR, der schlussfolgert, dass in Kabul gänzlich ein derart hohes Sicherheitsrisiko herrscht, […] folglich keine Deckung in den heranzuziehenden Länderinformationen [findet] und […] folglich vom Bundesverwaltungsgericht nicht geteilt werden [kann]", nichts zu ändern. Denn aus den im Erkenntnis abgedruckten Länderfeststellungen geht nicht hervor, dass die Lage in Kabul in reinen Wohn- und Arbeitsvierteln jedenfalls ausreichend sicher ist: "Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.4.2018)." Zur Sicherheitslage in der Stadt Kabul wird im Erkenntnis auf den Seiten 37 f. Folgendes festgestellt:

"Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen (Reuters 14.3.2018), die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben (Reuters 14.3.2018; vgl UNGASC 27.2.2018). Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen (Khaama Press 26.3.2018; vgl FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018). Im Jahr 2017 und in den ersten Monaten des Jahres 2018 kam es zu mehreren 'high-profile'-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte (DW 27.3.2018; vgl VoA 19.3.2018 SCR 3.2018, FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018).

Im Zeitraum 1.1.2017- 30.4.2018 wurden in der Provinz 410 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.

Im gesamten Jahr 2017 wurden 1.831 zivile Opfer (479 getötete Zivilisten und 1.352 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Selbstmordanschläge, gefolgt von IEDs und gezielte Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 4% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Für Kabul-Stadt wurden insgesamt 1.612 zivile Opfer registriert; dies bedeutet eine Steigerung von 17% im Gegensatz zum Vorjahr 2016 (440 getötete Zivilisten und 1.172 Verletzte) (UNAMA 2.2018).

Im Jahr 2017 war die höchste Anzahl ziviler Opfer Afghanistans in der Provinz Kabul zu verzeichnen, die hauptsächlich auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren; 16% aller zivilen Opfer in Afghanistan sind in Kabul zu verzeichnen. Selbstmordangriffe und komplexe Attacken, aber auch andere Vorfallsarten, in denen auch IEDs verwendet wurden, erhöhten die Anzahl ziviler Opfer in Kabul. Dieser öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriff im Mai 2017 war alleine für ein Drittel ziviler Opfer in der Stadt Kabul im Jahr 2017 verantwortlich (UNAMA 2.2018)."

4.5. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Erkenntnis mit Willkür belastet, indem es den hier zu beurteilenden Sachverhalt nicht mit aktuellen Länderberichten in Bezug gesetzt und verkannt hat, "dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist" (vgl etwa UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, 129). Aus dieser Berichtslage ergibt sich, dass insbesondere für eine Familie mit vier minderjährigen Kindern grundsätzlich keine interne Schutzalternative in der Stadt Kabul verfügbar ist. Das Bundesverwaltungsgericht lässt eine Begründung vermissen, welche besonderen, außergewöhnlichen Umstände in Anbetracht dieses grundsätzlichen Befundes einen gegenteiligen Schluss zuließen. Die Tatsache allein, dass eine Schwester und ein ehemaliger Bekannter in Kabul leben, vermag an der Unzumutbarkeit einer internen Schutzalternative in der Stadt Kabul nichts zu ändern. Soweit sich die Entscheidung auf die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung bzw der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, ist sie daher aufzuheben.

5. Im Übrigen (hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten) wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Die beschwerdeführenden Parteien sind somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§57 AsylG 2005), gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und gegen die Festsetzung einer vierzehntätigen Frist zur freiwilligen Ausreise, abgewiesen wird, in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E28.2019

Zuletzt aktualisiert am

12.01.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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