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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache des H M, vertreten durch DDr. Rainer Lukits, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Oktober 2018, W123 2187991-1/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 6. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, er sei als Hilfsarbeiter tätig gewesen und habe Waren transportiert. Im Zusammenhang mit einer Polizeikontrolle habe er herausgefunden, dass es sich um Drogen handle. Bei einer Rückkehr würde er von der Polizei verfolgt und von den Drogenhändlern umgebracht werden.
2 Mit Bescheid vom 22. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Begründend ging das BVwG davon aus, dass das Fluchtvorbringen nicht glaubhaft sei. Selbst bei Wahrunterstellung des Fluchtvorbringens sei der Revisionswerber im Fall der Rückkehr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch die Polizei oder Drogenhändler ausgesetzt. Überdies könne er in zumutbarer Weise auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif verwiesen werden. 5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. Ein Beschluss nach Abs. 1 ist in jeder Lage des Verfahrens zu fassen. 7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen. 8 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten vor, das BVwG weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, weil es die Verneinung der Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens auf Abweichungen zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme durch das BFA gestützt habe, wobei auch die Minderjährigkeit des Revisionswerbers im Zeitpunkt des Fluchtgeschehens unbeachtet geblieben sei. Unter der Annahme der Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens wendet sich die Revision gegen verschiedene Aspekte der Beweiswürdigung in Bezug auf die Verneinung einer Verfolgungsgefahr und behauptet in diesem Zusammenhang auch Begründungsmängel.
9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 5.9.2016, Ra 2016/19/0074, mwN).
10 Das BVwG hat nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit näherer Begründung dargelegt, warum es - bei Wahrunterstellung der vorgebrachten Fluchtgründe - davon ausgeht, der Revisionswerber wäre im Fall einer Rückkehr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer drohenden Verfolgung durch die Polizei oder Drogenhändler ausgesetzt. Die Revision vermag nicht darzulegen, dass die Beweiswürdigung fallbezogen unvertretbar wäre oder an einem vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Begründungsmangel leiden würde (vgl. zur eingeschränkten Prüfungsbefugnis des Verwaltungsgerichtshofes in Bezug auf die Beweiswürdigung etwa VwGH 23.1.2019, Ra 2018/19/0712 bis 0715, mwN).
11 Vor dem Hintergrund dieser - für sich tragenden - Gründe für die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten kommt die Alternativbegründung, das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers sei nicht glaubhaft, nicht zum Tragen, sodass die Entscheidung über die Revision nicht von der Lösung der dazu geltend gemachten Rechtsfragen abhängt (vgl. zur Unzulässigkeit einer Revision bei einer tragfähigen Alternativbegründung VwGH 13.12.2017, Ra 2017/19/0417; mwN).
12 Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten bringt die Revision zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es die aktuellen UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 nicht berücksichtigt habe und sich nicht (hinreichend) mit der behaupteten "westlichen Orientierung" des Revisionswerbers, seiner Lage als Hazara und Schiit, seinem jugendlichen Alter und der Versorgungslage auseinandergesetzt habe.
13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben die Asylbehörden bei den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern die zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen. Das gilt ebenso für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat daher seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Es reicht aber nicht aus, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der behaupteten Verfahrensmängel aufzuzeigen (vgl. VwGH 15.11.2018, Ra 2018/19/0359, mwN).
14 Dies gelingt der Revision nicht. Das BVwG legte seiner Beurteilung zu Grunde, dass es sich beim Revisionswerber um einen jungen, gesunden, ledigen Mann im erwerbsfähigen Alter handle, der über Schulbildung und mehrjährige Berufserfahrung verfüge, mit den generellen Strukturen und den landestypischen sozialen Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut sei, finanzielle Unterstützung von einer Tante erhalten werde und Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen könne. Die Revision zeigt nicht auf, dass die Beurteilung des BVwG, dem Revisionswerber stehe jedenfalls in der Stadt Mazar-e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative offen, fallbezogen mit einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Rechtswidrigkeit belastet wäre (vgl. VwGH 27.5.2019, Ra 2019/14/0153, zu einem schiitischen Hazara; 25.6.2019, Ra 2018/19/0644; 25.6.2019, Ra 2019/19/0121; 25.6.2019, Ra 2019/19/0144; 18.7.2019, Ra 2019/19/0197, ebenfalls zu einem schiitischen Hazara; jeweils mwN).
15 Schließlich bringt die Revision zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes davon ausgegangen, ein bloß dreijähriger Aufenthalt könne keinesfalls eine relevante Aufenthaltsverfestigung begründen. Auch habe das BVwG den Sachverhalt in Bezug auf die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK mangelhaft festgestellt.
16 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 10.4.2019, Ra 2019/18/0049, mwN).
17 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0521, mwN).
18 Das BVwG stellte fest, dass der Revisionswerber über ein Deutschzertifikat des Sprachniveaus B1 und einen Lehrvertrag verfüge und nicht Mitglied in einem Verein sei. Wenn die Revision vorbringt, der Revisionswerber habe mit Stellungnahme vom 22. Oktober 2018 Deutschkenntnisse auf "B-2 Niveau" behauptet, ist ihr zu entgegen, dass der Revisionswerber in dieser Stellungnahme vorbrachte, er verfüge über ein näher datiertes ÖSD-Zertifikat des Sprachniveaus B1, in der Folge aber ohne Nachweis von "überdurchschnittlich fortgeschrittenen Deutsch-Kenntnissen ... (auf B2-Niveau)" spricht. In der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 9. Oktober 2018 gab der Revisionswerber an, er habe in einem Fußballverein gespielt, jetzt aber keine Zeit mehr dafür, während in der Stellungnahme vom 22. Oktober 2018 - wiederum ohne nähere Ausführungen - von einer "aktiven Mitgliedschaft im Fußballsowie Skiverein" die Rede ist. Vor diesem Hintergrund gelingt es der Revision nicht, sich erfolgreich gegen die diesbezüglichen Feststellungen des BVwG zu wenden.
19 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt. Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen "kann" und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. VwGH 10.4.2019, Ra 2019/18/0049; 5.6.2019, Ra 2019/18/0078; mwN).
20 Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN; dort auch zur Bedeutung einer Lehre iZm Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK).
21 Vor diesem Hintergrund kann der Verwaltungsgerichtshof nicht erkennen, dass die Interessenabwägung, in die das BVwG insbesondere auch den Lehrvertrag des Revisionswerbers einbezogen hat, selbst unter Berücksichtigung der in der Revision vorgebrachten Selbsterhaltungsfähigkeit und sozialen Integration des Revisionswerbers sowie seines bevorstehenden Pflichtschulabschlusses fallbezogen unvertretbar wäre (vgl. zur mangelnden Inanspruchnahme staatlicher Unterstützungsleistungen und zu Anstrengungen zur sozialen Integration etwa VwGH 24.1.2019, Ra 2018/21/0191; zu einem bevorstehenden Pflichtschulabschluss VwGH 22.8.2019, Ra 2019/14/0343).
22 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG in nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen.
Wien, am 23. Oktober 2019
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019190413.L00Im RIS seit
09.12.2019Zuletzt aktualisiert am
09.12.2019