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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §55Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des S S, vertreten durch Mag. Thomas Böchzelt, Rechtsanwalt in 8700 Leoben, Krottendorfergasse 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. September 2018, W103 1401607- 3/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde in Bezug auf die Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz und auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 richtet.
II. zu Recht erkannt:
In seinem übrigen Umfang wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte erstmals am 12. Dezember 2007 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 1. Oktober 2012 rechtskräftig abgewiesen wurde. Danach stellte der Revisionswerber weitere Anträge auf internationalen Schutz und am 1. Juli 2018 den gegenständlichen Folgeantrag.
2 Mit Bescheid vom 26. Juli 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, erließ gegen ihn ein befristetes Einreiseverbot und sprach aus, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG - soweit entscheidungsrelevant - aus, der Revisionswerber habe im Dezember 2007 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz gestellt und sich seither lediglich auf Grund seiner vorläufigen Aufenthaltsberechtigung als Asylwerber im Bundesgebiet aufgehalten, sodass zu keinem Zeitpunkt ein gesicherter Aufenthaltsstatus vorgelegen sei. Hinzu komme, dass der Revisionswerber illegal nach Österreich eingereist und nach rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens im Oktober 2012, des Folgeverfahrens im April 2014 und des zweiten Folgeverfahrens im September 2017 unrechtmäßig im Bundesgebiet verblieben und seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei. Die Zeitspanne des unrechtmäßigen Aufenthalts des Revisionswerbers im Bundesgebiet könne hinsichtlich einer Aufenthaltsverfestigung nicht zu Gunsten des Revisionswerbers ausschlagen, da diese durch immer neue unbegründete Anträge auf internationalen Schutz zustande gekommen sei. Er habe seit seiner Einreise Leistungen aus der Grundversorgung bezogen, gehe keiner Erwerbstätigkeit nach und sei nicht in der Lage, sich selbst zu erhalten. Zwar beherrsche der Revisionswerber die deutsche Sprache gut und sei auch erfolgreicher Teilnehmer an Judoturnieren. Es seien aber keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine tatsächliche, fortgeschrittene Integration des Revisionswerbers hervorgekommen. Dem Revisionswerber hätte im Hinblick auf seine unberechtigten Anträge auf internationalen Schutz bewusst sein müssen, dass er etwaige eingegangene Bindungen im Bundesgebiet nicht aufrechterhalten werde können. Insgesamt überwiege daher im Hinblick auf die "noch relativ kurze Dauer des Aufenthaltes" des Revisionswerbers im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen das private Interesse des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet. 5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
6 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit u.a. vor, das BVwG habe im Rahmen der Interessenabwägung nicht berücksichtigt, dass dem Revisionswerber das Bewusstsein über seinen unsicheren Aufenthaltsstatus auf Grund seiner Minderjährigkeit nicht im gleichen Ausmaß zugerechnet werden dürfe wie einem Erwachsenen. Auch habe das BVwG zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen, obwohl der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt gewesen sei und der Revisionswerber in seiner Berufung konkrete Ausführungen zu seinem Privat- und Familienleben gemacht habe.
Zu I.:
7 Die Revision enthält kein Vorbringen in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005. Insoweit war sie daher schon mangels Darlegung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen. Zu II.:
8 Zulässig und auch begründet ist die Revision jedoch insoweit, als sie sich gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sowie die darauf aufbauenden Spruchpunkte richtet.
9 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Erlassung einer Rückkehrentscheidung unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. grundlegend VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101). 10 Bei dieser Interessenabwägung hat das BVwG allerdings der langen Dauer des Aufenthalts des Revisionswerbers in Österreich, die bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits mehr als zehn Jahre betragen hatte, nicht die ihr nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen, indem es den Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG ("Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren") in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund stellte.
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN). Wenngleich minderjährigen Kindern dieser Vorwurf nicht zu machen ist, muss das Bewusstsein der Eltern über die Unsicherheit ihres Aufenthalts nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch auf die Kinder durchschlagen, wobei diesem Umstand allerdings - worauf die Revision zu Recht hinweist -
bei ihnen im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zukommt (vgl. VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205 bis 0210, mwN; 21.5.2019, Ra 2019/19/0136 bis 0137).
12 Überdies hat der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt klargestellt, dass das Bewusstsein des Fremden über seinen unsicheren Aufenthaltsstatus schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz habe, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Ausweisung (bzw. Rückkehrentscheidung) führen könne (vgl. etwa VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325; 28.2.2019, Ro 2019/01/0003; jeweils mwN).
13 Daran knüpft die ständige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes an, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 4.8.2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253; 17.10.2016, Ro 2016/22/0005).
14 Das BVwG hat im Rahmen seiner Rückkehrentscheidung die lange Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers, der sich über zehn Jahre lang im Bundesgebiet aufgehalten hat, nicht hinreichend berücksichtigt. Das BVwG stellte fest, dass beim Revisionswerber eine ausgeprägte und verfestigte Integration nicht vorliege, was sich beweiswürdigend - eine nähere Begründung bleibt das BVwG schuldig - aus dem Akteninhalt und dem Vorbringen des Revisionswerbers im Rahmen des Parteiengehörs im Verfahren vor dem BFA ergebe. Disloziert (im Rahmen der rechtlichen Beurteilung) nahm das BVwG aber auch an, der Revisionswerber beherrsche die deutsche Sprache gut und habe erfolgreich an Sportturnieren teilgenommen.
15 Davon ausgehend kann aber nicht gesagt werden, der Revisionswerber habe die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genutzt, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Wenn das BVwG in diesem Zusammenhang ausführt, es seien keine Anhaltspunkte für eine "fortgeschrittene Integration" des Revisionswerbers hervorgekommen, verkennt es, dass auf eine solche, ausgeprägte Form der Integration nach der in Rn 13 zitierten Rechtsprechung nicht abzustellen war (vgl. VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325; 7.3.2019, Ra 2018/21/0253). 16 Zwar ist auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte nicht zwingend vom Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. etwa VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0253, mwN). Auf derartige Gegebenheiten hat das BVwG seine Entscheidung aber nicht gestützt.
17 Vor diesem Hintergrund hätte das BVwG auch nicht von der beantragten mündlichen Verhandlung absehen dürfen (vgl. dazu, dass der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen insbesondere auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt, etwa VwGH 30.6.2016, Ra 2016/21/0165, mwN).
18 Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich der Erlassung einer Rückkehrentscheidung und der darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen vorrangig wahrzunehmender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. 19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. 20 Von der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 und 4 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 23. Oktober 2019
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019190405.L00Im RIS seit
09.12.2019Zuletzt aktualisiert am
09.12.2019