TE Vfgh Erkenntnis 1996/10/9 B1156/95, B2796/95, B2797/95

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Veröffentlicht am 09.10.1996
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
AufenthaltsG §6 Abs2
AufenthaltsG §6 Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Abweisung von Anträgen auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung wegen Versäumung der im AufenthaltsG normierten Frist von vier Wochen vor Ablauf der gültigen Bewilligung zur Stellung von Verlängerungsanträgen; Unterlassung der im Sinne einer verfassungskonformen Interpretation trotz imperativer Anordnung im Gesetz gebotenen Interessenabwägung

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch den jeweils angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres bevollmächtigten Vertreters die mit je 18.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der seit 1973 - mit einer Unterbrechung von Oktober 1986 bis April 1990 - in Österreich lebende und arbeitende Beschwerdeführer zu B1156/95, ein kroatischer Staatsangehöriger, brachte am 8. November 1994 einen Antrag auf Verlängerung seiner mit 2. Dezember 1994 befristeten Aufenthaltsbewilligung ein. Dieser Antrag wurde mit dem im Instanzenzug ergangenen, nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesministers für Inneres unter Berufung auf §6 Abs3 AufG, BGBl. 466/1992 idF vor der Novelle BGBl. 351/1995, mit der Begründung abgewiesen, Verlängerungsanträge seien gemäß dieser Bestimmung spätestens vier Wochen vor Ablauf der Geltungsdauer der Bewilligung zu stellen; bei Nichteinhaltung dieser Frist sei die Bewilligungserteilung ausgeschlossen und auf das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers - auch im Zusammenhang mit seinen persönlichen Verhältnissen - nicht weiter einzugehen.

2. Die Beschwerdeführerinnen zu B2796/95 und B2797/95, die Ehefrau des erstgenannten Beschwerdeführers sowie deren gemeinsame 15-jährige Tochter, ebenfalls kroatische Staatsangehörige, beantragten am 6. Oktober 1994 die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen; diese Anträge wurden mit im Instanzenzug ergangenen Bescheiden des Bundesministers für Inneres unter Berufung auf §5 Abs1 AufG - im wesentlichen - mit der Begründung abgewiesen, ihr Lebensunterhalt sei nicht gesichert, da dem Ehemann bzw. Vater die Aufenthaltsbewilligung versagt wurde und er damit in Österreich kein Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit erwirtschaften könne.

II. 1. Gegen diese Bescheide richten sich die auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerden, in denen ua. die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der Bescheide begehrt wird.

2. Der belangte Bundesminister für Inneres hat die Verwaltungsakten vorgelegt und - ohne weitere Darlegungen - die Abweisung der Beschwerden beantragt.

III. Der Verfassungsgerichtshof

hat über die - zulässigen - Beschwerden erwogen:

1. Die angefochtenen Bescheide greifen in das gemäß Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein.

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist ein Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

Wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis vom 10. Oktober 1995, B1722/94 ua., mit näherer Begründung dargelegt hat, ist die Behörde auch bei Anwendung der Bestimmung des §6 Abs3 AufG, die eine Antragstellung spätestens vier Wochen vor Ablauf der Geltungsdauer der Bewilligung vorsieht, in Fällen, in denen durch die Versagung der Bewilligung in das durch Art8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingegriffen wird, verhalten, die Notwendigkeit der Versagung aus den in Art8 Abs2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen zu prüfen und dabei auch auf die familiären und sonstigen privaten Interessen des Bewilligungswerbers Bedacht zu nehmen.

Die belangte Behörde hat im Beschwerdefall B1156/95 - ausgehend von einer verfehlten Rechtsansicht -, diese iS des Art8 EMRK gebotene Interessenabwägung nicht vorgenommen.

Der zur Zahl B1156/95 angefochtene Bescheid war aus diesem Grund aufzuheben.

3. Die zu B2796/95 und B2797/95 bekämpften Bescheide bauen auf dem - soeben aufgehobenen - Bescheid, mit dem dem Ehemann bzw. Vater die Aufenthaltsbewilligung versagt wurde, auf. Damit entbehren aber auch diese Bescheide ihrer gesetzlichen Grundlage und verletzen die Beschwerdeführerinnen in demselben verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht wie der zugrundeliegende Bescheid den Beschwerdeführer zu B1156/95 (vgl. VfGH 12.12.1994 B1839/94 ua.).

IV. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von je 3.000 S enthalten.

V. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben, Interessenabwägung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1996:B1156.1995

Dokumentnummer

JFT_10038991_95B01156_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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