TE OGH 2019/10/15 10ObS104/19w

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Veröffentlicht am 15.10.2019
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Z*****, vertreten durch Dr. Andreas Joklik, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Pflegegeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. Mai 2019, GZ 10 Rs 115/18g-18, womit das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 12. Juli 2018, GZ 16 Cgs 5/18v-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Mit Bescheid vom 5. 12. 2017 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin auf Weitergewährung des (zuvor befristet gewährten) Pflegegeldes über den 30. 9. 2017 hinaus ab.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung des Pflegegeldes im gesetzlichen Ausmaß gerichtete Klagebegehren ab.

Im Vordergrund des Beschwerdebildes der (1963 geborenen) Klägerin stehen eine Wirbelsäulenfehlhaltung, Bandscheibenschädigungen sowie eine Dorsalgie nach Impressionsbruch im elften Brustwirbel und Veränderungen im Lendenwirbelsäulenbereich. Die Klägerin benötigt Unterstützung für die gründliche Körperpflege und beim An- und Auskleiden der unteren Körperhälfte. Die Reinigung der Wohnung und der Gebrauchsgegenstände sowie die Pflege von Leib- und Bettwäsche sind ihr nicht selbstständig möglich, ebenso wenig die Herbeischaffung von Lebensmitteln, von Bedarfsgütern des täglichen Lebens und von Medikamenten. Sie kann Nahrung und Medikamente selbstständig einnehmen; Mobilitätshilfe ist nicht erforderlich. Aufgrund einer neben den orthopädischen Beschwerden gegebenen rezidivierenden Depression mäßigen Grades, einer Somatisierungsstörung sowie einer dissoziativen Symptomatik mit erhöhter Ängstlichkeit sind Motivationsgespräche für 10 Stunden pro Monat für die Beischaffung der Dinge des Alltags und die Zubereitung von Mahlzeiten notwendig. Dieser Zustand besteht seit Antragstellung.

In seine Feststellungen hat das Erstgericht auch dem folgenden Satz aufgenommen: „Die Klägerin ist in der Lage, die tägliche Zubereitung von Mahlzeiten selbständig vorzunehmen.“

Rechtlich nahm das Erstgericht folgenden monatsbezogenen Pflegebedarf der Klägerin ab 1. 7. 2017 an: An- und Auskleiden der unteren Körperhälfte 10 Stunden; gründliche Körperpflege (Baden, Duschen) 4 Stunden; Motivationsgespräche 10 Stunden; Herbeischaffung von Lebensmitteln, Gebrauchsgegenständen und Medikamenten 10 Stunden; Reinigung der Wohnung und von persönlichen Gebrauchsgegenständen 10 Stunden; Pflege der Leib- und Bettwäsche 10 Stunden. Insgesamt gelangte das Erstgericht zu einem Pflegebedarf von 54 Stunden im Monat. Da der aktuelle Pflegebedarf nicht mehr als 65 Stunden pro Monat betrage, seien die Voraussetzungen für die (weitere) Gewährung von Pflegegeld der Stufe 1 nicht mehr gegeben.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Soweit für das Revisionsverfahren wesentlich ging es rechtlich davon aus, dass der geltend gemachte rechtliche Feststellungsmangel in Bezug auf die Fähigkeit zur täglichen Zubereitung von Mahlzeiten nicht vorliege. Aus dem vom Erstgericht eingeholten allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachten ergebe sich, dass die Klägerin in der Lage sei, ca 5 Minuten lang frei zu stehen, weswegen ihr die Zubereitung frischer Mahlzeiten möglich sei, weil Vorbereitungsarbeiten im Sitzen durchgeführt werden könnten. Zudem ergebe sich aus dem allgemeinmedizinischen Gutachten weiters, dass die Klägerin in der Lage sei, einen Topf mit beiden Händen von der Kochstelle zu nehmen. Auch der neurologisch-psychiatrische Sachverständige sei zu dem Schluss gekommen, dass der Klägerin die tägliche Zubereitung der Mahlzeiten selbstständig möglich sei. Nach der Rechtsprechung sei einem Versicherten die Zubereitung von Mahlzeiten selbst dann möglich, wenn er nur mehr maximal 2 bis 3 Minuten vor dem Herd stehend kochen könne und anschließend eine Pause im Sitzen von 5 bis 10 Minuten benötige. Dass selbst die Zubereitung warmer Mahlzeiten nicht ununterbrochenes Arbeiten im Stehen erfordere, sei offenkundig und bedürfe keines weiteren Beweises.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin.

Die Beklagte hat sich – trotz Freistellung der Revisionsbeantwortung – am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und wegen rechtlicher Feststellungsmängel im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

Die Revisionswerberin macht (auch) in ihrer Revision geltend, die vom Erstgericht getroffene Feststellung, der Klägerin sei die Zubereitung von Mahlzeiten zumutbar, stelle eine vorweggenommene rechtliche Beurteilung dar, für die das erforderliche Tatsachensubstrat fehle.

Dazu ist auszuführen:

1.1 Für eine dem allgemeinen Standard angemessene menschengerechte Lebensführung ist nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs einmal täglich die Einnahme einer ordentlich gekochten warmen Mahlzeit erforderlich, deren Zubereitung nicht nur eine ganz kurze Zeit in Anspruch nimmt (RS0058288 [T5]). Kann der Versicherte noch eine aus Fleisch, Beilage und Salat bestehende einfache Mahlzeit unter Verwendung von Frischprodukten – in Teilbereichen auch unter Verwendung von Tiefkühlkost und Fertigprodukten – selbst herstellen, besteht kein pflegegeldrelevanter Pflegebedarf für die Zubereitung von Mahlzeiten (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld4 [2017] Rz 5.177 f).

1.2.1 Die Zubereitung von warmen Mahlzeiten besteht aus einer Summe von Einzelhandlungen. Dass dabei nicht ununterbrochenes Arbeiten im Stehen erforderlich ist, sondern dass diese Arbeiten sowohl im Sitzen als auch abwechselnd im kurzfristigen Stehen erledigt werden können, wurde von der Rechtsprechung als offenkundig angesehen (RS0107433 [T3]). Zumindest Vorbereitungsarbeiten und das Abwarten der Garzeit können in einer sitzenden Körperhaltung erfolgen (RS0107433).

1.2.2 Der für die Zubereitung einer Mahlzeit erforderliche Aufwand muss auch nicht jeweils in einem Zuge und durchgehend erbracht werden. Eine zeitliche Aufteilung zwischen Vorbereitungsarbeiten, eigentlichem Kochvorgang und Nacharbeiten ist zumutbar (10 ObS 304/99z SSV-NF 14/50).

1.2.3 Regelmäßig ist aber zu beachten, dass die Zubereitung einer Hauptmahlzeit mit dem Hantieren von heißen (gefüllten) Kochtöpfen einhergeht. Bei der Zubereitung von Mahlzeiten für eine einzelne Person sind nach der allgemeinen Lebenserfahrung freilich keine großen und daher schweren Töpfe oder Pfannen zu verwenden (RS0058288 [T6]).

1.3 Ob ein Pflegebedarf für die Zubereitung von Mahlzeiten gegeben ist, hat nicht der Sachverständige zu beurteilen. Dieser hat nur die dem Tatsachenbereich zuzuordnenden Einzelheiten aufzuzeigen, welche sodann von der Tatsacheninstanz soweit festzustellen sind, dass daraus alle für den Subsumtionsvorgang notwendigen rechtlichen Schlussfolgerungen gezogen werden können (10 ObS 222/97p SSV-NF 11/86; RS0058288 [T9, T10]). Ergeben sich aus der Aktenlage entsprechende Anhaltspunkte, muss somit festgestellt werden, ob und wie lange beim Zubereiten einer Mahlzeit Stehen (frei oder allenfalls mit Anhalten) und Hantieren mit dem nötigen Kochgeschirr möglich ist und ob und allenfalls wie lange Sitzpausen zur Erholung erforderlich sind. Auf Grundlage dieser Feststellungen hat das Gericht rechtlich zu beurteilen, ob einem Versicherten die Zubereitung von ausgewogenen Mahlzeiten zumutbar ist.

1.4 Nach der bisherigen Rechtsprechung löste die bloße Unfähigkeit, zusammenhängend länger als 10 bis 15 Minuten zu stehen, noch keinen Betreuungsbedarf für die Zubereitung von Mahlzeiten aus. So wurde beispielsweise Versicherten, die durchgehend noch 15 Minuten oder 10 bis 15 Minuten mit anschließender 10-minütiger Sitzpause oder 10 Minuten oder 2 bis 3 Minuten frei und 10 Minuten mit Anhalten stehen können, zugemutet, eine angemessene ausgewogene Mahlzeit zuzubereiten (vgl 10 ObS 2410/96a; 10 ObS 82/97z SSV-NF 11/36; 10 ObS 246/98v, 10 ObS 43/11p SSV-NF 25/46). In der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung 10 ObS 304/99z, SSV-NF 14/50 ging der Oberste Gerichtshof davon aus, dass auch einem Versicherten, der nur mehr maximal 2 bis 3 Minuten vor dem Herd stehend kochen kann und anschließend eine „sitzende Pause“ von 5 bis 10 Minuten benötigt, um sich vom Stehen auszuruhen, noch in zumutbarer Weise die Zubereitung von Mahlzeiten möglich sei (krit Greifeneder/Liebhart, BPGG4 Rz 5.180 Fn 803).

In der Revision wird demgegenüber darauf hingewiesen, dass nach der Gutachterfibel der Österreichischen Akademie für ärztliche und pflegerische Begutachtung (ÖBAK), Stand Mai 2017, Punkt 2.1.3.2.2., die Fähigkeit zur Zubereitung einer ausgewogenen Mahlzeit erst ab einer durchgehenden Stehfähigkeit von zehn Minuten anzunehmen sei.

2. Grundsätzlich ist bei Beantwortung der Frage der Zumutbarkeit der Zubereitung von Mahlzeiten immer auf den Einzelfall abzustellen und auch zu beurteilen, ob die Speisen, die ein Pflegebedürftiger trotz gesundheitsbedingter Einschränkungen zubereiten kann, für seine Versorgung als ausreichend angesehen werden können (RS0058288).

3.1 Im vorliegenden Fall hielt der im erstinstanzlichen Verfahren bestellte Sachverständige aus dem Gebiet der Allgemeinmedizin in seinem Gutachten ua fest, dass die Klägerin in der Lage sei, ca 5 Minuten lang frei zu stehen. Aufgrund ihrer körperlichen Fähigkeiten sei ihr die selbstständige Zubereitung frischer Mahlzeiten möglich, weil – wie der Sachverständige weiters ausführte – Vorbereitungsarbeiten auch im Sitzen durchgeführt werden können. Zudem sei die Klägerin in der Lage, einen Topf mit beiden Händen von der Kochstelle zu nehmen. Auch der nervenärztliche Sachverständige ging in seinem Gutachten davon aus, dass die tägliche Zubereitung der Mahlzeiten selbstständig möglich sei, aber Motivationsgespräche für die Beschaffung der Dinge des Alltags und die Zubereitung der Mahlzeiten indiziert wären.

3.2 Die Frage der Zubereitung von Mahlzeiten wurde im erstinstanzlichen Verfahren im Rahmen der mündlichen Streitverhandlung nicht erörtert. Ob und wie lange die Klägerin in der Lage sei, beim Kochen zu stehen, ob sie Sitzpausen benötigt etc wurde im Ersturteil nicht festgestellt. Das Erstgericht traf im Feststellungsteil seiner Entscheidung lediglich die Aussage, dass für die Zubereitung von Mahlzeiten kein Pflegebedarf bestehe. Diese Aussage stellt aber – wie in der Revision zutreffend geltend gemacht wird – eine vorweggenommene rechtliche Beurteilung dar, für die die erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen fehlen.

Auch das Berufungsgericht konnte sich nicht auf entsprechende Tatsachenfeststellungen stützen, sondern hat auf die im allgemeinmedizinischen Gutachten enthaltenen Ausführungen des Sachverständigen verwiesen, obwohl dessen Aussagen nicht nur in die Feststellungen keinen Eingang gefunden haben, sondern in der Berufung als unschlüssig und widersprüchlich kritisiert wurden. Die (dennoch) erfolgte Annahme, dass die Klägerin beim Kochen 5 Minuten frei stehen kann, wäre im Übrigen für eine abschließende rechtliche Beurteilung nicht ausreichend, weil auch zu berücksichtigen ist, wie lange die an die Stehphase anschließende (offenbar) erforderliche „Sitzpause“ in Anspruch nimmt. Sollte etwa für diese Sitzpause eine sehr lange Zeitspanne erforderlich sein, erscheint es weniger realistisch, die Fähigkeit zur Zubereitung einer ausgewogenen Mahlzeit zu bejahen.

4. Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren ergänzende Feststellungen zu treffen haben, die die rechtliche Schlussfolgerung zulassen, ob die Klägerin in der Lage ist, täglich alle für sie notwendigen Mahlzeiten (Frühstück, Mittagessen, eventuell Jause und Abendessen) samt der damit im Zusammenhang stehenden notwendigen Reinigung des verwendeten Koch- und Essgeschirrs sowie der Kochstelle vorzunehmen. Es wird zwecks Gewinnung einer ausreichenden Sachverhaltsgrundlage nicht nur festzustellen sein, wie lange die Klägerin „frei“ in der Küche stehen kann, sondern (allenfalls) ob sie darüber hinaus länger stehen kann, wenn sie sich anhält, weiters wie lange dauernde „Sitzpausen“ sie benötigt, um sich vom Stehen (oder auch vom Kochvorgang insgesamt) zu erholen und ob sie entsprechende (mit Kochgut gefüllte) Kochtöpfe beidhändig heben kann.

5. Weil es zur Gewinnung der für eine abschließende rechtliche Beurteilung erforderlichen Feststellungen einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E126732

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00104.19W.1015.000

Im RIS seit

04.12.2019

Zuletzt aktualisiert am

21.05.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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