TE Bvwg Erkenntnis 2019/9/2 W103 1314933-3

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Veröffentlicht am 02.09.2019
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Entscheidungsdatum

02.09.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z1
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55

Spruch

W103 1314933-3/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. AUTTRIT als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch XXXX , Rechtsanwalt in XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.05.2019, Zl. 770593506-190253652, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß den §§ 7 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4, 8, 10

Abs. 1 Z 4, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF, §§ 52 Abs. 2 Z 3 und Abs. 9, 55, 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Dem Beschwerdeführer, einem zum damaligen Zeitpunkt minderjährigen Staatsangehörigen der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, wurde mit rechtskräftigem Bescheid des Bundeasylamtes vom 25.04.2008 in Stattgabe eines durch seine Mutter und damalige gesetzliche Vertreterin infolge gemeinsamer illegaler Einreise am 29.06.2007 eingebrachten Asylantrages gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG festgestellt, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

2. Der Beschwerdeführer wurde in der Folge mehrfach straffällig (vgl. dazu die Feststellungen).

3. Infolgedessen leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Aktenvermerk vom 13.03.2019 ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten wegen geänderter Verhältnisse im Herkunftsstaat ein, in welchem am 29.03.2019 eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen des Parteiengehörs stattgefunden hat. Der Beschwerdeführer gab in deutscher Sprache zu Protokoll, es ginge ihm gesundheitlich mit Ausnahme einer Allergie gut. Angesprochen auf seine mehrfache Straffälligkeit gab der Beschwerdeführer an, dass es nicht richtig von ihm gewesen sei. Er habe als Jugendlicher falsche Freunde kennengelernt und habe Anerkennung haben wollen. In Österreich habe er die Volksschule, Hauptschule und ein Polytechnikum besucht. In der Russischen Föderation habe er keine Schule besucht, da er bereits im Alter von drei oder vier Jahren nach Österreich gekommen sei. Der Beschwerdeführer beherrsche Tschetschenisch, Deutsch und ein bisschen Englisch. In Österreich würden sich seine Mutter, seine Schwester, sein Vater, seine Großeltern, zwei Onkeln und eine Tante aufhalten. Seinen Lebensunterhalt habe bislang seine Mutter bestritten. Während seiner Zeit in Haft hätte er als Karosseriemitarbeiter, Schlosser und in der Wäscherei gearbeitet. In Freiheit hätte er einen Monat auf einer Baustelle gearbeitet und AMS-Kurse besucht. In Österreich wolle er künftig mit seiner Freundin in eine Wohnung ziehen, eine Arbeit finden und ein Leben ohne Kriminalität führen. In Österreich fühle er sich zu Hause, in Russland wäre er ein Fremder. Sein Herkunftsland habe er noch nie besucht und er habe dort keine Familienangehörigen. Im Falle einer Rückkehr hätte er Obdachlosigkeit zu befürchten, da er dort niemanden kenne. Es würde ihm Folter vom Präsidenten drohen, da er Verräter seines Heimatlandes sei. Diejenigen, die Tschetschenien verließen, seien Verräter, ihm drohe Folter. In der Russischen Föderation könnte er nicht leben, da er die Sprache nicht beherrsche, kein Geld hätte und niemanden habe, der ihn auch nur ansatzweise unterstützen könnte. Er wolle sich für sein Fehlverhalten entschuldigen und ersuche um eine weitere Chance. Seine Freundin ginge arbeiten, diese mache eine Lehre. Durch sie sei der Beschwerdeführer motiviert, auch eine Ausbildung zu machen. Er wolle sich nichts mehr zu Schulden kommen lassen. Mit seiner Freundin führe er seit zwei Jahren eine Beziehung, er habe diese auch bereits nach islamischem Ritus geheiratet. Der Beschwerdeführer wurde über die beabsichtigte Aberkennung seines Asylstatus in Kenntnis gesetzt; auf die Abgabe einer Stellungnahme zu den seitens der Behörde herangezogenen Länderberichten verzichtete er.

Mit Eingabe vom 08.04.2019 übermittelte der bevollmächtigte Vertreter des Beschwerdeführers psychiatrische Befunde betreffend die Mutter des Beschwerdeführers vom 20.12.2018 sowie vom 30.04.2008 sowie den Beschwerdeführer betreffend vom 28.05.2007 und führte in einer beiliegenden Stellungnahme aus, dass die Mutter des Beschwerdeführers, nachdem dessen Vater von zuhause geflohen wäre, ebenfalls Opfer massiver Misshandlungen geworden wäre, weshalb der Beschwerdeführer und seine Familie ebenfalls hätten fliehen müssen. Aufgrund der traumatischen Ereignisse im Heimatland leide die Mutter an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, welche durch heftige Panikattacken gekennzeichnet sei, sodass sie noch heute regelmäßig ins Krankenhaus müsse. Der Beschwerdeführer und seine Schwester hätten diesen Vorfall mitansehen bzw. vom Nachbarzimmer mitanhören müssen und würden daher laufend betreut. Die Erlebnisse der Flucht seien zutiefst traumatisierend gewesen und es bestehe die akute Gefahr der Wiedererinnerung. Im Übrigen bestünde nach wie vor die Gefahr, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien abermals der Verfolgung durch die Behörden ausgesetzt wäre. Dies aufgrund der Ereignisse in der Vergangenheit, welche dazu geführt hätten, dass der Vater des Beschwerdeführers ebenso wie dieser als regimekritisch eingestuft werde. Bedauerlicherweise herrsche in Tschetschenien nach wie vor Sippenhaftung.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 02.05.2019 wurde dem Beschwerdeführer in Spruchteil I. der ihm mit Bescheid vom 25.04.2008, Zahl: 07 05.935-BAG, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 idgF aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. In Spruchteil II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, weiters wurde ihm in Spruchteil III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG idgF erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und in Spruchpunkt VI., ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Zudem wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt VII.).

Die Entscheidung über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten wurde darauf gestützt, dass die Umstände, aufgrund derer der Beschwerdeführer als Flüchtling anerkannt worden wäre, weggefallen seien. Es könne nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer in der Russischen Föderation Verfolgung drohen würde oder ihm die Existenzgrundlage völlig entzogen wäre. Soweit im Rahmen einer Stellungnahme vorgebacht worden sei, dem Beschwerdeführer würde aufgrund der damaligen Fluchtgründe seines Vaters im Herkunftsstaat Verfolgung drohen, sei festzuhalten, dass die Gründe seines Vaters nicht glaubhaft gewesen wären und zu keiner Asylgewährung in Österreich geführt hätten. Die Behauptung des Beschwerdeführers anlässlich seiner Einvernahme, wonach er aufgrund seiner Ausreise im Jahr 2007 als Verräter betrachtet werden könnte, entspreche weder den Länderberichten noch erscheine eine solche Gefährdung angesichts des Lebensalters des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Ausreise plausibel. Die allgemeine Sicherheitslage in seinem Herkunftsstaat sei nicht so schlecht, als dass eine Rückkehr dorthin generell als unmöglich einzustufen wäre, die Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfs sei gegeben. Im Falle des Beschwerdeführers seien zu keiner Zeit eigene Fluchtgründe vorgebracht worden, diesem sei Asyl aufgrund eines Familienverfahrens gewährt worden. Im Übrigen stünde es ihm grundsätzlich frei, sich außerhalb Tschetscheniens niederzulassen. Diesem sei es zumutbar, sich im Herkunftsstaat selbst zu erhalten. Auch hätte er die Möglichkeit, anfänglich auf finanzielle Unterstützung durch sein familiäres Netz in Österreich zurückzugreifen. Da der Beschwerdeführer von einem österreichischen Strafgericht verurteilt worden sei, komme ihm die Ablaufhemmung nach § 7 Abs. 3 AsylG nicht zugute.

Der Beschwerdeführer verfüge im Bundesgebiet über familiäre Anknüpfungspunkte in Form seiner Geschwister und Lebensgefährtin. Derzeit befinde er sich in Haft. Der Beschwerdeführer habe in Österreich die Hauptschule und das Polytechnikum abgeschlossen. Er hätte weder einen Beruf erlernt, noch eine sonstige Ausbildung absolviert. Der Beschwerdeführer sei in Österreich bislang noch keiner Beschäftigung nachgegangen und sei nicht selbsterhaltungsfähig. Eine besondere Integrationsverfestigung sei nicht gegeben. Dieser leide an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohenden physischen oder psychischen Erkrankungen und sei arbeitsfähig. Der Beschwerdeführer beherrsche Tschetschenisch auf muttersprachlichem Niveau, darüber hinaus spreche er Deutsch und ein wenig Englisch. In Österreich sei er insgesamt sechsmal wegen näher angeführter gerichtlich strafbarer Handlungen verurteilt worden. Eine Gesamtschau begründe eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer künftig eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen werde, sodass die Erlassung eines Einreiseverbotes in der Dauer von drei Jahren angemessen erscheine.

5. Mit am 28.05.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eingelangtem Schriftsatz wurde durch den gewillkürten Vertreter des Beschwerdeführers fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde eingebracht. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dem Beschwerdeführer sei im Rahmen des Familienverfahrens Asyl gewährt worden, dieser halte sich seit 2008 legal in Österreich auf. Nachdem der Vater des Beschwerdeführers aus Tschetschenien weggegangen sei, habe seine Familie enorme Probleme bekommen. Bereits in der ersten Nacht nach Verschleppung des Familienvaters seien fünf bis sechs bewaffnete Soldaten in Tarnanzügen auf der Suche nach dem Vater in das Haus gestürmt. Diese seien brutal über die Mutter des Beschwerdeführers hergefallen. Sowohl der Beschwerdeführer als auch seine Schwester hätten diesen Vorfall von einem anderen Zimmer aus mitbekommen. Der Beschwerdeführer habe es nach der Flucht vorerst alleine bis nach Österreich geschafft. Seine Mutter und Schwester seien zunächst in ein Flüchtlingslager nach Polen gebracht worden. Abseits der Kernfamilie des Beschwerdeführers, wobei seine Eltern geschieden seien, sein Vater jedoch auch in Österreich lebe, würden noch die Großeltern, zwei Onkel und eine Tante in Österreich leben. Der Beschwerdeführer sei in Österreich sozialisiert worden, habe hier einen großen Freundeskreis sowie seine gesamte Kernfamilie. Der Beschwerdeführer sei mit Ausnahme der Zeiten seiner Haft bei seiner Mutter wohnhaft gewesen, welche auch für dessen Lebensunterhalt aufgekommen sei. Seit zwei Jahren habe er eine Freundin, mit der er auch nach islamischem Recht verheiratet sei. Der Beschwerdeführer sei in Österreich aufgewachsen, habe hier die Schule besucht und während der Haft erste berufliche Erfahrungen gesammelt. Im Zuge des Erwachsenwerdens sei er bedauerlicherweise straffällig geworden, weshalb er derzeit eine Haft in einer Justizanstalt verbüße. Die rechtliche Beurteilung im angefochtenen Bescheid bezüglich der Asylaberkennung erweise sich als verfehlt. Es wäre unbillig, dem Beschwerdeführer den rechtskräftig zuerkannten Status des Asylberechtigten wegen Wegfalls der Umstände abzuerkennen, welche für ihn nie (auch im Zeitpunkt der Zuerkennung) bestanden hätten. Es wäre zu berücksichtigen, dass dem Beschwerdeführer Asyl im Wege des Familienverfahrens gewährt worden sei, folglich eine Aberkennung schon unter Berücksichtigung der Unmöglichkeit des Wegfalls von Umständen, welche zu keiner Zeit bestanden hätten, wie auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK rechtlich nicht vertretbar sei. Darüber hinaus sei auszuführen, dass die Bedrohung, aufgrund welcher dem Beschwerdeführer und seiner Familie der Status von Asylberechtigten zuerkannt worden sei, nach wie vor bestehe. Die Behörde vermöge nicht darzulegen, weshalb im Falle des Beschwerdeführers davon auszugehen sei, dass die Umstände - sohin die Gefahr der unbegründeten Verfolgung und Inhaftierung von Seiten Russlands sowie die damit eihergehende Gefahr der Folter und unmenschlichen Behandlung - weggefallen seien. Auf die damaligen Zuerkennungsgründe und die Lage im Herkunftsland werde gar nicht eingegangen. Entsprechend zahlreicher Quellen sei belegt, dass sich die Lage in Tschetschenien und in der Russischen Föderation nicht dauerhaft und nachhaltig gebessert hätte. Nach wie vor seien Aufständische und Kritiker, Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt. Die Regierung von Kadyrow verletze weiterhin Grundrechte, sei in Kollektivbestrafungen von Familien vermeintlicher Rebellen involviert und fördere insgesamt eine Atmosphäre der Angst und Einschüchterung. Dem Beschwerdeführer wäre im Falle einer Rückkehr die Existenzgrundlage entzogen, dieser hätte keinen Zugang zu Sozialleistungen. In diesem Zusammenhang sei auch auf die massive Diskriminierung ethnischer Tschetschenen in der Russischen Föderation hinzuweisen. Der Beschwerdeführer möge zwar volljährig sein, sei jedoch keinesfalls selbsterhaltungsfähig, lebe noch zu Hause im engsten Familienverband und habe den größten Teil seines Lebens in Österreich verbracht. Die Behörde habe es unterlassen, Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers durchzuführen und dessen Familienangehörige einzuvernehmen.

6. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 03.06.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Der damals minderjährige Beschwerdeführer reiste im Juni 2007 gemeinsam mit seiner Mutter und seiner ebenfalls minderjährigen Schwester illegal in das Bundesgebiet ein und stellte durch seine damalige gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf internationalen Schutz, dem mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25.04.2008, Zahl: 07 05.935-BAG, stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 3 AsylG 2005 Asyl in Österreich gewährt wurde. Aufgrund welchen konkreten Sachverhalts die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den damals siebenjährigen Beschwerdeführer erfolgte, lässt sich der Begründung des angeführten Bescheides nicht entnehmen. Die Mutter und gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers hatte die Anträge der Familie im Wesentlichen damit glaubhaft begründet, dass infolge des Verschwindens des Vaters des Beschwerdeführers russische Soldaten in das Haus der Familie in Tschetschenien eingedrungen seien und die Mutter des Beschwerdeführers schwer misshandelt hätten.

1.2. Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des Beschwerdeführers in der Russischen Föderation festgestellt werden.

Ebenfalls nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Tschetschenien respektive in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer spricht Tschetschenisch auf muttersprachlichem Niveau. Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen.

1.3. Der Beschwerdeführer weist die folgenden strafgerichtlichen Verurteilungen (jeweils Jugendstraftaten) auf:

1. Landesgericht XXXX , XXXX , vom XXXX (RK XXXX )

§ 229 (1) StGB, § 142 (1) StGB, § 241e (3) StGB

Freiheitsstrafe 12 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

2. Landesgericht XXXX , XXXX vom XXXX (RK XXXX )

§ 142 (1) StGB, § 27 (1) Z 1 8. Fall SMG § 15 StGB

Freiheitsstrafe 15 Monate, davon Freiheitsstrafe 10 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

3. Landesgericht XXXX , XXXX vom XXXX (RK XXXX )

§§ 142 (1), 143 2. Fall StGB

Freiheitsstrafe 5 Monate (...)

4. Landesgericht XXXX , XXXX vom XXXX (RK XXXX )

§ 15 StGB § 105 (1) StGB, § 83 (2) StGB, § 127 StGB

Freiheitsstrafe 10 Wochen, bedingt, Probezeit 3 Jahre

5. Landesgericht XXXX , XXXX vom XXXX (RK XXXX )

§ 107 (1) StGB, § 50 (1) Z 3 WaffG

Freiheitsstrafe 2 Monate

6. Landesgericht XXXX , XXXX vom XXXX (RK XXXX )

§ 15 StGB § 269 (1) 1. Fall StGB, §§ 83 (1), 84 (2) StGB

Freiheitsstrafe 9 Monate

Ein weiterer Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet würde eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellen.

1.4. Der Beschwerdeführer reiste im Alter von sieben Jahren nach Österreich ein, besuchte hier die Volksschule, Hauptschule und ein Polytechnikum und hat die deutsche Sprache erlernt. Im Bundesgebiet halten sich die Mutter, die Schwester, der Vater, die Großeltern zwei Onkel und eine Tante des Beschwerdeführers auf. Zu seinem Vater steht der Beschwerdeführer nicht in Kontakt, dessen Verfahren auf internationalen Schutz wurde abweisend entschieden. Der Beschwerdeführer befand sich zuletzt im Strafvollzug (errechnetes Strafende: Ende November 2020) und war bislang nie selbsterhaltungsfähig. Während seiner Haftzeiten hat er als Karosseriemitarbeiter, Schlosser und Mitarbeiter der Wäscherei gearbeitet. Der Beschwerdeführer lebte vor seiner Inhaftierung in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter, welche für seinen Lebensunterhalt aufkam. Der Beschwerdeführer hat eine Freundin, welche er seinen Angaben zufolge nach islamischem Ritus geheiratet hat. Er hat mit dieser nie in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Der Beschwerdeführer hat sich in keinen Vereinen betätigt und ist keiner ehrenamtlichen Tätigkeit nachgegangen. In der Russischen Föderation hat der Beschwerdeführer keine Angehörigen mehr.

Eine den Beschwerdeführer betreffende aufenthaltsbeendende Maßnahme würde keinen ungerechtfertigten Eingriff in dessen gemäß Art. 8 EMRK geschützte Rechte auf Privat- und Familienleben darstellen.

1.5. Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:

...

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 19. Bewegungsfreiheit bzw. 19.2. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens).

Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

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ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 4. Rechtsschutz / Justizwesen).

Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

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ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

0. SICHERHEITSLAGE

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-

BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

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EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

0.1. Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat - etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der "Tschetschenisierung" wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

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Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

-

Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

1. SICHERHEITSBEHÖRDEN

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen "fremdländischen" Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch "ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden "unantastbaren Polizeieinheiten" zu tun haben" (EASO 3.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):

Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

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HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 2.8.2018

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US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

2. FOLTER UND UNMENSCHLICHE BEHANDLUNG

Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von

Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. EASO 3.2017).

Auch 2017 gab es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land. Die Art und Weise, wie Gefangene transportiert wurden, kam Folter und anderen Misshandlungen gleich und erfüllte in vielen Fällen den Tatbestand des Verschwindenlassens. Die Verlegung in weit entfernte Gefängniskolonien konnte monatelang dauern. Auf dem Weg dorthin wurden die Gefangenen in überfüllte Bahnwaggons und Lastwagen gesperrt und verbrachten bei Zwischenstopps Wochen in Transitzellen. Weder ihre Rechtsbeistände noch ihre Familien erhielten Informationen über den Verbleib der Gefangenen (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen "Komitee gegen Folter" kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig. Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene "Geständnisse" werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 21.5.2018).

Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 20.4.2018).

Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 1.2018). In der ersten Hälfte des Jahres 2017 wurden die Inhaftierungen und Folterungen von Homosexuellen in Tschetschenien publik (HRW 18.1.2018). Der Umfang der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien ist bis heute unklar. Bis zu 100 Opfer, darunter auch mehrere Tote, werden genannt. Viele der Verfolgten sind aus Tschetschenien geflohen [vgl. hierzu Kapitel19.4 Homosexuelle] (Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl, zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.07.18 von der unabhängigen russischen Zeitung "Novaya Gazeta" veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen fünf bis sieben an der Folter beteiligte Personen festgenommen und 17 Mitarbeiter der Strafkolonie suspendiert worden sein. Das Video hatte in der russischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. Immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen von Misshandlungen und Folter im russischen Strafvollzug (NZZ 23.7.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 3.8.2018

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HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html, Zugriff 3.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegen-russlands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 2.8.2018

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Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären,

https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenien-aufklaeren, Zugriff 3.8.2018

-

US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

3. ALLGEMEINE MENSCHENRECHTSLAGE

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 7.2018a). Die Verfassung der Russischen Föderation vom Dezember 1993 postuliert, dass die Russische Föderation ein "demokratischer, föderativer Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform" ist. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach "sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems." Russland ist an folgende VN-Übereinkommen gebunden:

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Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

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Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

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Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

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Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskrim

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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